Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

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Marinesoldat in Tsingtau, Kriegsgefangener in Japan

von Erich Kaul
 
Teil 1: Bei der Marine bis zur Gefangennahme (1914)

Vorbemerkungen des Redakteurs
1. Bald nachdem 2001 das Buch über Andreas Mailänder fertiggestellt war, kam ich über Prof. Matzat in Kontakt mit Hans Zabel, der die zeitraubende Arbeit auf sich genommen hatte, das handschriftliche Tagebuch von Erich Kaul zu transkribieren und – ebenfalls 2001 – als Privatdruck zu veröffentlichen.
Vor einigen Jahren, nach dem Tode von Hans Zabel, erhielt ich die Nachricht, eine japanische Forschergruppe unter Leitung von Prof. Sohmiya wäre dabei, das Tagebuch ins Japanische zu übersetzen. Daraufhin habe ich mich an die deutsche Rechte-Inhaberin wegen eines Abdrucks in Deutsch gewandt, und Frau Sigrid Zabel hat dem sofort zugestimmt – dafür herzlichen Dank!
2. »Statt eines Vorwortes« schrieb Hans Zabel seinerzeit: »Vom Kampf um Tsingtau am Anfang des Krieges und von langer Kriegsgefangenschaft ... handelt der hier wiedergegebene Bericht. Er ist – von einer autobiographischen Einleitung abgesehen – als Tagebuch notiert und läßt manches vom Patriotismus junger Deutscher in jener Zeit ebenso erkennen wie von einer während langer Gefangenschaft gereiften Persönlichkeit des Verfassers.« Diese Wertschätzung kann bestätigt werden, wobei zu erwähnen ist, dass Erich Kaul umfassende Kenntnisse nachgewiesen und eine Fülle von Details notiert hat. Er leistet damit einen guten Beitrag zum Gesamtbild der damaligen Ereignisse.

Wiedergegeben wird – in drei Teilen – der Text des Privatdrucks von Hans Zabel (2001). Der Redakteur hat Rechtschreibung und Gliederung maßvoll angepasst, Überschriften eingefügt, Abkürzungen aufgelöst, Schreibfehler (in Original oder Abschrift) korrigiert und Anmerkungen in [...] oder als Fußnote hinzugesetzt.
 

Inhalt des Teils 1

1. Kindheit, Jugend, Beruf
2. Zur Marine
3. Ausreise nach Tsingtau
4. Dienst in China
5. Im Krieg

Teil 2: Von Tsingtau zum Lager Tokyo-Asakusa
Teil 3: Vom Lager Narashino bis zur Heimreise
 

1. Kindheit, Jugend, Beruf

Am 3. März 1891 wurde ich zu Fürstenwalde bei Berlin geboren. Meine Eltern, beide aus der Landwirtschaft stammend, erzogen mich zu einem rechtschaffenen Menschen. Außer einer Schwester habe ich keine Geschwister. Von meinem sechsten Lebensjahr an besuchte ich die Knabenvolksschule zu Fürstenwalde, von 1897 bis 1905. Durch Aufmerksamkeit und Fleiß erreichte ich schon mit dem 12. Jahr die 1b-Klasse, in der ich zwei Jahre verblieb. Mit dem 14. Jahre kam ich in die 1a-Klasse des Herrn Rektors Kühne. Zu Ostern 1905 wurde ich in der Marienkirche meiner Heimatstadt konfirmiert.

Noch während meiner Schulzeit, im Jahre 1904, mussten meine Eltern ihr Geschäft, dass sie seit sechs Jahren betrieben, wegen schlechten Geschäftsgangs, hervorgerufen durch zu große Konkurrenz, aufgeben. Durch die zu der Zeit eingerichtete Kanalisation der Stadt erhielt mein Vater eine gute Anstellung als Maschinist in der Pumpstation.

Ich trat nun in die Lehre bei der Maschinenfabrik von Friedrich Duensing zu Fürstenwalde. Da ich schon als Knabe große Lust zum Schlosserhandwerk hatte, war ich mit Eifer bei der Sache und erledigte alle Arbeiten immer zur Zufriedenheit des Meisters. Durch Fleiß und Aufmerksamkeit erwarb ich mir in der Dreherei, speziell im Maschinenbau, gute Kenntnisse. Auch in den Schiffbau erhielt ich einen Einblick, da eine mittelgroße Flusswerft zur Fabrik gehörte. Nach zweieinhalb Jahren Lehrzeit starb plötzlich nach kurzer Krankheit der Chef und Besitzer der Fabrik. Das Geschäft wurde weitergeführt, musste aber nach weiteren eineinhalb Jahren wegen zu schlechten Geschäftsgangs die Tore schließen. Aus diesem Grunde erhielt ich schon ein Vierteljahr vor Beendigung der Lehrzeit meine Gesellenzeugnisse. Während der Lehrzeit absolvierte ich einen Kursus der Kurzschrift Stolze-Schrey.

Im Frühjahr 1908 trat ich in den Deutschen Radfahrer-Bund als Einzelfahrer ein. Als reger Sportsfreund errang ich während der zweijährigen Mitgliedschaft eine Medaille für eine Jahresleistung von 2468 Kilometer und eine zweite für eine sechsstündige Kontrollfahrt von 145 Kilometer, die ich in fünf Stunden 34 Minuten zurücklegte.

Auch in Anbetracht meiner Gesellenzeugnisse konnte ich trotz aller Bemühungen in Fürstenwalde keine Arbeit finden. Ich entschloss mich daher, mein Glück in der Fremde zu suchen. Am 10. Mai 1909 verließ ich Fürstenwalde mit der Absicht, nach Hamburg zu reisen und mir dort Arbeit zu suchen oder eventuell zur See zu fahren. Unterwegs in Berlin jedoch erhielt ich nach vier Wochen Suche eine Beschäftigung. Ich blieb in Berlin und gab meinen Plan, nach Hamburg zu fahren, auf. Ich trat eine Stellung als Heizer bei der Spree-Havel-Dampfschiffahrts-Gesellschaft Stern in Tegelort bei Berlin an. Das Leben gefiel mir hier ganz gut; da ich aber bestrebt war, mich in meinem Fach weiterzubilden, kündigte ich zum 1. August 1909 und fuhr für 14 Tage nach Fürstenwalde.

Durch Vermittlung eines Verwandten trat ich in die Firma Hugo Hartung in Tempelhof bei Berlin ein, eine Spezialfabrik für Großdampf-Wäschereimaschinen. Hier hatte ich einen Stundenlohn von 45 Pfennig, nach guter Einarbeitung 50 Pfennig. Infolge schlechter Konjunktur mussten aber bald viele Leute entlassen werden. Auch ich musste aufhören, fand aber durch Vermittlung meines Meisters sofort wieder Arbeit in der Mühlenbauanstalt von Ernst Garbe in Tempelhof. Hier erhielt ich zunächst den alten Lohnsatz von 50 Pfennig und bald darauf fünf Pfennig Zulage. Das gemütliche Arbeiten, das ich hier hatte, nahm aber bald wieder ein Ende, weil ich für den niedrigen Lohn nicht mehr weitermachen wollte. Durch Fürsprache eines Kollegen bekam ich Arbeit bei der Firma Paul Tomaschefsky in Berlin, Kottbusser Ufer 40. Mit 55 Pfennig pro Stunde anfangend, stieg hier mein Lohn während der zweijährigen Tätigkeit auf 62 1/2 Pfennig. In dieser Stellung wurde mir reichlich Gelegenheit gegeben, Berlin richtig kennenzulernen, weil ich meistens mit Montage beschäftigt war. Maschinen für Großdampf-Wäschereien waren die Haupterzeugnisse dieser Firma. Arbeitsmangel war aber auch hier der Grund meiner Entlassung.

Nach schriftlicher Bewerbung fand ich bei der Neuen Automobil Gesellschaft NAG in Oberschöneweide bei Berlin eine neue Anstellung. Hier bei der NAG lernte ich den Automobilbau und den Flugmotorenbau gründlich kennen; überhaupt hatte ich für dieses Fach großes Interesse. Im Sommer dieses Jahres (1913) sah ich auch die genialen Leistungen des französischen Fliegers Pegoud auf dem Johannisthaler Flugplatz. Auch war ich Augenzeuge der Zeppelin-Katastrophe in Johannisthal, bei der das Luftschiff Z 2 zugrunde ging. Bei beiden Anlässen war ein so starker Verkehr auf der S-Bahn, dass ich erst mit großer Verspätung in Neukölln, wo ich wohnte, eintraf. Viele der Flugplatzbesucher zogen es vor, den Heimweg zu Fuß zurückzulegen, anstatt stundenlang auf den Zug zu warten.

Während meiner Tätigkeit bei der NAG lernte ich einen guten Freund kennen, Bruno, mit dem ich manche interessante Sache ausklügelte und manche fröhliche Stunde verbrachte. Während meiner ganzen Zeit in Berlin wohnte ich bei der Familie Botschke in Neukölln, bei der ich ein nettes Zimmer hatte. Es waren sehr liebenswürdige Leute. Aus diesem Grunde blieb ich auch bei ihnen, als sie ihre Wohnung zweimal wechselten. Nach ungefähr einem Jahr bei dieser Familie bekam ich einen Zimmergenossen, Willy Wendt, der mir ebenfalls ein sehr guter Freund wurde. In fast brüderlichem Zusammenleben teilten wir alle guten und schlechten Stunden. Besonders interessant waren eine Nachttour und eine Radpartie, die wir unternahmen.

Im Mai dieses letzten Jahres in Berlin wurde ich Mitglied des Theater-Vereins Excelsior in Neukölln, in dem ich später Kassierer war. Viele vergnügte Stunden habe ich hier erlebt. Am 15. Dezember 1913 trat ich aus dem Verein aus, weil ich zur kaiserlichen Marine ausgehoben wurde. Am 24. Dezember beendete ich meine Tätigkeit bei der NAG und fuhr zu meinen Eltern nach Fürstenwalde, um dort bis zum Tage meiner Einberufung zu bleiben. So musste ich mich vom Wehrbezirks-Kommando in Schöneberg bei Berlin nach Frankfurt an der Oder ummelden, von wo ich am 6. Januar 1914 die Order erhielt, mich am 9. Januar abends daselbst einzufinden.
 

2. Zur Marine

Herzlich verabschiedet von meinen Eltern verließ ich [am 9.1.1913] Fürstenwalde mit dem Zug am Nachmittag um 4:36 Uhr und war um 5:18 Uhr in Frankfurt/Oder. Nach einem Aufenthalt von drei Stunden fuhren wir – ungefähr zwölf Mann – um 8:31 Uhr abends, begleitet von einem Unteroffizier, von Frankfurt weiter. Unsere Reise ging über Fürstenwalde, Berlin und Wittenberge nach Kiel. Es war eine ziemlich ungemütliche Fahrt, denn es war sehr kalt. Am 10.1.14 um elf Uhr mittags verließen wir in Kiel den Zug und nahmen auf dem Platz vor den Bahnhof Aufstellung. Von Obermaaten und Unteroffizieren wurden wir nach einstündigem Warten truppweise in die Kaserne geführt. Ich sah zum erstenmal den Kieler Hafen – ein malerisches Bild.

In der Kaserne angekommen, wurden wir in Korporalschaften eingeteilt und auf unsere Stuben geführt. Ich kam in die 2. Korporalschaft des 1. Zuges. Nachdem wir unser Essgeschirr erhalten hatten, gab es das erste Mittagessen in der Kaserne, und zwar zur Feier des Tages Erbsen mit Speck. Nach drei Tagen wurden wir, nach vorheriger ärztlicher Untersuchung, eingekleidet. Jetzt hatte jeder seine Beschäftigung, denn es mussten viele Kleidungsstücke geändert werden, und sämtliche Sachen wurden mit Namensläppchen und Stammrollen-Nummer versehen. Nun folgte die infanteristische Ausbildung. Diese bestand aus Exerzieren, Turnen, Freiübungen und vier Schießübungen. Mein Korporalschaftsführer war Obermaat Rehm. Nach einer zweiten ärztlichen Untersuchung auf Tropendienstfähigkeit wurden wir neu eingeteilt. Ich kam in die 2. Korporalschaft des Auslandszuges und erhielt Unteroffizier Franz als Korporalschaftsführer. Während meiner Ausbildung war ich Flunki bei unserem Exerzierfeldwebel Polte.1

Am 28.1.14 feierten wir im Etablissement Tivoli Kaisers Geburtstag, den ersten bei der Marine. Von Amüsement war natürlich keine Rede, denn als Rekrut hatte man dazu wenig Gelegenheit. Am 22.2.14 fand die Vereidigung in der Turnhalle statt. Nach Ablegung des Fahneneides und einer Ansprache unseres Abteilungs-Kommandeurs, Korvettenkapitän Schulze, fand in der Marinekirche ein Gottesdienst statt. Am 20.3.14 erfolgte unsere Vorstellung vor Konteradmiral Mischke und Kapitän zur See Begas.2 Sie bestand aus Besichtigung, Kompanie-Exerzieren und Einzelübungen. Nach der Vorstellung konnten wir ausgehen, was ich schon lange sehnlichst gewünscht hatte, und so erhielten wir nun Urlaub wie die »alten« Mannschaften. Die Hoffnung, Heimaturlaub zu erhalten, wurde zunichte, weil ich die Frühjahrsparade mitmachen mußte. Auch nach der Parade wurde aus dem Urlaub nichts, denn mein Feldwebel teilte mir mit, dass ich zum Gummikursus vorgesehen bin. Am 31.3.14 hatte ich Kleidermusterung zu machen, und danach war Klarmachen zur Fahrt nach Hamburg.

Am 1.4.14, morgens drei Uhr, wurde geweckt. Eine Stunde später gingen wir, zehn Mann und sieben Unteroffiziere, nur mit dem Nötigsten versehen, zum Bahnhof. Gegen 5:30 Uhr fuhren wir von Kiel ab und kamen um 8:30 Uhr in Hamburg Hauptbahnhof an. Nachdem wir uns im Hotel Germania einquartiert hatten, besuchten wir nach kurzem Frühstück die Fabrik der Firma Traun & Söhne, die unweit unseres Hotels gelegen war. Unsere Arbeit während des Kurses war sehr leicht und dauerte täglich von acht Uhr morgens bis 11:30 Uhr mittags.3 Unsere Beköstigung erhielten wir im Hotel, und die war gut.

Nachmittags hatten wir frei bis zum anderen Morgen. Diese Gelegenheit benutzte ich, mir Hamburg anzusehen. Nach Besichtigung verschiedener Sehenswürdigkeiten wie den Elbtunnel, das Bismarckdenkmal, den Jungfernstieg, die Werft von Blohm & Voß, Passagierdampfer und das Eppendorfer Krankenhaus besuchte ich auch St. Pauli und Alt-Hamburg. Zu der Zeit unseres Kurses fand bei Traun & Söhne ein Vergnügen des Arbeiterpersonals statt, zu dem auch wir eingeladen wurden und bei dem wir uns köstlich amüsierten. Nach Prüfung unserer Arbeit war unser Kursus beendet.

Während der Musterung am 9.4.14 erfuhr ich, daß ich für das Kanonenboot SMS Jaguar in Ostasien bestimmt wurde. Bei dieser Gelegenheit bat ich um Urlaub, den ich auch erhielt – leider nur über vier Tage. Am Nachmittag machte ich mich klar zur Fahrt in die Heimat. Abends um sechs Uhr verließ ich Kiel und fuhr mit den Zug über Lübeck, Wittenberge und Berlin. Am 10.4. traf ich mit einem Landsmann und einigen anderen Kameraden in Berlin Lehrter Bahnhof ein. Um 7:20 Uhr fuhren wir vom Bahnhof Friedrichstraße weiter, und um 8 Uhr hatte ich mein Ziel Fürstenwalde erreicht. Nach einer herzlichen Begrüßung mit meinen Eltern blieb ich bis zum Nachmittag des nächsten Tages in Fürstenwalde.

Am 11.4.14 nachmittags 4 Uhr fuhr ich zum Besuch von Verwandten und Bekannten nach Berlin. Des kurzen Urlaubs wegen konnte ich aber nur bis zum Vormittag des nächsten Tages in Berlin bleiben. Am 12.4. verließ ich mit dem Zuge um 11:30 Uhr den Schlesischen Bahnhof in Berlin und war mittags 12:30 Uhr wieder in Fürstenwalde. Am Nachmittag des Sonntags machte ich mit meinen Eltern, meiner Schwester und Bekannten einen Ausflug zum Scharmützelsee. Am 13.4. war mein kurzer Urlaub vorüber, und ich musste mich wieder reisefertig machen, um am nächsten Morgen um 9 Uhr die Rückfahrt nach Kiel antreten zu können. Von meinen Eltern nahm ich einen herzlichen Abschied, musste ich doch Elternhaus und Heimat wie geplant für zwei Jahre verlassen.4 Meine Eltern begleiteten mich zur Bahn. Ob ich sie wohl wiedersehen werde?
Mittags 11:00 Uhr traf ich in Berlin ein, und nach einem zweistündigen Aufenthalt auf dem Lehrter Bahnhof setzte ich um 1 Uhr die Reise fort. Abends um 10 Uhr erreichte ich Kiel und war um Mitternacht in der Kaserne.

Bis zum 20.4.14 musste ich noch Postendienst machen, stand auch Außenposten vor der Villa des Prinzen Adalbert von Preußen und vor der Villa des Chefs der Ostsee-Station. Aber auch diese Zeit ging vorüber, und der Tag der Abreise kam immer näher.
 

3. Ausreise nach Tsingtau

Am 21.4.1914 war Klarmachen zur Ausreise: Transport der Kleidersäcke zum Bahnhof und Verladen derselben. Alsdann erfolgte die Rückgabe der Handwaffen. Am 22.4. morgens 4 Uhr war Wecken. Nach dem Kaffee und nachdem sich jeder mit etwas Proviant versehen hatte, war Antreten auf dem Hof. Hier wurden wir schiffsweise eingeteilt, und ich lernte nun meine künftigen Kameraden kennen. Um 6 Uhr war Abmarsch zur Matrosenkaserne der 1. Marine-Division in der Feldstraße. Hier war Übergabe der Mannschaften an den Transportführer, Kapitänleutnant Kuhlmann. Nun ging es unter den Klängen der Musikkapelle der 1. Marine-Division dem Bahnhof zu. So manche Abschiedsszene konnte man auf dem Wege dorthin beobachten. Im imposanten Zuge schlängelte sich die Masse der Marinesoldaten durch die Straßen Kiels. Der großen Menschenmenge wegen waren am Bahnhof Sperrposten aufgestellt.

Nachdem wir in den Zug eingestiegen waren und viele noch von ihren Angehörigen Abschied genommen hatten, rollten wir um 7 Uhr unter den Klängen des Liedes »Muß i denn...« und unter dem stürmischen Hurra der scheidenden Kameraden aus dem Bahnhof. In Harburg hatten wir einen zweistündigen Aufenthalt und trafen nachmittags um 5 Uhr in Wilhelmshaven ein. Unser Zug fuhr direkt bis zur Pier der Hamburg-Amerika-Linie, wo wir schon von weitem unser Transportschiff, die Patrizia, liegen sahen. Jetzt fasste jeder wieder seinen Kleidersack, und es begann die Einschiffung. Wir, die wir für die Jaguar bestimmt waren, kamen ins Zwischendeck vorn an Steuerbord. Jeder erhielt eine Nummer, die er an der Koje und am Kleidersack-Regal anzubringen hatte.

Am Abend besah ich mir die Gegend von Bord aus, denn es war ja auch das erste Mal, dass ich an Bord eines so großen Schiffes war. Die Patrizia, ein Schiff von 206 Metern Länge und einer Geschwindigkeit von 14 Seemeilen in der Stunde, hatte genug Raum für den Transport von 1600 Mann. Es war nicht so besonders bequem, doch es musste sich jeder daran gewöhnen; auch war man fast die ganze Zeit an Deck. Die Verpflegung an Bord war anfangs gut.

Am 23.4.14 mittags 12 Uhr legten wir von der Pier ab. Unter der Abschiedsmusik der Wihelmshavener Marine-Kapelle schleppte uns ein kleiner Dampfer zur Schleuse. Mit Musik und einem kräftigen Hurra verließen wir Wilhelmshaven. Die Zurückbleibenden winkten uns die letzten Abschiedsgrüße zu. In der Ferne hörten wir noch die Klänge des Liedes »Nun ade du mein lieb Heimatland«. Dieser Abschied war ein ernster Moment in meinem Leben und wird mir unvergesslich bleiben. Manch einer von uns hat wohl gedacht: Ob ich auch wieder in die Heimat zurückkehren werde? Drei Torpedoboote begleiteten uns ein Stück auf See hinaus. Nach Abfeuern von drei Kanonenschüssen kehrten die Boote mit einem dreifachen Hurra für ihre scheidenden Kameraden in den Hafen zurück.

Wir durchfuhren nun die Nordsee mit Kurs auf den englischen Kanal. Am 25.4.14 nachmittags gegen 4 Uhr erreichten wir die Linie Dover-Calais. Bei dem gutem Wetter konnten wir nahe Dover das Wrack der 1909 gestrandeten Preußen sehen.5 Wir befanden uns nun in ausländischen Gewässern und waren von nun an den Kriegsgesetzen unterworfen. Am 26.4. passierten wir die Landspitze von Brest. Die See wurde nun schon etwas bewegter, und die Seekrankheit machte sich vielfach bemerkbar. In Brest steht der Leuchtturm, den man den preußischen Grenadier nennt. Das Kap Finistère an der französischen Westküste sichteten wir am 27.4. und hatten somit den englischen Kanal verlassen. Tags darauf fuhren wir längs der Küste von Portugal, die uns einen schönen Anblick gewärte. Gegen Mittag sahen wir die Beringinsel, die sich steil und kahl erhebt, und das Kap da Riska, rechts davon die Tejomündung, an der die Stadt Lissabon liegt. Von Bord aus sahen wir die Hafeneinfahrt. Auf einem hervorspringenden Felsplateau liegt das ehemalige Königsschloss Sintra, wo einst das portugiesische Königspaar ermordet wurde.6 An der Küste liegen vereinzelte Fischerdörfer, von der Brandung umtost.

Am 29.4.14 fuhren wir gegen 10 Uhr vormittags durch die Straße von Gibraltar und sahen backbord die Stadt Gibraltar, in dessen Hafen Kriegsschiffe lagen. Auf der Steuerbordseite konnte man die afrikanische Küste mit der Stadt Tanger sehen. Bei spiegelglatter See, aber nebligem und naßkaltem Wetter fuhren wir am nächsten Tag ins Mittelmeer ein. Bald klärte das Wetter sich auf und gab am Nachmittag die Sicht auf die Küste von Algier frei. Von nun an wurde es von Tag zu Tag wärmer. Unser Dienst an Bord bestand bisher aus Instruktion, Freiübungen, Zeugwäsche und Zeugflicken. Wegen der zunehmenden Hitze wurde unser Dienst eingeschränkt. Am 1.5. passierten wir von fern die Stadt Tunis und nahmen nun Kurs auf Malta, den ersten Hafen, den wir anliefen. Hier begegneten wir einem Walfisch von ziemlicher Größe. Im Morgengrauen des 2.5. sahen wir Malta vor uns liegen. Nachdem wir den Lotsen an Bord genommen hatten, fuhren wir in den Hafen ein und gingen zwischen zwei Befestigungen vor Anker. Gleich danach, morgens um 6 Uhr, war Klarmachen zum Landgang.

Malta ist englischer Besitz und eine stark befestigte Stadt mit Kriegshafen. Wir machten einen Spaziergang durch die Stadt, sahen das Postamt, das Gerichtsgebäude, die Akademie und eine Kapelle, die im Innern mit rund 2000 Totenschädeln ausgestattet ist. Malta liegt 250 Meter über dem Meeresspiegel und bietet dem Beschauer von See her ein herrliches Panorama. Wegen des bergigen Terrains sind die Straßen meist terrassenförmig angelegt, was ein eigenartiges Bild gibt. In manchen Straßen waren Muttergottes-Bilder und Öllampen mit ewigem Licht angebracht. Die Erwerbszweige der maltesischen und italienischen Einwohner sind Weberei und Handel. Da jeder von uns noch einige Schillinge in der Tasche hatte, gingen wir in eine Wirtschaft und ließen uns den Wein gut schmecken, der dort sehr billig ist, billiger als Bier. Ich hatte einem englischen Matrosen einige Postkarten zum Absenden anvertraut, dann zogen wir alle frohgemut zurück zum Hafen. Für die meisten von uns war es das erste Mal, dass wir orientalisches Leben und Treiben sahen.

Am Nachmittag wurden die Anker gelichtet, und wir verließen Malta. Drei Stunden später, während wir zur Abendmusterung angetreten waren, erscholl plötzlich der Ruf: »Mann über Bord!« Trotz aller Rettungsversuche war es in der Dunkelheit unmöglich, den Matrosen zu bergen, und so mussten wir ohne ihn die Reise fortsetzen.7 Am 3.5.14, einem Sonntag, war der erste Gottesdienst an Bord. Die Predigt hielt Kaplan Petri. Dabei wurde des Toten gedacht. Es war eine zu Herzen gehende Feier im weiten Meer unter blauem Himmel.

In der Nacht zum 6.5.14 erreichten wir Port Said und gingen hier für einige Stunden vor Anker. Die Hafenstadt wurde im Jahre 1861 gegründet und zählte schon 1909 fast 2000 Einwohner. Sie liegt an der Einfahrt des Suez-Kanals, wo auf einer Mole das Denkmal für den Erbauer des Kanals steht. In der Stadt herrscht reges Leben und ein Durcheinander aller Volksrassen. Die Straßen sind meist ungepflastert. Auch waren diese nicht so sauber wie die Straßen in Europa. In Port Said nahmen wir einen Scheinwerfer mit Bedienungsmannschaft, einen Lotsen, drei Araber und ein Boot an Bord. Der Scheinwerfer ist nötig, um den Kanal nachts passieren zu können. Einige Händler, die bis Suez an Bord blieben, hatten Postkarten, Zigaretten der Marken Simon Arzt und Engelhard sowie Andenken und Straußenfedern zu verkaufen. Es war der Geburtstag des Kronprinzen, der dementsprechend gefeiert wurde.

Als ich am andern Morgen an Deck ging, befanden wir uns schon weit im Kanal. Der Kanal war von 1859 bis 1869 von dem Franzosen Ferdinand von Lesseps erbaut worden. Das Panorama des Kanals ist einerseits interessant, andererseits wieder sehr langweilig. Beiderseits des Kanals sah man fast nur Wüste. In regelmäßigen Abständen sind Stationen errichtet, von denen aus der Schiffsverkehr geregelt wird. Rings um die Stationen ist viel Vegetation, man könnte sagen: kleine Paradiese. Auf afrikanischer Seite läuft längs des Kanals eine Eisenbahn. Die Einöde außerhalb der Stationen wurde durch Arbeitskolonnen, bestehend aus Arabern, und kleine Karawanen, die am Ufer lagerten, unterbrochen. Oftmals liefen Araber mit den Ruf »Allah! Allah!« neben unserem Schiff her und sammelten Brot und rohe Kartoffeln auf, die wir ihnen zuwarfen.
Bei einer Breite von 36 bis 40 Metern und einer Länge von 156 Kilometern verbindet der Kanal das Mittelmeer mit dem Roten Meer. Die Baukosten betrugen vierhundert Millionen Mark und wurden von einigen Kalifen in Ägypten aufgebracht.8 Später ging der Kanal durch Verkauf von Aktien in den Besitz Englands über. Unsere Durchfahrt kostete zwanzigtausend Mark. Beim Passieren des Bittersees bot uns ein Sonnenuntergang ein herrliches Bild, wie ich es noch nie gesehen habe. An den Ufern des Sees lagen einige Araberdörfer, auch hier sah ich einige Bagger in Tätigkeit. Während der Durchfahrt durch den Kanal war eine fast unerträgliche Hitze. Kurz vor Mitternacht erreichten wir Suez und damit die Endstation. Hier gaben wir den Scheinwerfer mit der Bedienungsmannschaft und unsere Post von Bord und übernahmen Proviant und Wasser. Am Morgen befanden wir uns – bei zunehmender Hitze – schon im Roten Meer.

Am 12.5.14 passierten wir das an der Backbordseite gelegene Aden. Von Steuerbord aus sahen wir einige Inseln, die Afrika vorgelagert sind. Wegen der Hitze schliefen viele von uns an Deck. Schon am Morgen herrschte hier eine Temperatur von 35 bis 40° Celsius, im Laufe des Tages weiter ansteigend auf 50°. Das tägliche Baden brachte nur geringe Abkühlung, weil das Seewasser selbst sehr warm war. Infolge der großen Hitze machten einige Heizer und Kohlentrimmer schlapp, so dass ein paar Mann von uns einspringen mußten. Ein Heizer der Besatzung starb an einem Hitzschlag.9

Die Küstenlandschaften sind sehr steil und felsig. Schöne Bilder führten uns der Sonnenauf- und -untergang vor Augen. Morgen- und Abenddämmerung gibt es hier fast gar nicht; sobald die Sonne untergeht, ist es ganz finster. Hier im Roten Meer begegneten wir ganzen Schwärmen fliegender Fische, die – in der Größe eines Herings – acht bis zehn Meter über dem Wasser fliegen und dann wieder im Wasser verschwinden. Von Bord aus sahen wir den Berg Sinai mit den zwölf kleineren Hügeln, genannt die zwölf Apostel. Etwas Neues für mich war das Meeresleuchten, das ich jeden Abend beobachtet habe.

Nach Verlassen des Roten Meeres, nun im Indischen Ozean, wurde es wieder etwas kühler, und am 18.5.14, nach sechstägiger Fahrt, kam Colombo in Sicht. Wieder nahmen wir einen Lotsen an Bord und fuhren in den Hafen ein. Colombo hat einen künstlichen, aber sehr großen Hafen, und es herrscht hier reger Verkehr mit Schiffen aus aller Herren Länder. Am Abend besah ich mir von Bord aus das Leben und Treiben im Hafen. Zu sehen waren auch einige Dampfer der Hansa-Linie.

Am folgenden Morgen erhielten wir englisches Geld und gingen – wegen der großen Hitze in weiß und mit Tropenhelm – an Land. Ein kleiner Dampfer hatte uns zu den Landungshallen gebracht, und so traten wir nun unseren Spaziergang durch die Stadt an. Colombo ist englischer Besitz; im Europäer-Viertel wohnen auch Deutsche. Das Klima auf Ceylon ist tropisch; wir fanden viele tropische Gewächse wie Ananas, Kokospalmen und prachtvolle Blumen. Für wenig Geld kauften wir die herrlichsten Früchte, die wir – schwer beladen damit – an Bord brachten. Die Bewohner von Colombo sind – außer den wenigen Europäern – meist Inder und Singhalesen. Ihre Haut ist dunkelbraun, und sie haben Zähne wie aus Elfenbein. Als Hauptverkehrsmittel sah ich zweirädrige Wagen mit Verdeck, gezogen von einem trabenden Eingeborenen. Der Fahrpreis beträgt fünf bis zehn Cent pro Stunde. Unser Spaziergang führte zuerst durch das Europäerviertel, dessen Häuser sich von denen im Eingeborenenviertel stark unterscheiden. In letzterem sahen wir niedrige, aber malerisch aussehende Bambushütten. Die Eingeborenen gehen nur mit einem Lendenschurz bekleidet und einem Turban auf dem Kopfe umher; von ihnen wurden wir genügend bestaunt. Nach Durchqueren eines kleinen Palmenhains kamen wir in den Viktoria-Garten, einem Botanischen Garten echt tropischen Charakters. Hier an der Promenade fand ich ein deutsches Clubhaus. Wir begegneten mehreren zweirädrigen, von zwei Ochsen gezogenen großen Karren: die Lastwagen der Eingeborenen. Im Gegensatz zu den Bewohnern Maltas sind die in Ceylon sehr arbeitsam. Ihrer Religion nach sind sie Buddhisten. Auf unserem Rückweg zum Schiff besuchten wir ein Restaurant, in dem wir einige Limonaden tranken. Der Gang durch das Geschäftsviertel war ebenfalls interessant; man kann hier sehr billig Elfenbeinschnitzereien und Meerschaum-Artikel kaufen. Straßenhändler verkauften Andenken, Briefmarken und Früchte. An den Landungshallen angekommen, kehrten wir wieder an Bord zurück. Bei der Musterung stellte sich heraus, dass ein Mann fehlte; eine Patrouille wurde an Land geschickt, die ihn nach drei Stunden fand. Er erhielt einige Tage Arrest.

Gegen 5 Uhr am Nachmittag verließen wir Colombo, das im herrlichen Licht des Sonnenuntergangs zurückblieb. Noch aus großer Ferne konnten wir die Umrisse Ceylons erkennen. Am 21.5.14 mittags passierten wir Singapore, an der Malakkastraße gelegen. Dieser Seeweg verbindet den Indischen Ozean mit dem Chinesischen Meer. Zwei Tage später morgens um halb 4 Uhr weckte uns wieder der Schreckensruf »Mann über Bord!« Ein Torpedoboot-Matrose war in hohem Fieber an Deck gelaufen und über Bord gesprungen. Trotz aller Rettungsversuche konnte er in der Dunkelheit nicht mehr gefunden werden.10 Am nächsten Tag, Sonntag, dem 24.5., war Gottesdienst, bei dem auch des Ertrunkenen gedacht wurde. Am 25.5. sahen wir zu beiden Seiten Land. An Steuerbord lagen die holländischen Inseln Borneo und Java. Es herrschte ein reger Schiffsverkehr: Dampfer und Fischerboote. Wir waren hier dem Äquator um 1 Grad 45 Minuten nahegekommen.

Am 28.5. verstarb im Fieber ein Heizer, der später auf dem Kanonenboot Iltis hätte seinen Dienst tun sollen.11 Sein Leichnam wurde einbalsamiert und im Zinksarg aufbewahrt, um ihn nach Deutschland schicken zu können. Am 30. Mai morgens 4 Uhr trafen wir auf der Reede von Hongkong ein. Als wir einen Lotsen an Bord hatten, fuhren wir in den Hafen. Hier bot sich mir ein eigenartiges Bild. Viele der chinesischen Dschunken kreuzten, und im Nu hatten einige dieser seltsamen Boote unser Schiff umlagert. Mit deren Insassen sah ich zum ersten Mal schlitzäugige Chinesen.

Hongkong ist eine große Fabrik- und Hafenstadt, der Handels-Mittelpunkt Ostasiens und im englischen Besitz. Ungefähr 60 Überseeschiffe laufen täglich ein und aus. Da wir hier an Land sollten, hatten wir uns schon früh fertiggemacht, aber wegen der Beulenpest, die gerade dort herrschte, konnten wir nicht an Land, konnten die Stadt also nur von Bord aus sehen. Sie liegt auf einer Landzunge am Abhang eines hohen Berges und ist von den vielen Fabrikschornsteinen fast immer in Rauch gehüllt. Die Einfahrt in den Hafen geht zwischen Inseln und Bergen hindurch und ist sehr malerisch. Es wurde hier nur etwas Proviant übernommen, und nach fünfeinhalbstündigem Aufenthalt gingen wir wieder in See und steuerten unserem endgültigen Ziel, Tsingtau, zu. Am 1.6.14 verlebte ich mein erstes Pfingstfest auf See. Außer dem Gottesdienst, den Kaplan Petri hielt, hat sich weiter nichts Besonderes ereignet. Zu unserer Freude gab es heute erstmals während unserer fünfeinhalb Wochen dauernden Reise zum Mittagessen Kartoffeln und Hering.

Am 3.6.14 haben wir dann in der Erwartung, unsere neue Heimstatt bald zu Gesicht zu bekommen, uns dauemd auf Deck aufgehalten. Wir passierten zwei kleine, aber hohe Inseln, die sich wie Wachtposten ausnehmen und deshalb auf deutsch Max und Moritz heißen, und sahen dann in der Ferne hinter einer Landzunge Tsingtau liegen. An Land war festlich geflaggt, ebenso die im Hafen liegenden Schiffe SMS Scharnhorst, Gneisenau und Leipzig.12 Mit Musik fuhren wir in den Hafen ein, und mit Musik und donnerndem Hurra wurden wir empfangen. Wie wir später, nach Eingewöhnung in Tsingtau, feststellen konnten, ist es immer etwas Außerordenthches, wenn ein Transportschiff wie die Patrizia, genannt der Dicke, eintrifft, hauptsächlich für die Kameraden, die abgelöst werden sollen, und für die der Tag gekommen war, wieder in die Heimat zurückkehren zu dürfen.

Die Patrizia fuhr in den Innenhafen und machte an Mole zwei fest. Hier erwarteten uns viele unserer Landsleute und dienstfreien Kameraden. Es begann nun das Ausschiffen; jeder hatte seinen Kleidersack geschultert, und so nahmen wir auf der Pier Aufstellung. Ein Motorboot des Jaguar brachte uns zu der Werft, wo der Jaguar lag. Der Jaguar, ein Kanonenboot von 62 Metern Länge, 9 Metern Breite, mit vier Schulz-Kesseln und zwei Maschinen von je 750 PS ausgerüstet und einer Wasserverdrängung von 900 Tonnen, sollte nun unser angestammter Platz für die nächsten zwei Jahre sein. An Bord angekommen, wurden wir sofort in Wachen eingeteilt. Jeder erhielt Spind und Hängematte zugewiesen. Der Kleidersack wurde im Spind verstaut, die Hängematte festgezurrt, und dann ging es – nach Kleiderwechsel – gleich an die Arbeit, denn die Alten mussten von Bord und wir deren Aufgaben übernehmen. Weil wir noch bei der Werft lagen, gingen wir am Abend ein wenig an Land spazieren und besahen uns unsere nähere Umgebtmg. Nach der Abendrunde um 8 Uhr ging es dann in die Hängematte. Ich schlief den Schlaf des Gerechten.
 

4. Dienst in China

Am 4.6.1914 war der erste richtige Arbeitstag; er begann am Morgen um 7 Uhr. Die Stationen wurden verteilt. Mein Platz war, wenn wir im Hafen sind, die hintere Maschine und auf See im Heizraum. Der Dienst im Hafen ist regelmäßig und wechselt höchstens durch Rollenexerzieren oder Zeugflicken, in der ersten Zeit auch durch Instruktion. Auf See ist der Dienst schwerer: vier Stunden Wache, acht Stunden Freizeit. In der Freizeit werden Instruktion oder auch Zeugflicken angesetzt. Mein Vorgesetzter bei der zweiten Wache, für die ich eingeteilt wurde, war Obermaschinist Röhl.

Was nun Tsingtau anbelangt, so ist es eine schöne saubere Stadt nach echt deutschem Muster. Das Europäerviertel heißt Tsingtau, das Chinesenviertel Tapatau. In Tsingtau haben wir mehrere Kasernen, den Bahnhof, den Schlachthof, die Kirche, das Seemannshaus und gute Werftanlagen mit einem Dock für 16000 und einem [Kran] für 150 Tonnen. Die Chinesen sind freundlich und können zum großen Teil gebrochen Deutsch.

Am 8.6.14 hatte der Jaguar seine Werftzeit beendet, und wir machten unsere erste Probefahrt. Ich hatte Seewache und bekam einen kleinen Vorgeschmack von der Arbeit eines Heizers auf einem Kriegsschiff. Am andern Tag mittags gingen wir in See mit dem Ziel Hankau, wo wir SMS Vaterland ablösen sollten. Ich hatte den zweiten Kessel backbord zu bedienen. Es war eine für mich ungewohnte und schwere Arbeit, zumal wir ohne Ventilation fuhren. Ich war immer froh, wenn die vier Stunden Wache um waren. Halb zerschlagen ging man dann an Deck.

Am vierten Tag, dem 13.6.14, erreichten wir nachmittags gegen vier Uhr die Wusung-Reede nahe Shanghai, wo der Luchs lag, der den Iltis abgelöst hat. Hier ist die Mündung des Jangtse-Flusses, der an seinem Ende so breit ist, dass man kaum von einem Ufer zum andern sehen kann. Bei einer fast dreifachen Länge unseres Rheins ist er der größte Strom Ostasiens. Sein Wasser ist ganz gelb und die Strömung sehr stark. Als wir am Morgen des 14.6. die Anker lichteten, kam die Patrizia und brachte die Ablösungsmannschaften des Luchs. Wir nahmen einen Lotsen an Bord und setzten unsere Fahrt nach Hankau fort, während die Patrizia, mit dem Heimatwimpel geschmückt, die Reede ebenfalls verließ und Kurs auf die Heimat nahm. Auf unserer Fahrt stromaufwärts hatte ich oft Gelegenheit, mir die herrlichen Uferlandschaften anzusehen. Mit ihren Reisfeldern, Viehweiden, Bergen, Pagoden und Dörfern bilden sie ein stetig wechselndes Panorama.

Am 15.6.14 erreichten wir Nanking, eine alte große Stadt, die nach traditioneller Art von einer Mauer umgeben ist. In der folgenden Nacht gegen zwei Uhr erwachte ich plötzlich durch einen harten Stoß an meinen Kopf; ich hörte das Signal »Schotten dicht!« So wie ich war, lief ich an Deck auf meine Station. Die Ursache des starken Stoßes war ein großer chinesischer Passagierdampfer, der uns gerammt hatte und am Bug unseres Jaguar backbord ein großes Leck riß, das aber zum Glück über der Wasserlinie lag. Das Lecksuch-Personal hatte aber keinen weiteren Schaden feststellen können, und so konnten wir wieder in die Hängematte steigen. Trotz des großen Lecks setzten wir am Morgen unsere Fahrt fort. Nun konnte ich mir die Sache richtig ansehen. Wir hatten nicht nur ein großes Leck, auch der Klüverbaum war weggebrochen, das Fallreep abgebrochen und eine Jolle fast ganz zertrümmert.

Gegen Abend begegneten wir dem Flaggschiff des amerikanischen Kreuzergeschwaders, der Saratoga. Seine Bordkapelle begrüßte uns mit unserer Nationalhymne. Hinter Nanking wurde der Schiffsverkehr auf dem Jangtse immer lebhafter, viele Dschunken und Sampans13 zogen ihren Weg stromauf und stromab. Fischerboote mit ihren eigenartigen Netzen und kleine Dörfer wie auf schwimmenden Flößen erregten meine Aufmerksamkeit. Wir passierten auf unserer Fahrt die Orte Tschingkiang, Janking, Nanking und Kinkiang, letzterer bekannt durch die berühmten Kinkiang-Vasen.

Am 17.6.14 gegen drei Uhr nachmittags liefen wir in Hankau ein und gingen vor dem deutschen Konsulat vor Anker. Hankau ist eine internationale Stadt und hat ein umfangreiches Europäer-Viertel. Ich fand hier – außer dem deutschen – ein amerikanisches, italienisches, russisches und japanisches Konsulat. Auch gibt es ein deutsches Postamt, Rathaus mit Feuerwehr, Polizei, Metzger, Bäcker und mehrere große Geschäftshäuser, ebenfalls ein gutes Seemannshaus, in dem ich manche Stunde mit Lesen deutscher Zeitungen und Bücher verbrachte. Ein Elektrizitätswerk und eine deutsch-chinesische Hochschule fehlen ebenfalls nicht. Die Reedereien des Norddeutschen Lloyd und der Hansa-Amerika-Linie haben hier ihre Kaianlagen und Lagerschuppen. Erstere hat sogar zwei Flussdampfer für den Verkehr zwischen Shanghai und Hankau. Die Eisenbahn14 ist deutscher Besitz und verkehrt ebenfalls zwischen diesen beiden Städten. Eine Rennbahn und einen guten Sportplatz inmitten tropischer Vegetation gibt es hier. Sehr interessant waren immer meine Spaziergänge durch die Chinesenstadt mit ihren engen Straßen, in denen es von Rikschas und Fußgängern wimmelt. Es herrschte große Hitze, noch am Abend bis zu 30° Celsius. Unser Dienst bestand nur aus Arbeiten an Bord, Rollenexerzieren und Instruktion und wurde wegen der Hitze um zwei Stunden täglich verkürzt.

23.6.14. Weil sie unabgekochtes Wasser getrunken haben, wurde fast ein Zehntel der Mannschaft krank. Wassertrinken wurde verboten. Zwei kleine Fässer mit Tee wurden aufgestellt. Anderntags früh um 7 Uhr ging – mit Ausnahme der Wache – die ganze Mannschaft an Land zum Sportplatz. Es war dies das erste Mal, solange ich an Bord war, dass ich mit meinen Kameraden etwas Sport treiben konnte. Die Freude dauerte aber nicht lange, denn des strömenden Regens wegen, der plötzlich eingesetzt hatte, mussten wir abbrechen, und nass bis auf die Haut kamen wir an Bord zurück.

8.7.14. Letzte Nacht war eine kolossale Hitze, 35°. Die meistens von uns haben fast nackt an Deck gelegen. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Am 10.7. wurde gekohlt, sehr schlechte Kohle, der reine Staub. Am 17.7. erhielten wir ein Telegramm, dass wir noch vierzehn Tage länger hier bleiben sollten, was uns nicht gerade angenehm war. Am 22.7. kam SMS Vaterland wieder stromab und ankerte zwischen uns und dem Konsulat. Am nächsten Tag kam dann der Befehl vom Kommandanten, dass wir Hankau verlassen sollen. Da der Lotse nicht eintraf, wurde die Abfahrt auf den folgenden Tag verschoben.

Am 24.7.14 brachte der Dampfer Tu Foo vormittags den Lotsen, und so verließen wir Hankau am Mittag unter den Klängen von »Muß i denn...«, die unsere junge Bordkapelle spielte. Die Temperatur: 38° Celsius. Unterwegs, am 25.7. abends, bemerkten wir mitten im Jangtse einen Chinesen, der laut um Hilfe schrie. Sofort kam das Kommando »Mann über Bord!« Und binnen kurzer Zeit war der Mann gerettet, und wir setzten unsere Fahrt fort. Mit Hilfe des an Bord anwesenden chinesischen Offizierskochs, der als Dolmetscher fungierte, erfuhren wir, dass der Mann von dem vor uns fahrenden Flussdampfer über Bord geworfen worden sei. Er erhielt zu essen und konnte sich stärken, und als wir gegen acht Uhr früh Kinkiang passierten, wurde er an Land gebracht. Gegen Mittag dann erreichten wir die Kleine Waise, eine Insel mitten im Jangtse mit ihren vielen Tempeh. Das Thermometer war auf 40° gestiegen.

Als wir am folgenden Tag (26.7.14.) in Nanking waren, erhielten wir einen Funkspruch von der Emden, sofort nach Shanghai ins Dock zu gehen. Nach nur einer halben Stunde nahmen wir mit großer Fahrt Kurs auf Shanghai, wo wir am 27.7. gegen 11 Uhr am Vormittag am Old Dock festmachten. Mit uns dockte ein kleiner japanischer Dampfer.

Am 29.7.14 fand die Beerdigung des auf dem Luchs infolge Erkältung gestorbenen Heizers Neumann statt. Ich nahm an der Feier teil und hatte bei dieser Gelegenheit einen Eindruck von Shanghai bekommen. Die Beerdigung fand auf dem Europäer-Friedhof statt, und so mussten wir mit der Straßenbahn durch die ganze Stadt fahren. Shanghai ist nicht nur eine bedeutende, sondern auch eine sehr alte internationale Handelsstadt. Ein großer Teil der Stadt ist von Europäern aller Nationen bewohnt. Das deutsche Viertel und das deutsche Konsulat liegen an der Hafenseite. Am Bund steht das Iltis-Denkmal, von dem aus man eine herrliche Aussicht auf den Hafen hat: ein buntes Bild mit Docks, Werften, Schiffsneubauten und Schiffen aller Nationen. Unsere Straßenbahn-Fahrt führte durch mehrere Stadtviertel, in denen lebhafter Verkehr herrschte. Es wimmelte förmlich von Menschen, Autos, Straßenbahnen und hauptsächlich von Rikschas. Kurz vor dem Friedhof kamen wir durch ein Chinesenviertel, das zum Europäer-Viertel einen krassen Gegensatz bildet. Der Friedhof ist schön angelegt, mit guten Wegen und tropischem Pflanzenwuchs. Manchen deutschen Namen las ich hier von denen, die fern von der Heimat gestorben sind.
 

5. Im Krieg

Am 1.8.1914 (dem Tag des Kriegsbeginns) erhielten wir Order, sofort das Dock zu verlassen. Die Reparaturarbeiten waren zwar noch nicht beendet und sollten fortgesetzt werden, wenn wir draußen vor Anker liegen. Unser Kommandant, Oberleutnant Teltz und einige Matrosen blieben an Land, und der Erste Offizier, Kapitänleutnant Matthias, wurde Kommandant.15 Wir hatten Befehl, so schnell wie möglich nach Tsingtau zu fahren und nahmen, nachdem wir aus dem Dock heraus waren, sofort Kohlen, was bis abends 8 Uhr dauerte. Dann schickten wir die Handwerker, die an Bord noch arbeiteten, plötzlich an Land mit dem Auftrag, morgen weiterzuarbeiten, kappten das Ankertau und verließen mit abgeblendeten Lichtern und unter »Klar Schiff« mit großer Fahrt Shanghai – ungeachtet zweier im Hafen liegender englischer Kriegsschiffe.
Es war eine heiße Fahrt, an die manche meiner Kameraden und ich noch in späteren Jahren zurückdenken werden. Im Heizraum herrschte eine Temperatur bis zu 56°, die Maschinen liefen mit äußerster Kraft. Einige Kameraden machten schlapp, und auch ich hielt der Hitze nicht stand und musste meinen Kessel abgeben und leichtere Arbeit übernehmen. Unser Chief [Diesing] versprach jedem eine Flasche Bier, wenn wir glücklich nach Tsingtau durchkommen. Mit geladenen Geschützen fuhren wir dicht unter Küste entlang, einen Weg, den sonst nur die Torpedoboote nehmen, jeden Augenblick darauf gefasst, mit feindlichen Schiffen zusammenzutreffen.

Am 3.8.14 erreichten wir ungehindert gegen Morgen unser Tsingtau. Hier bot sich mir ein ungewohntes Bild. Die im Hafen liegenden Kanonenboote Luchs, Tiger, Iltis, Cormoran und das Torpedoboot S 90 waren beim Abrüsten und Vorbereiten für »Klarschiff zum Gefecht«. Die Matrosen waren beim Scharfmachen der Munition und Schärfen der Handfeuerwaffen. Alle nicht unbedingt notwendigen Gegenstände aus Maschinen- und Heizraum brachten wir an Land. An Freizeit war jetzt nicht mehr zu denken. Auf Befehl des Gouvernements mussten wir zur Aufklärung in die äußere Bucht fahren, denn es war bekannt, dass englische Schiffe sich vor Tsingtau aufhalten werden. Ein ausgelaufener englischer Frachtdampfer mit Schlachtvieh, der unter amerikanischer Flagge fuhr, wurde von SMS Tiger wieder zurückgeholt.16 Am Abend um halb 7 Uhr traf der Postdampfer Prinz Eitel Friedrich wohlbehalten ein; er soll als Hilfskreuzer eingesetzt werden.

Am 4.8.14 liefen wir wieder in den Hafen ein. Von jetzt an blieben wir immer unter Dampf, fertig zur Abfahrt. In der Nacht zum 5.8. taten wir Dienst als Vorposten. Danach gaben wir unsere sämtliche Übungsmunition von Bord und übernahmen scharfe 8,8-cm-Granaten. In der nächsten Nacht übernahm den Wachdienst das Torpedoboot S 90. Am 6.8. wurde mit Hilfe der Chinesen gekohlt, alle Bunker voll und Decksladung. Gegen Abend traf die Emden mit einem gekaperten Kohlendampfer [Rjäsan] ein, der auch eine volle Ladung Tee, Schokolade und Früchte hatte. Er wurde zum Umrüsten als Hilfskreuzer [Cormoran] unter den Kran geschleppt und – wie die Prinz Eitel Friedrich – mit den Mannschaften der außer Dienst gestellten Kanonenboote besetzt. Korvettenkapitän von Bödecker vom Iltis ist nun unser neuer Kommandeur.

Am 7.8.14 hatten wir Übungsschießen. Am Nachmittag traf der österreichische Kreuzer Kaiserin Elisabeth aus Tientsin ein, machte Klarschiff und übernahm am folgenden Tag den Vorposten. Wir sind immer noch beim Umrüsten. Erst jetzt wird das uns in Shanghai beigebrachte Loch im Bug vollständig abgedichtet. Auf Gouvernements-Befehl fuhren wir am 9.8. früh um 4 Uhr auf Außenreede, während Kaiserin Elisabeth in den Hafen zurückkehrte. Wir begleiteten einen Kohlendampfer hinaus, der zu SMS Scharnhorst stoßen soll. Am folgenden Tag blieben wir in der Werft und trafen Vorbereitungen zum Schutz gegen Fliegerbomben.

Am 11.8.14 nachmittags war wieder Kohlen, was in der jetzigen Zeit sehr oft nötig ist. Am Abend fuhren wir dann wieder auf Außenreede. Mit S 90 waren wir die einzigen deutschen Kriegsschiffe, die in Tsingtau blieben. Die Mannschaften der Kanonenboote Cormoran, Luchs, Iltis und Tiger waren auf die beiden schon ausgelaufenen Hilfskreuzer und an Land verteilt. Uns wurden drei weitere Heizer zugeteilt.

Am 12.8.14 früh um 6 Uhr waren wir wieder in der Werft und hatten am Nachmittag Schießübungen. Die Mannschaften der im Hafen liegenden deutschen Handelsschiffe wurden zum Dienst in der Marine eingezogen. Von chinesischen Handwerkem der Werft wurden Vorbereitungen zur Aufstellung zweier 8,8-cm-Geschütze auf unserem Mitteldeck getroffen. Abends wieder auf Vorposten.

Am 15.8.14 Übernahme von zwanzig Buchsen 8,8-cm-Munition.

Am 17.8.14 wurde am vorderen Mast ein Mastkorb angebaut als Ausguck, der sofort besetzt wurde. Die meisten Chinesen verlassen Tsingtau, um sich anderswo niederzulassen.

Nach einer am 19.8.14 erhaltenen Meldung soll Japan dem Deutschen Reich ein Ultimatum gestellt haben. Vom Gouverneur kam anderntags die Weisung, dass alle europäischen Frauen und Kinder Tsingtau zu verlassen haben. Unsere beiden Maschinengewehre mit Ausrüstung und Munition gaben wir an Land.

Am 21.8.14 mittags verließ der Dampfer Plakat mit Frauen und Kindern an Bord Tsingtau, Ziel Tientsin. Es war ein trauriges Abschiednehmen. Am Nachmittag verließ ein kleiner japanischer Dampfer mit den wenigen hier wohnenden Japanern ebenfalls Tsingtau.

22.8.14. Heute mittag wurde für Kaiserin Elisabeth Alarm gegeben. Bald darauf kam S 90 in die Bucht und meldete, dass er von einem englischen Torpedoboot-Zerstörer 30 Minuten lang verfolgt und beschossen wurde. Wir liefen sofort aus, nahmen die Verfolgung auf und freuten uns schon auf einen kleinen Kampf, aber leider war das fremde Schiff schon verschwunden. Gegen Abend geriet unser Minenleger Lauting auf eine von ihm selbst gelegte Mine und wurde leicht beschädigt.

Das japanische Ultimatum vom 19.8. hat von Deutschland die bedingungslose Übergabe Kiautschous an Japan – als Verbündetem Englands – verlangt sowie die Desarmierung der in Tsingtau liegenden Kriegsschiffe und den Rückzug sämtlichen Militärpersonals. Deutschland soll geantwortet haben:17 Wenn Japan Kiautschou haben will, so mag es sich es holen. Ohne weiteres geben wir es nicht heraus und sie sollen es so teuer wie möglich bezahlen. Wohlan, sie mögen kommen, wir sind auf dem Posten; trotzdem wir nur fünftausend Mann sind, ist doch jeder sich schon jetzt darüber klar, dass wir Tsingtau nicht für immer halten können.

Tagesbefehl des Gouverneurs vom 23.8.14 zur sofortigen Bekanntgabe an die Truppen: »Ich begebe mich mit dem heutigen Tage an die Front zur Übernahme des Oberbefehls für die Verteidigung Tsingtaus.« Dieser Tagesbefehl war gleichzeitig die Antwort auf ein weiteres Ultimatum Japans an Deutschland, in dem der sofortige Rückzug aller zum deutschen Kreuzergeschwader gehörenden Kriegsschiffe und ihre Entwaffnung sowie die bedingungslose Übergabe Tsingtaus bis zum 23. Angust mittags gefordert worden war.18 »Niemals werden wir freiwillig auch nur den kleinsten Teil Boden hergeben, über dem die deutsche Kriegsflagge weht. Von dieser Stätte, die mit Liebe und Erfolg 15 Jahre lang zu einem kleinen Deutschland in Übersee gemacht worden war, wollen wir nicht weichen. Will der Japaner Tsingtau haben, so mag er kommen, es sich zu holen. Der Angriff auf Tsingtau steht bevor. Gut ausgebildet und wohlvorbereitet können wir ihn erwarten. Die Besatzung von Tsingtau ist fest entschlossen, getreu ihrem Fahneneide und eingedenk des Waffenruhms ihrer Väter, den Platz bis zum Äußersten zu halten. Dass auch wir für Kaiser und Reich kämpfen dürfen, gereicht mir zur stolzen Freude, auch, dass wir nicht dazu verurteilt sind, tatenlos abseits zu stehen, während unsere Brüder in der Heimat in schwerem Kampfe stehen.«
Tagesbefehl:19 »An die Festungsbesatzung von Tsingtau! Ich erinnere Euch an die glorreiche Verteidigung von Kolberg, Graudenz und der schlesischen Festungen vor mehr als hundert Jahren. Nehmt Euch diese Helden als Beispiel. Ich erwarte von Euch, dass ein jeder sein letztes geben wird und mit den Kameraden in der Heimat an Tapferkeit und soldatischer Tugend wetteifert. Wir sind zur Verteidigung bestimmt. Haltet Euch aber stets vor Augen, dass Verteidigung nur dann richtig geführt wird, wenn sie vom Geiste des Angriffs erfüllt ist. Am 18. August habe ich S[einer] Majestät drahtlos versichert, daß ich einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten. Am 19. August habe ich den allerhöchsten Befehl S[einer] Majestät erhalten, Tsingtau bis aufs Letzte zu verteidigen. Wir werden S[einer] Majestät, unserm allerhöchsten Kriegsherrn, durch die Tat beweisen, daß wir des in uns gesetzten allerhöchsten Vertrauens würdig sind. Es lebe der Kaiser! Der Festungskommandeur, gez. Meyer-Waldeck.

24.8.14. Da Österreich noch nicht den Krieg an Japan erklärt hat, muß die Kaiserin Elisabeth desarmieren; auch ihre Munition wird an Land geschafft. Bis auf 15 Mann, die an Bord blieben, fuhr die Besatzung mit der Bahn nach Tientsin. Der Abzug vieler Chinesen aus Tsingtau macht sich sehr bemerkbar. Auch unsere drei an Bord gewesenen Offiziersköche waren über Nacht spurlos verschwunden.

25.8.14. Weil die Minenkette im Außenhafen bereits geschlossen ist, können die noch im Hafen liegenden Schiffe jetzt nicht mehr auf See hinaus. Nur für unseren Jaguar und S 90 besteht eine geheime Durchfahrt. Auf Gouvernements-Befehl wird die Kaiserin Elisabeth von uns angekauft.20

Am 26.8.14 gingen wir bei Freibier und Rauchwaren an Bord der Kaiserin Elisabeth zur Übernahme von Munition. Von den auf der Werft beschäftigten Arbeitern aus Ponape21 meldeten sich heute drei als Kriegsfreiwillige. Nach ihrer Einkleidung wurden sie vom Ersten Offizier vereidigt.

27.8.14. Tsingtau bereitet sich auf eine Blockade vor. Es heißt, dass mittags das zweite japanische Ultimatum abgelaufen ist.22 Über die Stadt ist der Kriegszustand verhängt. Ein japanisches Geschwader soll bereits vor Tsingtau liegen.

28.8.14. Heute kam die Meldung, dass Österreich Japan den Krieg erklärt hat. Die nach Tientsin abgereiste Mannschaft der Kaiserin Elisabeth kam truppweise und in Zivilkleidung zurück. Zwei Offiziere und 44 Mann wurden [heute] von uns stürmisch empfangen.

Am 31.8.14 vormittags kam vom Gouvernement der Befehl, auszulaufen, um einen japanischen Torpedoboot-Zerstörer zu vernichten, der bei dem Versuch, sich Tsingtau zu nähern, auf Grund gelaufen war. Das war mal so was für uns! Wir hatten einen Lotsen an Bord genommen, der uns durch die Minenkette bringen sollte, und liefen aus. Ich hatte Freiwache, als wir mit 104 Schuss das Schiff erledigt hatten. Vier große Kreuzer und fünf Torpedoboot-Zerstörer verfolgten uns nun, und wir mussten uns, weil wir solcher Übermacht nicht gewachsen gewesen wären, in den Schutz unserer Forts zurückziehen. Um 12 Uhr mittags liefen wir wieder in den Hafen ein.

1.9.14. Von jetzt an sollen wir täglich hinausfahren und bei der Arkona-Insel vor Anker gehen. Heute kamen auch schon die ersten Kriegsnachrichten aus der Heimat. Auch kam [am 2. oder 3.9.] die Meldung, dass die Japaner 11.000 Mann bei Lungkau gelandet haben.

5.9.14. Gegen zehn Uhr vormittags erschien plötzlich ein Flieger über der Werft. Gleich darauf meldete uns die Signalstation, dass es ein feindlicher Flieger ist, und so mussten wir, weil wir in der Werft lagen, sofort mit Gewehren an Land antreten. Leider war der Flieger zu hoch, um mit Gewehrfeuer erreicht zu werden. Um 1 Uhr nachmittags fuhren wir wieder in die Bucht. Als wir um 6 Uhr abends in den Hafen einliefen, erfuhren wir von österreichischen Offizieren, dass der Flieger drei Bomben in der Nähe der Bismarck-Batterie und der Moltke-Kaserne abgeworfen hat, die aber keinen Schaden anrichteten.

6.9.14. Heute, Sonntag, kam der japanische Flieger, unser Freund, als wir gerade beim Essen waren. Wir fuhren sofort in die Bucht, um ihn von unten etwas zu kitzeln, aber er blieb in angemessener Entfernung und war mit Gewehrfeuer nicht erreichbar. Nur mit Abwehrkanonen konnte er beschossen werden. Gegen 8 Uhr abends trafen 75 Österreicher und einige Leute, die wir in Shanghai zurückgelassen hatten, hier ein. Sie berichteten, dass ein Teil der Schantung-Eisenbahn zerstört ist.

Am 9.9.14 erhielten wir Post aus Shanghai. Die Deutschen in Shanghai haben zugunsten der Besatzung von Tsingtau Geld gesammelt; wir erhielten pro Kopf für 85 Pfennig Zigarren und Bier.

12.9.14. Im Laufe des Vormittags trafen 20 österreichische Matrosen ein; so kommen auch sie, unsere Brüder, nach und nach wieder zurück. Aus Tsimo (Schantung-Halbinsel) wird gemeldet: Ca. 40 Mann japanische Kavallerie sind eingetroffen, Infanterie und Artillerie folgen. Also sind die ersten Feinde doch schon da. Sie werden merken, dass wir Deutsche sind. Lass sie nur kommen.

13.9.14. In aller Frühe stieß eine Patrouille, bestehend aus einem Offizier und sechs Mann, auf japanische Kavallerie, die – wie Chinesen gekleidet – aus dem Hinterhalt schoss. Die Kriegführung gleicht nicht der einer Kulturnation, sondern einer Räuberbande. Am Abend traf der Rest der österreichischen Matrosen ein; die Kaiserin Elisabeth kann nun wieder ihren Dienst tun.

14.9.14. Heute um 11 Uhr wurde ein japanischer Offizier, der Zivilkleidung trug, wegen Spionage erschossen.23 Am Nachmittag Kohlen und Ausgabe von Erkennungsmarken. Tags darauf blieben wir in der Werft zwecks Panzerung des Oberdecks und Aufbau von Brustwehren an den Relings zum Schutz gegen leichtes Artillerie- und Gewehrfeuer. Es war für uns wieder ein Tag harter Arbeit. Während der Wache im Heizraum oder an der Maschine und während der Freiwache auf der Werft waren 12 bis 20 Millimeter starke Eisenplatten zu kreuzen und an Bord zu bringen.

16.9.14. Wir liegen noch an der Werft, da unsere Arbeiten noch nicht beendet sind. Um 1 Uhr mittags kam wieder unser Freund, den wir bis 3 Uhr mit Schrapnell-und Gewehrfeuer beschossen. Als Gegenleistung bewarf er uns mit fünf Bomben, eine davon 20 Meter von uns entfernt. Sie richteten nicht den geringsten Schaden an.

19.9.14. Unser Freund besucht uns jetzt täglich, um uns und die Kaiserin Elisabeth zu vernichten. Es ist ihm nicht gelungen, und es wird ihm auch nicht gelingen.

Am 21.9.14 morgens war Klarmachen zum Landgang. Es war für uns ein willkommener Spaziergang, kamen wir doch mal wieder auf ein paar Stunden aus der Enge des Heizraumes heraus. Mittags waren wir wieder an Bord. Unser Freund besuchte uns auch wieder und bewarf uns mit sieben oder acht Bomben, ohne Erfolg.

24.9.14. Heute morgen acht Uhr kam unser Freund wieder mit seinen Eisengrüßen. Im Laufe des Tages wurde der achtere Mast von Bord genommen, was auch eine Änderung des Funknetzes zur Folge hatte.

Am 26.9.14 gegen 9 Uhr vormittags erschienen plötzlich zwei feindliche Flieger und bombardierten uns, doch ohne Erfolg. Einige Zeit danach erhielten wir von S 90, das im Tsangkau-Tief auf Vorposten war, die drahtlose Nachricht, dass feindliche Artillerie, Kavallerie und lnfanterie im Anmarsch auf Tsingtau sind. Wir liefen sofort aus und nahmen alle Trupps unter Feuer, woraufhin diese in den Schluchten verschwanden. Während der Nacht suchten wir und S 90 mit Scheinwerfem das Gelände ab, ohne Spuren vom Feinde zu finden. Die ganze Mannschaft schläft angezogen auf den Hängematten.

27.9.14. Den ganzen Tag über beschossen wir mit Erfolg die feindlichen Stellungen. Am Nachmittag fuhr auch Kaiserin Elisabeth in die Bucht und überschüttete die Stellungen im Vorgelände mit Schrapnellfeuer.

28.9.14. Während der Nacht erreichen die Japaner den Spitzberg, so dass sich unser Vorposten zurückziehen musste. Wir beschossen den Feind wieder mit gutem Erfolg; so viel Widerstand hatte er wohl nicht erwartet. Am Abend wurden die Kanonenboote Luchs, Iltis und Cormoran von uns versenkt. SMS Tiger blieb noch zur Reserve, im Notfall zur Wasseraufbereitung, in der Werft liegen. Gegen 8 Uhr abends wurden unsere Signalstation, der Iltisberg und der Bismarckberg von einem gemischten japanisch-englischen Geschwader von See aus beschossen.

29.9.14. Im Schutze der Dunkelheit erreichten die Japaner die Ziegelei und die Seidenspimerei und besetzten beide. In deren Nähe richteten sie eine Artilleriestellung mit vier 15-mm-Geschützen ein, die wir vollständig vernichteten. Hierbei wurden wir von einer anderen Batterie beschossen, die wir aber bald zum Schweigen brachten. Während des 40 Minuten dauernden Gefechts wurde unser Jaguar nicht beschädigt. Um 4 Uhr nachmittags wurden wir von S 90 abgelöst und gingen an die Kohlenmole zum Kohlen.

30.9.14. Die Schießerei geht weiter; wir beschießen mit Erfolg zwei gute japanische Stellungen. Sie fahren jetzt größere Geschütze auf, um uns kleinzukriegen; aber es soll ihnen schwerfallen.

In der Zeit vom 1. bis 3.10.14 war unsere Hauptaufgabe, den linken Flügel unserer Stellungen zu decken. Die Japaner fangen an, starke Stellungen auszubauen – wir sorgen für die nötige Störung. Wir bleiben jetzt immer in der Bucht und werden von einem Peilboot mit Proviant versorgt. Kohlen werden ebenfalls auf See übernommen.

Am 4.10.14, Sonntag, besuchten uns wieder zwei japanische Flieger. Zu gleicher Zeit wurden wir von einer schweren Batterie von Land aus beschossen. Wir bekamen ein großes Sprengstück eines 21-cm-Geschosses an unseren Vordermast, das dann auf das Deck fiel, ohne jemanden zu verletzen.

5.10.14 . Im Laufe des Vormittags gingen 15 Mann unserer Besatzung an Land zur Verstärkung in den Schützengräben. Da wir unsere alten Bojen nicht mehr passieren können, weil die feindliche Artillerie sich darauf eingeschossen hat, müssen wir neue Bojen werfen.

7.10.14. Vom Gouvernement kommt der Befehl, alle Bücher mit dem 6. des Monats abzuschließen, da in den nächsten Tagen ein Sturmangriff erwartet wird. An Land wird jetzt Tag und Nacht geschossen.

8.10.14. Heute war Kohlen, anschließend wurden die beiden 8,8-cm-Geschütze vom Mitteldeck und sämtliche 3,7-cm-Maschinenkanonen mit dazugehöriger Munition an Land gebracht. Ein Gerücht besagt, die Besatzung des Jaguar solle versuchen, auf der anderen Seite der Bucht an Land zu gehen, um chinesisches Gebiet zu erreichen.

9.10.14. Ein großer Teil der Mannschaft geht heute an Land zur Bedienung der gestern an Land gebrachten Geschütze und zur Verstärkung der Marinekompanie.24 Auch von uns Heizern mussten einige an Land. Damit wurde es für uns an Bord Gebliebene immer schwerer, denn dieselbe Arbeit wie vorher, nur mit weniger Leuten, war zu verrichten. Aber wir taten es gern. In den Heizraum gingen wir stets mit dem Gedanken, ob wir wohl noch einmal ans Tageslicht kommen werden. Als ich gerade auf Wache war, erhielten wir einen Treffer am Bug, der aber nicht gefährlich war. Nach 6 Stunden Wache war ich froh, dass das Gefecht zu Ende war. Jetzt sind nur noch vier Mann im Heizraum, zwei Mann vor den Kesseln und zwei zum Kohlentrimmen. Gegen 11 Uhr machten wir zusammen mit S 90 wieder einen Anlauf, die feindlichen Stellungen auszukundschaften. Wegen des starken Artilleriefeuers mussten wir uns aber bald wieder zurückziehen. Wir blieben nun nur noch als Beobachtungsposten in der Bucht, denn die feindlichen Stellungen hätten wir mit unseren Geschützen nicht mehr erreichen können.

Am 10.10.14 stattete uns der feindliche Flieger eine Visite ab und bedachte uns und Kaiserin Elisabeth mit einigen gut gezielten Bomben. Gegen Mittag des folgenden Tages wurde der Iltisberg von See aus beschossen. Ungefähr 45 Schuß mit 30,5-cm-Geschützen wurden in zwei Serien auf die Stellung geworfen, ohne einen besonderen Schaden anzurichten.

12.10.14. Heute vormittag näherten wir uns wieder den Kuschan-Stellungen des Feindes, ohne dass wir von ihm beschossen wurden. Gegen 10 Uhr abends wollte S 90 einen Ausfall durch die feindlichen Geschwader versuchen, kam aber um 11 Uhr unverrichteter Dinge zurück.

13.10.14. Am Morgen um 8 Uhr steigt unser Flieger auf zu einem Erkundungsflug und wird von einem japanischen Flieger verfolgt. Durch Revolverschüsse hält unser Mann [Plüschow] ihn in Schach und landet glücklich innerhalb unserer Stellungen. Gegen 10 Uhr unternahmen wir einen neuen Anlauf und entdeckten die Batterie im Kuschan. Wir wurden stark beschossen, dass es nur so hagelte, wurden aber nicht getroffen. Unsere Beobachtungen gaben wir drahtlos an Land weiter, worauf unsere Hsiauniwa-Batterie die feindliche Batterie mit gutem Erfolg beschoss.

14.10.14. Heute vormittag wurde Hsiauniwa von See aus mit 30,5-cm-Granaten beschossen. Die Aufschläge konnte man auf dem gegenüberliegenden Kap Jäschke sehen. Abends 6 Uhr Kohlen. Gegen 8 Uhr wurden die beiden Frachtdampfer Durendart und Ellen Rickmers an der Einfahrt zum Innenhafen versenkt. Der amerikanische Konsul verließ Tsingtau.

17.10.14. Heute morgen erhielt die Kaiserin Elisabeth von der Kuschan-Batterie schweres Geschützfeuer. Nach einem Gegenfeuer von kurzer Dauer zog sie sich durch geschicktes Manövrieren aus der Feuerlinie, ohne einen Treffer zu erhalten.

18.10.14. S 90 kam heute abend längsseits, um von uns Abschied zu nehmen. Es sollte noch einmal einen Durchbruch versuchen. Unsere Kameraden freuten sich darauf, näher an den Feind heranzukommen, und wir bedauerten nur, dass wir nicht mitmachen konnten.

Am andern Morgen wurde bekannt, dass S 90 einen japanischen Kreuzer versenkt hat. Ein anderer Kreuzer, der S 90 verfolgte, lief auf eine Mine und wurde schwer beschädigt.25 S 90 konnte nicht mehr zurück und musste gesprengt werden, nachdem die Besatzung an [chinesisches] Land gegangen war.

20.10.14. Laut Schiffstagebuch ist SMS Jaguar mit ca. 900 Schüssen das am meisten beschossene Schiff. Nur ein Streifschuss hatte getroffen. Wegen des stürmischen Wetters mussten wir mehr innerhalb der Bucht ankern.

24.10.14. Während der ganzen Nacht waren wir auf dem Posten. Es war anzunehmen, dass japanische Torpedoboote im Schutze des schlechten Wetters durch die Minensperre durchzubrechen versuchen.

Am Morgen erfuhren wir, dass die Mannschaft von S 90 von Chinesen gefangengenommen und nach Nanking gebracht worden ist. Die Japaner haben sich bis an die innere Werft herangekämpft und beginnen jetzt mit dem Bombardement von Tsingtau von Land aus. Unsere Batterien schießen Tag und Nacht.

27.10.14. Trotz aller Hindernisse haben die Japaner ihre schwere Artillerie bis vor Tsingtau gebracht und die Stellungen befestigt. Ihre Infanterie liegt schon bei Syfang. Das Feuer dauert an. Telegramm von Seiner Majestät dem Kaiser: Er gedenkt der tapferen Verteidiger von Tsingtau.

Am 28.10.14 wurde der im Innenhafen liegende Tiger von Kuschan aus beschossen; kein Schaden. Wir beschießen auf der anderen Seite der Bucht eine feindliche Wagenkolonne.

29.10.14. Von 8 Uhr morgens bis 1 Uhr mittags wurde Tsingtau von See aus mit schwerem Kaliber beschossen. Schaden: vier Telegraphenstangen, ein Seitengewehr und ein Gewehr, dessen Schloss aber noch brauchbar ist.

30.10.14. Eine japanische 21-cm-Batterie beschoss von Kuschan aus den Tiger mit 150 Schuss. Der 102. Schuss war ein Treffer am hinteren Schornstein. Außerdem zwei Decks-Treffer. Um 9 Uhr abends wurde der Tiger in der Bucht versenkt.

31.10.14. Heute vormittag wieder großer Beschuss von Land und See aus. Das Feuer konzentrierte sich hauptsächlich auf die innere Werft, auf Iltis-, den Bismarck- und den Signalberg. In der letzten Nacht wurden die Tanks der amerikanischen Petroleum-Gesellschaft in Brand geschossen. Am Nachmittag brannten auch die Tanks der deutschen Asiatic-Compagnie. Unter dem Schutze der Dunkelheit Kohlen in der Bucht. Einige Teile der Werft und der 150-Tonnen-Kran wurden gesprengt. Da jeden Augenblick der Sturmangriff erwartet wird, sind wir Tag und Nacht auf dem Posten. Zum Schlafen kommt man nicht viel. Kommt man gerade aus dem Heizraum, geht es gleich wieder auf Gefechtsstation.

1.11.14. Die Japaner setzen die Beschießung fort. Am Morgen hatte es den Anschein, als ob der Sturm schon losgehen würde. Die japanische lnfanterie schießt mit einem neuen Modell (6 mm). Um 5 Uhr nachmittags geht unser lieber Kapitän von Bödecker krankheitshalber an Land. Traurig sahen wir ihn scheiden, denn er war bei der ganzen Mannschaft sehr beliebt und hatte uns oft sicher aus dem Feuer gebracht. Nun waren wir auf unseren Ersten Offizier angewiesen, von dem jeder wußte, dass er nicht sehr mutig war, das gerade Gegenteil von unserm Kapitän. In der Nacht werden die Maschinenhalle und die Schlosserei gesprengt.

2.11.14. Die Beschießung nimmt ihren Fortgang. Am Nachmittag schießt die Kaiserin Elisabeth ihre letzte Munition in die Kuschan-Stellungen.

3.11.14. Gegen 1 Uhr nachts Alarm an Land. Es war ein wüstes Durcheinander von Geschossen, Raketen, Leuchtkugeln und Leuchtsternen. Wir wurden – auf See – von der Kuschan-Batterie entdeckt und erhielten von dort heftiges Feuer, 15-cm-Granaten. Die Schüsse lagen alle sehr nah, und es war nur unserem Steuermann [Rosenke] zu verdanken, dass wir ohne Schaden davongekommen sind. Da der Sturmangriff jeden Augenblick erwartet wird, müssen wir unsere wenigen persönlichen Sachen, die wir noch an Bord haben, in von uns selbst angefertigte Rucksäcke packen und diese bereitlegen. Wir machten uns auf einen Straßenkampf gefasst, wollten bis zum letzten Mann kämpfen. In der Nacht wurde auch die Kaiserin Elisabeth in der Bucht versenkt. Die Besatzung ging in die Schützengräben. Unser Jaguar war somit das einzige Schiff, das noch an der Verteidigung teilnahm.

Am 4.11.14 hatte es unser Freund, der japanische Flieger, direkt auf uns abgesehen. Seine Bomben lagen sehr gut: eine dicht am Bug, zwei dicht an Steuerbord.

5.11.14. Seit den letzten Tagen müssen wir uns ständig in Bereitschaft halten, um sofort eingreifen zu können. Wir fahren wieder auf den Kuschan zu und feuern ca. 25 Schuss ins Vorgelände. Beim Rückzug werden wir von einer Batterie von der rückwärtigen Seite beschossen. Mit 100 Schuss haben wir diese samt Munitionswagen erledigt. Der Erste Offizier fragt beim Gouvernement an, ob und wann Jaguar gesprengt werden soll, da wir von allen Seiten unter Beschuss liegen. Am Nachmittag geht auch der Erste Offizier wegen Krankheit an Land.

Am 6.11.14 kommt vom Gouvernement der Befehl: Jaguar bis zum letzten Augenblick halten. Gegen 10 Uhr abends kommt unser neuer Kommandant, Korvettenkapitän Mündel, an Bord und geht sofort auf Wache.

7.11.14. Gegen 2 Uhr nachts kommt vom Signalberg der Befehl zum Eingreifen. Die Japaner gehen zum Sturm über. Wir fuhren ganz dicht längs an die Werft und schmissen unsere letzte Munition in die feindlichen Stellungen, erhielten aber von der Kuschan-Batterie heftiges Feuer und mussten uns zurückziehen. An Land heftiges Artillerie- und Maschinengewehrfeuer. Unsere Artillerie schwieg schon, da die Munition ausgegangen war. Da macht die Signalstation ihr letztes Zeichen für uns: fünf weiße Sterne, das heißt: Jaguar sprengen. Es wird gepfiffen: »Klar bei Gewehren und Rucksäcken«. Wir fahren nach der 41-Meter-Stelle, an der gesprengt werden soll. Die Tender Bussard und Habicht werden längsseits beordert, um uns an Land zu bringen. Alles stand angetreten achteraus. Der Kommandant teilte uns die Lage mit, und wir bringen ein dreifaches Hurra auf Kaiser und Vaterland aus. Der Kommandant geht von Bord. Munition wird ausgegeben und Brot verteilt, wussten wir doch nicht, wann wir wieder etwas zu essen bekommen. Auch die Kantinenvorräte werden verteilt. Mit meinen Kameraden machten wir die letzten Arbeiten im Heizraum zur Sprengung. Ich ging ziemlich als Letzter von Bord. Wir waren gerade 20 Meter vom Jaguar entfernt, als das Schiff explodierte und vor unseren Augen verschwand und mit ihm ein Teil meiner Habe.
Wir fuhren nun zum Minendepot, wo noch ein Teil der Mannschaft der Kaiserin Elisabeth lag. Diejenigen, die zum Landungskorps gehörten und Gewehre hatten, mussten unter Führung von Leutnant Fliegelskamp zum Gouvernement, um dort, falls noch nötig, einzugreifen. Ich blieb im Minendepot, wartend der Dinge, die da kommen sollten. Was mich am meisten ärgerte, war, daß ich keine Waffe in Händen hatte. Gegen 7 Uhr morgens brachte uns unser Artillerieoffizier Leffler die Nachricht, dass die Japaner durchgebrochen sind. Um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden – wir standen einer zehnfachen Übermacht gegenüber –, ist jetzt die weiße Flagge gehisst worden. Es kam, was wir alle wussten: Tsingtau ist gefallen, ein kleiner Teil Deutschlands im Fernen Osten. Zehn lange Wochen haben wir gekämpft gegen 40.000 Mann, denen wir nur 3.900 Mann entgegenstellen konnten. Nicht als Besiegte fühlten wir uns und lachten über die Feinde, die so lange Zeit brauchten, um eine schwach befestigte Stadt einzunehmen.
 

Anmerkungen

1. »Flunki« bezeichnete allgemein einen Steward, hier aber jemanden, der persönliche Dienste für einen Vorgesetzten verrichtet (analog zu »Offiziersbursche«).

2. Mischke war Chef der I. Marineinspektion, Begas Chef der I. Werftdivision, Schulze (Ernst) Chef der II. Abteilung der Division.

3. Worin der »Gummikurs« bei der Gummiwarenfabrik Traun bestand, ist unklar.

4. Die planmäßige Heimreise war für April 1916 vorgesehen.

5. Gemeint ist das Fünfmaster-Vollschiff »Preußen« der Reederei Laeisz, das am 6.11.1910 von einem Dampfer gerammt wurde.

6. [Fußnote Hans Zabel:] Karl I., König v. Portugal, wurde 1908 von Republikanern ermordet.

7. Verluste dieser Art waren aus unterschiedlichen Gründen bei den meisten Ablösungstransporten zu beklagen.

8. Die Finanzierung erfolgte durch eine Aktiengesellschaft, deren größter Aktionär der ägyptische Vizekönig war.

9. Die Identität des Mannes ist, wie bei dem Ertrunkenen (Fn. 7), nicht bekannt.

10. Siehe Fußnoten 7 und 9.

11. Siehe Fußnoten 7 und 9.

12. Möglicherweise liegt eine Verwechslung mit Emden vor, denn Leipzig war Ende Mai nach Honolulu entsandt worden.

13. [Fußnote Hans Zabel:] Sampan (chin.: Dreibrett): flaches Hausboot für den Flußverkehr.

14. Im Text »Schantung-Eisenbahn«, was aber missverständlich ist.

15. Kommandant war Korvettenkapitän Lüring.

16. Die Episode wird sonst nirgendwo berichtet, ist aber glaubhaft.

17. Die deutsche Reichsleitung hat das japanische Ultimatum nicht beantwortet; der Verfasser zitiert hier sinngemäß aus der Proklamation des Gouverneurs »An die Bürger von Tsingtau« vom 23.8.1914.

18. Siehe Fußnote 17; ein »zweites Ultimatum« hat es nicht gegeben.

19. Befehl »An die Festungsbesatzung von Tsingtau« vom 23.8.1914.

20. Die Nachricht vom »Ankauf« erwies sich als Gerücht.

21. [Fußnote Hans Zabel:] Ponape: größte Insel der [deutschen] Karolinen; Ergänzung: Es handelt sich um die Arbeiter Helgen, Isolap und Nanpon.

22. Siehe Fußnote 18; hier könnte die japanische Blockadeerklärung vom 27.8.1914 gemeint sein, worin den in Tsingtau verbliebenen Schiffen eine 24-Stunden-Frist zum Auslaufen gesetzt wurde.

23. Dieser Vorfall fehlt in den amtlichen Darstellungen.

24. Zu dieser wichtigen und glaubhaften Information sind keine Details bekannt.

25. Japanische Quellen bestätigen die schwere Beschädigung eines zweiten Kreuzers nicht.
 

© Sigrid Zabel; für diese Ausgabe auch: Hans-Joachim Schmidt.
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