Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Erinnerungen an die Belagerung Tsingtaus und an meinen Aufenthalt in der Gefangenschaft in Japan bis zur Heimreise«

von Rudolf Fischer

– Teil 3: Im Lager Bando 1918 bis 1919 und Heimreise
 

Das Tagebuch des Feuerwerksoberleutnants Rudolf Fischer berichtet, wie der Titel angibt, über die Zeit vom Kriegsbeginn im August 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat im Februar 1920.

Der hier vorgestellte dritte und letzte Teil reicht bis von der Verlegung ins Lager Bando bis zur Rückkehr in die Heimat. Wie alle anderen Zeitzeugen berichtet er über dieses Lager nur Gutes. Die Wartezeit bis zur Entlassung war freilich sehr lang, und vielleicht ist das ein Grund, warum er sein negatives Urteil über Japan – siehe Teil II – nicht zurücknahm.

Ausgangspunkt war ein mehr als hundertseitiges, handschriftliches Tagebuch, das von unbekannter Hand (einem Familienmitglied?) transkribiert wurde. Das Ergebnis, ein 48-seitiges Typoskript, wurde von einem Familienmitlied zur Verfügung gestellt – dafür herzlichen Dank!
Der Redakteur hat die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und zugunsten der Übersichtlichkeit zusätzliche Überschriften und Absatzmarken eingefügt. Sachbezogene Anmerkungen stehen in [ ] oder in den Fußnoten.
 

Übersicht:

  1. Im Lager Bando 1918
  2. Im Lager Bando 1919
  3. Entlassung und Heimreise

 

1. Im Lager Bando 1918

Bando, den 8. August 1918
Am Ziele angelangt! Es war eine lange, aber keineswegs beschwerliche Reise. Wenn wir auch nicht so reisten, wie sonst Europäer in Japan reisen, so waren wir doch nicht enttäuscht. Wir verließen Kurume am 5.8. morgens 2 Uhr mit dem fahrplanmäßigen Güterzuge, an den je ein Wagen 2. und 3. Klasse angehängt war. 9:30 Uhr vormittags erreichten wir Moji. Da die Fahrt erst nachmittags 4 h weiterging, mussten wir während der dazwischenliegenden Zeit sicher von der Außenwelt abgeschlossen werden. Zu diesem Zwecke führte man uns auf dem Bahnhofsgelände in eine abseits gelegene Ecke, in der mehrere Bedürfnisanstalten und eine Müllgrube lagen. Dort verweilten wir in glühender Sonnenhitze zwei Stunden. Darauf wurden wir mit einem Hafendampfer nach Schimonoseki übergesetzt. Nach einigem Herumstehen wurde uns kurz nach 12 h mittags das Einsteigen befohlen. Wir wurden dann hin und her rangiert und standen stundenlang auf einem Flecke zwischen Achsen und sonstigen Gütern. Bei dieser Gelegenheit kamen wir auch mit den Insassen des Lagers Oita zusammen. Sie wurden nach Narashino verfrachtet, weil das Lager Oita aufgelöst worden ist.
Am 6.8. abends 6 Uhr kamen wir in Kobe an. Für die 600 km haben wir also 40 Stunden gebraucht. In Kobe mussten wir fünf Stunden auf der Polizei und eine Stuned in der Wartehalle der Dampfergesellschaft warten. Auf dem Dampfer, der uns in 6 Stunden nach Komatsushima brachte, waren wir Offiziere gut untergebracht. Nach zweistündigem Warten in Komatsushima fuhren wir dann mit der Kleinbahn (40 Minuten) bis Tokushima. Dort bestiegen wir ein großes Motorboot, in dem wir einen Kanal hinaufgefahren wurden. Nach einer halben Stunde mussten wir es wieder verlassen, marschierten ungefähr 10 Minuten bis zu dem großen Fluß Toshino, um dort übergesetzt zu werden. Da einige Tage vorher ein Taifun alle Brücken zerstört und sonstige Schäden angerichtet hatte, kam das Motorboot, das uns übersetzen sollte, fest und wir hatten dadurch 1 ½ Stunden Verspätung. Das Eisenbahnzügle auf der anderen Seite wartete aber geduldig, bis wir erschienen. Nach halbstündiger Eisenbahnfahrt marschierten wir noch 40 Minuten und kamen halb 4 Uhr nachmittags, von der Lagerkapelle mit dem Marsch »Preußens Gloria« empfangen, wohlbehalten in unserer neuen Heimat Bando an. Der Empfang hatte mich so aufgeregt, dass ich links und rechts überhaupt niemand sah beim Einmarschieren. Die Kapelle, die Leute vor dem Tore und keine japanischen Soldaten, die uns empfingen, ferner das Händeschütteln der uns empfangenden Kameraden und aller übrigen Bekannten machte uns fast sprachlos; so etwas waren wir von Kurume her nicht gewöhnt. Der Lagerkommandant [Matsue] sagte nur ein paar kurze Worte und wir waren entlassen.

22. August 1918
Ich fühle mich hier sehr wohl, es fehlt mir hier eigentlich nur die Freiheit und ein klein wenig mehr Geld. Die Abwechslung, die freiere Bewegung und die körperliche Arbeit, zu der hier reichlich Gelegenheit ist, haben schon so auf mich gewirkt, dass ich mich bedeutend wohler fühle, als es in Kurume der Fall war. Ich kann wieder gut einschlafen, habe nicht mehr den benommenen Kopf, mit wenigen Worten gesagt: »Ich bin gesund.« Die Japaner lassen uns hier vollkommen zufrieden. Wir können Holz fällen im Walde (es wird im Lager nur Holz verfeuert in den Küchen und in der Bäckerei und dieses können wir freiwillig selbst fällen), zu Garten- und Feldarbeiten ist reichlich Gelegenheit und Sport jeglicher Art kann getrieben werden. An Sportplätzen gibt es acht Tennisplätze, einen Fußballplatz, einen Hockeyplatz und einen Faustballplatz. Diese Plätze liegen außerhalb des Lagers. Im Lager selbst gibt es außerdem noch einige Plätze, auf denen Faust- und Schlagball gespielt werden kann. Jeden Tag wird zweimal zum Baden an den 20 Minuten entfernten Fluß gegangen, ein Polizist begleitet uns nur. Daß wir sechs Offiziere hierher gekommen sind, haben wir in erster Linie dem Lagerkommandanten und in zweiter Linie den Herren,1 die uns zu sich in ihr Zimmer aufgenommen haben, zu verdanken. Wir sind ihnen von Herzen dankbar. Um den Platzverlust auszugleichen, dürfen wir uns kleine Häuschen bauen, zu welchem Zweck das Lager um 700 qm vergrößert worden ist. Es ist auf diese Weise ein kleines Villenviertel entstanden, das den Namen Bando-Nord erhalten hat. Auch die Mannschaft kann tun und lassen, was sie will. Sie können sich zu zweit oder dritt kleine Zimmerchen abteilen in der Baracke, können besonderes elektrisches Licht legen lassen und können ihrem Handwerk in jeder Weise nachgehen. (Siehe Fremdenführer.)2

30. August 1918
Gestern war ich mit noch einigen Herren und mehreren Leuten zum Einkaufen in Tokushima (65.000 Einwohner). Wir gingen in kleinen Gruppen zu 3 bis 5 mit je einem Polizisten. Wir durften in jedes Geschäft gehen und haben auch in einem japanischen Gasthaus zu Mittag gegessen. In Kurume war so etwas nicht möglich. Unser kleines Häuschen ist ein Doppelhäuschen, dass mein Stubenbewohner und ich zusammen bauen. Leider hat der gestrige Taifun, der uns unterwegs überraschte, wieder eine Verzögerung eintreten lassen, indem die Fußbodenbretter wieder naß geworden sind. So hat man nun seinen Kummer.

29. September 1918
Endlich ist unser Häuschen fertig. Es hat lange gedauert, aber es ist auch schön geworden. Jeder hat ein Zimmer von 3,00 x 2,55 m Größe. Jedes Zimmer hat 2 Türen und 2 Fenster. Die Wände sind aus Lehm mit Bambusgeflecht durchsetzt und haben eine Dicke von 8–10 cm. Vor dem Häuschen ist eine gedielte Veranda, die zum Sitzen im Freien hervorragend ist. Mein Zimmer habe ich mir tadellos eingerichtet. Schreibtisch, runder Tisch, Eckbank, zwei Stühle und ein Schränkchen. Die Tapeten und die Gardinen hat Frau Kopp gestiftet, die Schlösser für die Türen habe ich selbst angefertigt. Wir haben überhaupt tüchtig mitgearbeitet, ich war abends immer hundemüde. Die körperliche Arbeit hat mir gewissermaßen über die Missstimmung, hervorgerufen durch die schlechten Nachrichten, hinweggeholfen. Von Tag zu Tag habe ich auf einen Umschwung an der Westfront gewartet, aber es wurde immer schlechter.

7. Oktober 1918
Nun ich weniger zu tun habe, muß ich fortwährend an die Heimat und an die dortigen Vorgänge denken. Je mehr ich aber daran denke, desto weniger Spaß habe ich an meinem Häuschen, ich werde fast krank darüber. Mein Gott, hat das deutsche Volk denn so sehr gesündigt, dass es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hat? Warum muß unser armes Volk unter der Geld- und Ländergier Englands und der Scheinheiligkeit Amerikas so furchtbar leiden?

21. Oktober 1918
Wieder einmal habe ich »Leberecht Hühnchen« gelesen.3 O, könnte ich so glücklich sein, wie dieser Mann es mit seiner Lore war. Welcher deutsche Mann kann aber bei diesen fürchterlichen Vorgängen, die wie ein Ungeheuer an den Grundpfeilern des Deutschen Reiches rütteln, glücklich sein? – Keiner! Mir ist es ganz erbärmlich zumute. Jeder Tag – und nun schon 3 Monate lang – bringt neue schlechte Nachrichten; mir ist es so, als wenn wir vor einer großen welterschütternden Katastrophe stünden. Gott möge geben, dass dieses nicht eintritt.

26. Oktober 1918
Heute habe ich mit noch einigen Herren und mehreren Mannschaften das kleine Städtchen Muja besucht; es waren nur einige Polizisten dabei. Muja liegt an der Nordostecke der Insel am Eingange zu der Inlandsee. In der Stadt gibt es nichts von Bedeutung. Am Strande gibt es große Salzfelder, wie sie überall an den Küsten Japans zu finden sind. Wir gehen nur nach Muja, um einmal weiter vom Lager fortzukommen. Man marschiert erst ¾ Stunde und fährt dann noch 20 km mit der Kleinbahn.

20. November 1918
Nun ist das Fürchterliche doch geschehen. Deutschland ist in den Krallen der Alliierten. Was ist wohl die wahre Ursache dieser fürchterlichen Wirkung? Ist es der Hunger oder der Abfall Bulgariens und der Zusammenbruch Österreichs, oder sind es die revolutionären Bewegungen unseres Volkes, die nach einem Frieden um jeden Preis hinzielen? Deutschland eine Republik! – wie das klingt? Was hat uns nun das jahrelange Schmachten in der Gefangenschaft genützt? Alle Opfer waren umsonst, alles ist zerstört, selbst die Freuden der nun kommenden Heimkehr sind dahin. Man wird uns bei der Ankunft in der Heimat kaum beachten, man wird uns nach Hause schicken mit dem Gedanken: »Mohr, du hast deine Schuldigkeit getan, Du kannst gehen« – nach 24 Jahren treuer Dienstzeit. Die Freiheit der Jugend, die Heimat habe ich geopfert, um im späteren Leben eine bessere Stellung einzunehmen. Alles war vergebens, kurz vor dem Ziel musste alles zusammenbrechen.
Vor einigen Tagen sprach der Lagerkommandant mit unserem Major über die Übergangszeit. Er sprach z.B. über das Wohnen der Offiziere außerhalb des Lagers, über Urlaub in Japan usw. Wie hätte das auf uns gewirkt, wenn wir siegreich und ein einiges Deutsches Reich geblieben wären – so wurde alles stumpfsinnig angehört, und seufzend und kopfschüttelnd ging man auseinander.
Die Grippe hat sich auch in unser Lager eingeschlichen. Über 400 Mann sind schon erkrankt. Gott sei Dank, dass sie nur leicht auftritt und dass nicht alle Lagerbewohner auf einmal erkranken.

1. Dezember 1918
Nachdem im Gefangenenlager Nagoya sieben von unseren Leuten gestorben sind, ist gestern auch bei uns der erste Todesfall eingetreten. Hoffentlich ist es auch der letzte.
Ich schlafe seit gestern auch in meinem Häuschen, es ist einigen während der Krankheit gestattet. Jetzt, wo man es in der Gefangenschaft etwas besser hat, wird die Freude, die man darüber empfindet, durch das Drunter und Drüber zu Hause im Keime erstickt. Wir schütteln nur den Kopf über das heimatliche Elend. Wie war es bloß möglich, dieser plötzliche Zusammenbruch, dieser plötzliche Umschwung im deutschen Volke? Ferner, wie kann man den Deutschen Kaiser, den das deutsche Volk doch so hoch schätzte, nach dem Ausland gehen lassen?4 Er kann doch nur in Deutschland am sichersten sein. Jetzt, wo alles verloren ist, kann man nur noch hoffen, dass wieder – und zwar so bald als möglich – ein geordneter, ungetrennter Staat zu Stande kommt mit einer leistungsfähigen Regierung.

2. Dezember 1918
Die Leiche des an Lungenentzündung gestorbenen Gefreiten Seeger ist heute nachmittag nach der Verbrennungsanstalt überführt worden.

5. Dezember 1918
Leider ist gestern der zweite Todesfall (Seesoldat Kühne) durch Lungenentzündung eingetreten.

6. Dezember 1918
Soeben wurden die irdischen Reste des Seesoldaten Kühne aus dem Lager getragen.
Heute nachmittag verschied infolge Lungenentzündung der Seesoldat Gomille.

11. Dezember 1918
Einäscherung der Leiche des Seesoldaten Gomille.

24. Dezember 1918
Das fünfte Weihnachtsfest in der Gefangenschaft. Es ist wohl das traurigste, das wir hier verleben. Ich denke heute wieder zurück an frühere Weihnachtsfeste, besonders die in der Kindheit verlebten. Sie waren doch herrlich für die Jungen sowohl als auch für die Alten. Wenn sie doch so wiederkommen wollten?? Eine lange lange Zeit ist es doch, die wir hier nutzlos gesessen haben; 4 ½ Jahre werden wohl herauskommen. Trotzdem würde ich noch ein paar Jahre mehr hier verbringen, wenn es zu Hause anders aussehen würde. Aber nach dem großen nationalen Unglück kann selbst das größte Opfer nichts mehr gut machen. Ich glaube jetzt nicht mehr an die Erfüllung irgend eines Wunsches, denn alles ist zerstört. Wohlstand und Beruf sind hin, und Geld für ein geregeltes Leben ist auch nicht mehr vorhanden, und Wunder gibt es nicht. Jedenfalls sind unsere großen Hoffnungen doch zu Schanden geworden. Uns Offizieren ist es ganz erbärmlich zu Mute. Wir müssen hier geduldig zusehen, wie zu Hause alles Drunter und Drüber geht. Nach den Telegrammen zu urteilen, muß es ja in Deutschland schrecklich aussehen. Viele Leute hier im Lager – natürlich nur solche, die nichts zu verlieren und keine Ehre im Leibe haben – machen sich jedoch wenig Kopfzerbrechen. Diese Sorte singt fortgesetzt Reservelieder und steht, seit sie ein paar Yen vom Hilfsfonds erhalten haben, dauernd unter Alkohol. Andere wieder, die früher Sozialdemokraten reinsten Wassers waren, sind über die Vorgänge, die ihre Brüder hinter der Front angezettelt und damit das Vaterland schändlich verraten haben,5 ernstlich aufgebracht und fühlen mit uns.

27. Dezember 1918
Die Grippe gilt jetzt als erloschen; mich hat sie, wie die meisten älteren Männer, verschont. Dafür ist aber ein an Darmtyphus erkrankter Seesoldat ins Lazarett gekommen. Hoffentlich bleibt das nur ein vereinzelter Fall.

30. Dezember 1918
Schon längere Zeit verspüre ich eine Verschleimung der nach dem Rachen führenden Nasenkanäle. Ferner habe ich schon lange ein unangenehmes Halsleiden, das mir das Liegen auf dem Rücken und auf der linken Seite unmöglich macht. Ich habe das Rauchen eingestellt und inhaliere täglich zweimal. Ich hoffe, daß in angemessener Zeit eine Besserung eintritt.
 

2. Im Lager Bando 1919

2. Januar 1919
Nach schwerem Leiden ist heute der Seesoldat Cravatzo im Gamisonslazarett Tokushima an Darmtyphus gestorben.

4. Januar 1919
Einäscherung der Leiche des Seesoldaten Cravatzo.

8. Januar 1919
Auf Antrag unsererseits sind uns von jetzt ab wöchentlich bis zu drei Spaziergänge gestattet worden. Teilnehmerzahl bis zu 150 Mann. Ein Offizier von uns und einige Polizisten begleiten uns. Gestern hat der erste Spaziergang stattgefunden. Er führte uns auf den Affenberg. Es ist der höchste Berg in der nächsten Umgebung Bandos (541 m). Ohne Rast ging es auf schmalem, aber gutem Wege hinauf. (Schweiß hat dabei mancher, darunter auch ich, reichlich fließen lassen müssen.) Der oberste Teil ist dicht bewaldet, so daß die Aussicht fehlte. Deshalb ging es nach fünf Minuten Rast auf der entgegengesetzten Seite durch Gestrüpp und dichtes Unterholz wieder etwas hinab bis zu einem baumlosen Vorsprung, von wo aus wir eine herrliche Aussicht auf die Inlandsee hatten. Die Inlandsee ist das Meer zwischen der großen Insel Hondo und der Insel Schikoku. Dieses Meer wird von allen Reisenden in Japan wegen der vielen Naturschönheiten, die die Küsten und die kleinen Inselchen bieten, gern befahren. Der Rückweg ging erst auf gleicher Höhe eine kurze Strecke durch Wald und dann auf steinigen Pfaden steil bergab. Dabei hatten wir dauernd vor und unter uns die große, bis hinüber nach Tokushima reichende Ebene mit den beiden Flüssen Toshino und Otosegawa, deren Läufe wir bis zur Mündung ins Meer verfolgen konnten.

22. Januar 1919
Wegen aufgetretener Pocken in der Umgebung Bandos sind heute alle Lagerbewohner geimpft worden.

28. Januar 1919
Heute sind uns unsere Zivilsachen, die wir im Frühjahr 1916 abgeben mussten, wieder ausgehändigt worden. Auch unsere Säbel haben wir zwecks Instandsetzung bekommen, müssen sie aber vorläufig wieder abgeben.

17. Februar 1919
Der spanischen Krankheit, die zurzeit die Umgegend bei Tokio heimsucht, sind im Lager [Narashino] in den letzten 14 Tagen 25 brave Kameraden zum Opfer gefallen.

6. März 1919
Heute morgen starb nach kurzer schwerer Krankheit der Marinefeldartillerist Schmiedel. Unser Arzt war, da er selbst krank war, nicht zur Stelle, und der Zivilarzt von Bando hat nichts unternommen. Man sagt: Da der Verstorbene Dyphteritis oder ein Geschwür im Halse hatte – die Todesursache ist nicht genau festgestellt worden –, hätte man ihn durch einen Luftröhrenschnitt vielleicht noch retten können.

13. März 1919
In verflossener Nacht sind die beiden kleinen, hübschen Mandarinenenten des Försters Krampe, über die sich jeder freute, der sie sah, zu Tode gesteinigt worden. Die allzu kleinen Fußspuren beweisen einwandfrei, dass es japanische Posten gewesen sind. Also wieder ein Zeichen der Rohheit, was ich auf Seite 112 [des Original-Manuskripts] schon behaupte.

20. März 1919
Wie es sich herausstellt hat, ist ein japanischen Posten der Mörder der beiden kleinen Mandarinenenten. Man spricht davon, dass er acht Monate wegen Wachvergehen bekommen hat. Große Unzufriedenheit herrscht im Lager wegen der Spende 3, die den Mannschaften zu ungerecht verteilt erscheint (Feldwebel 20 Yen, Unteroffiziere 10 Yen, Mannschaften 5 Yen). Im allgemeinen sind die Leute aber immer noch ruhig. Ob sie es auch noch wären, wenn die Japaner die Unteroffiziere nicht schützen und wenn sie nicht so rücksichtslos bestrafen würden. Takamatsu ist schon einigen schwer in die Knochen gefahren.6

6. Mai 1919
Gestern und heute war ich wieder einmal mit den Brückenbauern im Heim des Oasa-Tempels. Eine Gruppe unserer Leute baut dort freiwillig Wege und Brücken. Sie haben den Vorteil, dass sie täglich im Freien und im Walde sein können. Zurzeit schießt gerade der Bambus aus dem Boden. Es ist sehr interessant, das zu beobachten. Von Tag zu Tag wächst er 50 cm, einige sogar 56 cm, und zwar gleich in der fertigen Stärke (Umfang 40 cm).

22. Mai 1919
Am 21.5. habe ich mir vier kleine Enten angeschafft, die jetzt lustig in dem kleinen Teich vor meinem Hause von früh bis spät plätschern. Es ist fabelhaft, wie viel Kleinvieh zurzeit in unserem Lager lebt. Der Mensch muß immer etwas haben, wofür er sorgen kann. Futter, hauptsächlich Grünzeug, ist ja infolge der Landwirtschaft genügend da. Vor allen Dingen hat man immer etwas zu tun. Keiner von uns denkt an eine allzu schnelle Abreise, da uns ja das In-die-Länge-ziehen der Friedensverhandlungen zur Genüge bekannt ist. Wir ernten sicher unsere Felder noch radikal ab und lassen auch die Enten noch in die Pfanne marschieren.

8. Juli 1919
Trotz Zeichnung des Friedensvertrages geht das Leben hier genau in der alten Bahn wie bisher weiter. Aber auch das trifft mich nicht allzu hart; habe ich 4 ½ Jahre ausgehalten, so halte ich die letzten Monate auch noch aus. Leider kann ich es nicht von allen Lagerbewohnern sagen, denn einige haben geistig stark gelitten. Vor einigen Tagen ist wieder ein Unteroffizier an religiösem Wahnsinn erkrankt. Man muß seine Nerven außerordentlich schonen, wenn man nach dieser Katastrophe nicht zusammenbrechen will. Leider kommt aber eine Sorge nach der anderen. Bisher hatte man noch die Hoffnung, seine Sachen mit nach Hause zu bekommen, jetzt scheint aber durch die angeordnete Beschlagnahme auch noch das letzte Hab und Gut verloren zu gehen. Dann haben wir nur noch das nackte Leben, und das ist, so lange wir in Feindes Händen sind, auch nicht sicher. Ja lieber Vater, durch Deinen allzu frühen Tod ist Dir der fürchterliche Krieg mit seinen schrecklichen Folgen erspart geblieben. Ich glaube, Dir altem Patrioten wäre das Unglück härter angekommen als mir trotz meiner fünf Jahre Abgeschiedenheit von der Welt. Ruhe Du sanft, aber wir werden Rächer erziehen.

20. Juli 1919
Seit heute habe ich die Erlaubnis, in meinem Häuschen zu schlafen. Es herrscht hier oben eine wohltuende Ruhe, die meinen Nerven sehr zustatten kommt. Ich habe zwar mehrmals um die Erlaubnis betteln müssen, selbst der Arzt, den ich meine Kopf- und sonstigen Nervenschmerzen umgehend vorgetragen habe, hielt die von mir gewünschte Ruhe nicht für unbedingt nötig. Ein Arzt hält Ruhe bei erkrankten Nerven nicht für nötig – wie ist so etwas möglich!

22. Juli 1919
Unser Hab und Gut, was sich in Tsingtau befindet, haben wir alles anmelden müssen. Von den im Lager befindlichen Sachen brauchten wir nur Gegenstände aus Gold und edle Steine anzumelden. Das Unterlassen der Meldung oder falsche Anmeldung wird mit drei Monaten Zuchthaus bestraft.

28. Juli 1919
Hol's der Teufel! Das meiste Geld hier im Lager wird für Alkohol verbraucht. Auch in unserem Kreise könnte er etwas eingeschränkt werden. Vor allen Dingen sollte zum Vertilgen nicht die Mannschaft herangezogen werden. Solange wir noch Offiziere sind, können wir eben nicht tun und lassen, was wir wollen. Wenn das beherzigt worden wäre, hätte die Auseinandersetzung am 26.7. zwischen Kapitänleutnant Dümmler und einem Mann seiner Kompanie, bei der es sehr unerkleckliche Sachen zu hören gab, vermieden werden können. Der Alkohol ist doch ein gefährlicher Gegner der Menschheit.

8. August 1919
Seebad Kushigi. Wie komisch das klingt, wenn Kriegsgefangene davon reden. Und doch ist es so, wenn auch in etwas anderer Form. Wöchentlich zweimal reisen wir auf Schusters Rappen nach unserem Seebad. Morgens 7 Uhr wird mit zwei Polizisten abmarschiert. Derbes Schuhzeug, weiße kurze Höschen, dünnes Hemdchen und Strohhut – die einzig wahre Bekleidung bei einer Temperatur von 50°C und mehr in der Sonne. Der Marsch dauert 2 ½ Stunden. Erst 40 Minuten auf der Landstraße bis zum Ikenotanital, dann durch dieses mit seinem frischen, schattenspendenden Grün und seinen mit Kiefern bestandenen Bergwänden wohl 5/4 Stunden lang ganz sanft ansteigend bis zum Paß. Jenseits des Passes führt uns der Weg in 30 Minuten teils an Bergwänden entlang, teils an tiefgrünen Reisfeldern vorüber an die See. Unterwegs begrüßt uns die Dorfjugend nicht nur mit »ohayo« oder »konnichiwa«, sondern auch schon mit »Guten Morgen« oder »Guten Tag«. An der See gibt es natürlich kein Kurhotel, sondern wir lagern zwischen alten Kiefern und den Fischerhütten, kochen unseren Kaffee selbst ab und baden reichlich in der schönen frischen See. Der Aufenthalt von 6 Stunden kräftigt uns vollkommen für den Rückmarsch über eine 200 m hohe Bergwand durch das Mühlental. Am Ende des Tales wird gewöhnlich noch einmal im Mühlentalbach gebadet. Während des Ausfluges vergißt man die rauhe Wirklichkeit, man fühlt sich Mensch, man ist dort frei. Außerdem stärkt der Ausflug die Muskeln, fördert die Verdauung, beruhigt durch die Ablenkung die erregten Nerven, und [man] schläft die folgende Nacht wie ein Murmeltier.

13. August 1919
Heute war Schwimmfest in Kushigi. Es war der 25. Tagesspaziergang in diesem Jahre. Über 600 Mann aus dem Lager hatten sich an diesen Ausflug beteiligt. Der Tag war ein sehr vergnügter. Die Blasorchester von Hansen und Schulz trugen sowohl auf dem Marsche als auch am Ziel viel zur Erheiterung bei, und Küche und Keller von Obermaat Humpich hatten für Erfrischungen verschiedener Art gesorgt. Nach der Rückkehr wurde im Offizierskasino dem Hauptmann Buttersack – dem Schöpfer der regelmäßigen Spaziergänge – sowie seinen »Pfadfindern« gedankt für ihre Mühe und ihr Sichdurchsetzen bei den Japanern, wobei ein recht nettes Gedicht ihre Taten besonders verherrlichte.

22. August 1919
Gestern war ich wieder in Kushigi. Ich wundere mich über mich selbst, wie spielend leicht ich die 28 km bewältige.

26. August 1919
Heute sind sieben Schleswiger zwecks Abstimmung in die Heimat entlassen worden. Bisher hatten uns nur solche Lagerbewohner verlassen, die bereit waren, ihr Deutschtum gegen eine fremde Nationalität zu vertauschen. Diesmal schieden deutsche Landsleute, deshalb war auch der Abschied ein äußerst herzlicher. Mit Musik wurden sie zur Bahn gebracht und hunderte von Kameraden hatten es sich nicht nehmen lassen, den Glücklichen das letzte Lebewohl auf dem Bahnhofe zuzurufen. Wenn wir Zurückbleibenden diesen Kameraden ihr Glück auch von ganzem Herzen gönnen, so hat dieser Abschied uns doch die ganze Schwere und Bitterkeit unseres gegenwärtigen Zustandes fühlen lassen.

5. September 1919
Längere Zeit haben wir hier eine starke Trockenheit. Das Wasch- und Badewasser muß aus den im Lager befindlichen Stauweihern genommen werden. Es ist warm, schmutzig und übelriechend. Der Japaner will aber vor 11.9. gar keinen Regen, da der Reis zurzeit in Blüte steht und während dieser Zeit gegen Regen sehr empfindlich ist.

14. September 1919
Die anhaltende Trockenheit hat endlich dem gewünschten Regen weichen müssen. Die Temperatur sank plötzlich von 32°C auf 20,5°C (in meinem Zimmer), was für diese Jahreszeit eine Abnormität bedeutet. Erst wollte der Regen gar nicht so recht in Gang kommen, aber gestern hatten sich alle Schleusen des Himmels geöffnet und ließen 168 mm Wasser zur Erde hernieder. Der Wassermangel hat nun ein Ende. Die Stauweiher in der Umgegend, die zum Teil schon ganz leer waren, sind nun wieder gefüllt. Die Hauptsache ist aber, dass wir nun wieder frisches Wasser zum Waschen und Baden haben und dass die Gefahr von Typhuserkrankungen vorüber ist.
Die Heimreise steht nahe bevor (was wir so nahe bevor nennen – 4 bis 6 Wochen). Jeder denkt mehr als sonst an die liebe Heimat, aber auch dabei an die Lebensmittelknappheit und daran, wie er die Not der Lieben daheim lindem kann. Ich habe schon Butter, Speck, Reis, Kaffee, Tee, Kakao, Schokolade, Honig, Sardinen und Bouillonwürfel eingekauft, auch Seife, Zwirn, Gewürz und sonstige Kleinigkeiten. Hoffentlich gelingt es mir, diese Sachen ohne Schwierigkeiten an den Bestimmungsort zu bringen.

13. Oktober 1919
»Aus Gründen der Menschlichkeit sollen die Gefangenen noch vor der Ratifizierung entlassen werden«, hieß es vor drei Wochen. Heute sind wir der Sache um keinen Schritt näher gekommen, obgleich Japan am 15.10. ratifizieren will. Die Welt ist wieder einmal gerührt durch die Ankündigung einer so weitgehenden Humanität. Daß die Gefangenen durch solche leeren Versprechungen noch mehr leiden, weiß natürlich keiner und begreift auch keiner. Es kann ja auch gar niemand begreifen, denn er fühlt es ja nicht. Himmelhoch jauchzten wir, weil uns das höchste Gut auf Erden, das wir neben der Gesundheit besitzen – Freiheit –, wiedergeschenkt werden soll. Die Freude kannte keine Grenzen. Wir sahen uns schon im Kreise unserer Lieben, wir packten schon den Rest unserer Habe ein und erstanden noch für unser letztes Geld einige Geschenke – denn man muß doch etwas mitbringen, wenn man nach sieben Jahren nach Hause kommt. – Da plötzlich verwandelt sich das Versprechen wieder in monatelanges Warten. Man hört nichts mehr davon, man ärgert sich darüber, man verzehrt sich in Sehnsucht einerseits, in Wut und Haß andererseits. Hat man das dann mehrere Jahre geübt, sind die Nerven bis zum Springen gespannt, man ist hochgradig nervös. Dies erreicht man mit Sicherheit in fünf Jahren, vielen mit weniger starken Nerven gelingt es schon viel früher, zum Ziele zu gelangen. Bei einigen zerspringt auch ein Nervenstrang oder ein ganzes Bündel – die sind natürlich ganz verloren. Das ist der Krieg und seine Folgen.

18. Oktober 1919
Durch Telegramm von zu Hause hat der Schweizer Gesandte die Ermächtigung zur Abnahme der Kriegsgefangenen erhalten. Es sind sofort Verhandlungen mit dem japanischen Auswärtigen Amt eingeleitet worden, wie lange die aber dauern bei der japanischen Langweiligkeit, wissen wir schon. So werden wir wohl noch ein sechstes Weihnachten in der Gefangenschaft verleben.

12. November 1919
Die in der vorigen Woche in Aussicht gestellte Erleichterung (freier Ausgang usw.) ist telegraphisch rückgängig gemacht worden. In Kurume hatte man den ersten Versuch gemacht, wobei es zu Ausschreitungen gekommen sein soll. Nun bleiben wir weiter unter gutem Schutz bis zur Abfahrt. Als erstes Lager sollen Narashino und die Kranken abfahren, und zwar soll der erste Dampfer am 20. Dezember seeklar sein. Ob's wahr wird, bleibt abzuwarten.

29. November 1919
Gestern gab es einen schönen Spaziergang. Ziel: Sakamoto an der Inlandsee. Auf der Landstraße ging es erst nach Tempel IV – ein berühmter Wallfahrtstempel –, dann stiegen wir über einen 200 m hohen Bergrücken zum herrlichen wildromantischen Kavamotatal. Dieses Tal ist eines der schönsten der Gegend. Zurzeit unseres Besuches prangte es gerade im herrlichsten Herbstschmuck. Der Maler Natur hatte unseren Augen das Beste aufgetischt. Mit den Farben grün, gelb, rot und braun in allen Tönen war er schier verschwenderisch umgegangen. Ankunft an der See 12:20 Uhr, dort Ruhe bis 1 Uhr und dann zurück über die alte Osakapassstrasse. Bei der Ankunft im Lager hatten wir 35 km Marsch hinter uns.

17. Dezember 1919
Unsere Abreise ist nun endlich festgesetzt. Am 24.12. verlassen wir das Lager und am 26.12. geht der Dampfer Hofuku Maru in See. Das Gepäck ist gestern und heute abgegeben, man kann jetzt wohl an die Abreise glauben.
 

3. Entlassung und Heimreise

Kobe, den 26. Dezember 1919
In diesem Jahr hat das Christkind uns besonders reich bedacht. Am 24. Abschied im Lager, am 25. 12:50 Uhr mittags Abmarsch mit Musik nach dem Bahnhof Tokushima. Von Tokushima fuhren wir in 25 Minuten nach Komatsushima und von dort mit dem Dampfer in 5 Stunden nach Kobe. 0:10 Uhr morgens ankerten wir dort auf Reede und gingen morgens 7 Uhr an die Mole, wo wir ausgeschifft wurden. Und am 26. Übergabe der Gefangenen an das Deutsche Reich. Ein wahrhaft königliches Geschenk. Wer nicht fünf Jahre und darüber in Kriegsgefangenschaft gesessen hat, kann gar nicht begreifen, wie glücklich wir uns jetzt fühlen.

29. Dezember 1919
Seitdem wir frei sind, lassen uns die Japaner vollkommen freie Hand. Wir haben uns Kobe gründlich ansehen können. Eine nette Familie habe ich auch kennen gelernt, Herr und Frau Ramseger, die schon während der Gefangenschaft sehr viel für die Gefangenen getan haben. Schöne Stunden habe ich dort verlebt. Am 27.XII. Besichtigung des Nunobiki-Wasserfalles. Mittagessen im Zentral Hotel (schlechtes Essen und schmutzig), Tee bei Ramsegers, abends im Restaurant des Minadekawa. Regenwetter. Am 28.XII. nachmittags bei Ramsegers zum Tee, abends im Taijoken zum Abendessen – Ramsegers als unsere Gäste. Am 29.XII. japanisch gebadet, dann einen Bummel durch Kobe, besonders durch die Molo Wuchhi Dori, dann noch einmal japanisch gegessen und schließlich an Bord. Unser Schiff liegt zurzeit auf Reede, das Wetter ist schlecht, die Ladung kann deswegen nicht übergenommen werden. Das Schiff kann infolgedessen noch nicht in See gehen. An Bord ist es kalt, schmutzig und unfreundlich; wir alle sind froh, wenn wir Japan endlich verlassen können.
Heute nachmittag 2:45 Uhr haben wir endlich Japan verlassen. Die Leute haben einen Heimatswimpel und zugleich auch eine kleine deutsche Kriegsflagge gehisst. Das Schiff führt am Heck die japanische Flagge und im Vortopp die deutsche Handelsflagge. Natürlich ist es schon die neue Handelsflagge, die wir am liebsten herunterreißen möchten. Wie konnte es deutsche Männer geben, die unsere schöne schwarz-weiß-rote Flagge durch so einen bunten Fetzen ersetzen konnten. Es ist jetzt eine sogenannte Raubstaatenflagge. Der Obermaschinistenmaat Hildebrand, der leider noch 14 Tage vor der Freilassung geisteskrank geworden ist, musste heute kurz vor der Abfahrt wieder ausgeschifft werden, da sein Zustand von Tag zu Tag schlimmer wird. Temperatur im Zimmer 14°C.

31. Dezember 1919
12 Uhr mittags die Südspitze von Shikoku passiert. 174 Meilen zurückgelegt. Temperatur 17°C.

1. Januar 1920
12 Uhr mittags bei der Südspitze von Kinshin. 213 Meilen. Ich fühle mich krank, werde mich gleich zu Bett legen.

3. Januar 1920
Vom 1. zum 2. 226 Meilen, vom 2. zum 3. 210 Meilen zurückgelegt. Meine Krankheit ist wahrscheinlich eine Influenza. Sie äußert sich in Müdigkeit, Kopfschmerzen, Husten, Schnupfen und starken, in kurzen Intervallen auftretenden Nervenschmerzen in den Beinen. Fiebertemperatur am 1.1. 39°, gestern und heute 38°.

6. Januar 1920
Seit gestern fühle ich mich wieder wohl. Nur noch ein wenig Husten ist vorhanden. Es liegen noch viele vom Transport an dieser Krankheit zu Bett. Die letzten Tage in Kobe waren sehr nasskalt und stürmisch, und die Luken standen offen. Das war selbst Kriegsgefangenen zu viel, und die können doch viel vertragen. Bis heute mittag 12 Uhr hatten wir 1515 Meilen zurückgelegt. Es beginnt schon warm zu werden, schon 24°C im Raum.

8. Januar 1920
Wir kommen immer mehr zu der Überzeugung, dass wir die Grippe mit in See genommen haben. Es liegen sehr viel krank darnieder, einige sehr schwer. Das Wetter ist auch das ungeeignetste für Kranke. Immer bedeckter Himmel, feuchte und schwüle Luft. Anstatt in Sabang an Land gehen zu können, werden wir wohl unter Quarantäne liegen müssen. Dies wär der größte Streich, den uns die Krankheit spielen würde. Das Schiff ist furchtbar schmutzig, für Truppentransporte gar nicht geeignet. Es ist kaum so viel Platz vorhanden, um sich die allernotwendigste Bewegung zu machen. Wir hoffen immer noch, dass bis zum 14.1., wo wir in Sabang ankommen sollen, die Krankheit erloschen ist.

11. Januar 1920
Soeben 2:50 nachmittags ist der Vizefeldwebel der Reserve Rasenack gestorben. Er ist das erste und hoffentlich auch das letzte Opfer der hier an Bord herrschenden Krankheit. Noch 70 Mann hat die Krankheit erfasst, aber sie sind alle auf dem Wege der Besserung.
8 Uhr abends: Die irdischen Reste unseres Kameraden Rasenack haben wir soeben nach voraufgegangener Andacht der See übergeben.

12. Januar 1920
Vergangene Nacht Singapore passiert und in die Straße von Malakka eingelaufen. Die Reise war bisher ziemlich kühl. Trotz der Nähe des Äquators sind in der Kammer nur 29°C. Dafür ist die Luft umso schlechter.

16. Januar 1920
Am 14.1. ab 5 Uhr in den Hafen von Sabang eingelaufen. Sabang liegt auf der Insel Pulo Weh, die der Nordwestspitze von Sumatra vorgelagert ist; es ist holländischer Besitz. Sabang ist eine kleine, aber saubere Station. Landgang war erlaubt und wurde reichlich ausgenutzt; es konnte ja wegen des Kohlenstaubes auch kein Mensch an Bord sein. Zigarren sind in ungeahnten Mengen eingekauft worden, es war alles rein ausverkauft. Auch in den Kneipen war kaum noch ein Essen zu bekommen. Einmal habe ich im Sabang-Hotel gegessen. Es war schlecht und teuer, wie es bei solchen Gelegenheiten immer zu sein pflegt. Sonst schöne Spaziergänge gemacht. Am Platze sind Kokos-, Pfeffer- und Gummiplantagen. Zehn Lungenkranke, die unsere Krankheit am schwersten erfasst hatte, sind ausgeschifft worden. Ferner noch vier Leute, die in Niederländisch-Indien eine Anstellung erhalten haben. Dafür haben sich vier Deserteure vom holländischen Militär an Bord geschmuggelt. Heute morgen 8 Uhr sind wir wieder in See gegangen. Weitere Angaben über die Reise siehe in »Die Heimfahrt«.

3. Februar 1920
Seit wir uns im Roten Meer befinden, ist es so kühl, wie ich es hier noch nie erlebt habe. In der Kammer sind nur 23,5°C, und an Deck kann man dunkles Zeug gut vertragen. Es weht auch immerzu Nordwind. Wie mag es erst werden, wenn wir 30° nördlicher sind?

4. Februar 1920
Es ist noch viel kälter geworden. Im Schiff 18°C, an Deck kaum 15°C – und das im Roten Meer.

7. Februar 1920
Am 4.2. abends 6 Uhr 45 vor Suez Anker geworfen. Am 5.2. mittags 12 Uhr in den Kanal eingelaufen. Viele Militärlager – alle aus Zelten – wurden sichtbar, und an der Ostseite konnte man noch die verlassenen Schützengräben vom Kriege sehen. Weiter nördlicher gab es solche auf beiden Seiten. In aller Frühe des 6.2. im Hafen von Port Said geankert. Dort lagen mehrere Schiffe, die einst die deutsche Flagge stolz am Heck führten, jetzt aber in den Händen unsere Feinde sind. Auch ein durch Artillerie schwer beschädigter Dampfer lag abseits verlassen, er träumt jetzt von den besseren Zeiten, als er noch die schönen, sonnigen Levante-Meere durchfurchte. O welche Schmach ist es doch, wenn man aus der Gefangenschaft in die Freiheit kommt und solche und ähnliche Sachen als ersten Gruß bekommt. In Port Said haben wir für die letzten 16 Tage ausgerüstet und sind am selben Tage abends 6 Uhr wieder in See gegangen. Der nächste Hafen ist der Heimathafen. Wie habe ich früher gefühlt beim Nahen der Heimat? Himmlisch habe ich gejauchzt, wie es ja auch nicht anders sein konnte. Ich hatte noch Eltern, eine Stellung und ein großes starkes Vaterland. Jetzt geht es ins Ungewisse, in ein armes, zermürbtes, in den Krallen der Blutsauger befindliches Vaterland. Hätte ich Helene nicht, meinen besten Kameraden, wär ich heimatlos und noch unglücklicher, als ich es jetzt bin.

23. Februar 1920
Heute bin ich funkentelegraphisch zum Kapitänleutnant befördert worden.

28. Februar 1920
Endlich wieder in der Heimat! Lange hat das Schicksal mit uns gehadert. Selbst den Nordseenebel mussten wir kurz vor dem Hafen noch kennen lernen. Keine reine Freude, vor der Tür der Heimat wegen Nebel noch ankern zu müssen. Schließlich kam doch der große Moment. Am 25.2. nachmittags 2:30 Uhr verflog der Nebel, und die Schleusentore von Wilhelmshaven öffneten sich. Herzlich war der Empfang, groß die Rührung auf beiden Seiten. Aufopfernd tätig war die ganze Bevölkerung von Wilhelmshaven. Sie hat durch ihr tatkräftiges, in jeder Hinsicht hilfsbereites Auftreten einen großen Teil Sorge von uns genommen. Von Herzen kamen die Worte, die an uns gerichtet wurden, so dass kein Auge tränenleer blieb. Am schönsten war für mich aber der Empfang, den mir mein bester Kamerad – meine Braut – in Kiel bereitet hat. Nach siebenjähriger Trennung sind wir nun endlich wieder vereint und werden hoffentlich auch bald in den Hafen der Ehe einlaufen. Hiermit schließe ich das Buch in der Hoffnung, bald wieder ein neues, starkes Vaterland entstehen zu sehen.
 

Anmerkungen

1.  Mit »Herren« sind hier und im Folgenden stets die Offiziere gemeint.

2.  Ein Beitrag über den »Fremdenführer« ist in Vorbereitung,

3.  Die Popularität dieses Romans von Heinrich Seidel mag auch von seinem Untertitel »Die Kunst, glücklich sein sein» herrühren.

4.  Wie der Autor nicht wissen konnte, hängt der Gang ins niederländische Exil insbesondere damit zusammen, der der Kaiser auf der »Auslieferungsliste« der Sieger stand.

5.  Diese sogenannte »Dolchstoßlegende« wurde von den meisten Offizieren geglaubt und wirkt bis heute fort.

6.  In Takamatsu befand sich das Zuchthaus, in dem Gefangene ihre Freiheitsstrafen zu verbüßen hatten.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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