Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Marinesoldat in Tsingtau, Kriegsgefangener in Japan

von Erich Kaul
 
Teil 2: Von der Gefangennahme bis zur Auflösung des Lagers Tokyo-Asakusa
 

Vorbemerkungen des RedakteursTeil 1. – Vom 22.11.1914 bis 6.9.1915 war Erich Kaul in Tokyo untergebracht. Das Lager war eng, größere Beschwerden gab es jedoch nicht. – Es wird empfohlen, die Tagebucheintragungen Kauls mit denen von Christian Vogelfänger zu vergleichen.
 

Inhalt des Teils 2

1. Letzte Tage in Tsingtau (1914)
2. Transport nach Japan (1914)
3. Im Lager Tokyo-Asakusa (1914/15)

Teil 1: Bei der Marine bis zur Gefangennahme
Teil 3: Vom Lager Narashino bis zur Heimreise
 

1. Letzte Tage in Tsingtau

Wir blieben [am 7.11.1914] bis gegen Abend im Minendepot, vor dem ein japanischer Posten stand. Wir waren nun Gefangene der Japaner. Gegen Abend kamen wir in die Mannschaftsräume des Minendepots und freuten uns schon auf eine Nacht gesunden Schlafes. Um 9 Uhr abends zogen wir mit unserem Gepäck zur Bismarck-Kaserne, wo wir vorläufig untergebracht wurden.

8.11.14. Ich lag vollständig angezogen auf der Pritsche und habe schlecht geschlafen, denn es war sehr kalt. Am Vormittag gingen wir zum Friedhof, um unseren gefallenen Kameraden eine letzte Ruhestätte herzurichten.

Am 9.11.14 fand am Nachmittag unter vorangehenden ergreifenden Reden des katholischen und des evangelischen Geistlichen die Beisetzung unserer Kameraden statt. Viele deutsche Landsleute von Tsingtau wohnten der Feier bei. Ich sah seit langer Zeit wieder Frauen und Kinder. Die Kameraden vom III. See-Bataillon schossen Salut. Ergriffen verließen wir den Friedhof.

10.11.19. Wir versammeln uns auf dem Kasernenhof. Oberstleutnant von Kessinger hält eine Ansprache, die mit einem dreifachen Hoch auf Kaiser und Vaterland endigt. Mit unserem wenigen Gepäck verlassen wir Tsingtau und treten den Weg nach Taitungtschen an, das wir noch im Laufe des Tages erreichen. Hier wurden wir in schmutzigen Chinesen-Hütten einquartiert, die wir erst reinigen mussten, um darin schlafen zu können. Das Dorf war ganz zerschossen, und unter den Trümmern der Hütten lagen viele tote Chinesen, die sich nicht hatten in Sicherheit bringen können.1 Von den Japanern war uns erlaubt worden, im Dorf frei herumzugehen.

11.11.19. Wir lagen zusammen mit den Deckoffizieren im Quartier, denen die Bude nicht behagte, und so suchten wir uns eine neue. Dabei hatten wir das Vergnügen, noch einen Stall ausmisten zu müssen. Das Essen bereiteten wir uns selbst von den Vorräten, die wir mitgebracht hatten, hauptsächlich aus Konserven. Einen Ofen mussten wir uns selbst bauen. Es war ein richtiges Zigeunerleben.

14.11.14. Heute morgen war um 2:30 Uhr Wecken und eine Stunde später Antreten zum Weitermarsch. Mit unserem Gepäck beladen, verließen wir Taitungtschen, das noch im Schlafe lag. Einer Karawane gleich bewegte sich unser Zug vorwärts mit dem Ziel Schatzekou. Es war ein bunter Zug, bestehend aus Seesoldaten der Marine und der Marineartillerie, gemischt mit chinesischen Kulis, die Gepäck trugen oder auf Rikschas beförderten. Unterwegs sahen wir große Wagenkolonnen und viele Geschütze, die die Japaner vor Tsingtau eingesetzt hatten. Die Wagen sind meist zweirädrige Karren. Während der Marschpause in der Nähe eines Dorfes kaufte ich mir ein paar Birnen, denn die Wegzehrung bestand nur aus Hartbrot und Wasser. Nach 8 Stunden anstrengendem Marsch erreichten wir endlich am Mittag Schatzekou, den Hafen unserer Einschiffung.
Bis 4 Uhr waren wir noch an Land und verhandelten mit Chinesen um einen Korb Birnen, den wir dann für 15 Cent (30 Stück samt Korb) erhielten. Um 4 Uhr war Einschiffung mittels Schuten. Wir kamen an Bord der Europa Maru No. 2. Untergebracht wurden wir vorn im Zwischendeck und schliefen hier ungefähr wie im Karnickelstall. Unsere Verpflegung bestand aus warmem Wasser genannt Tee, Reis, Hartbrot und widerlich süß schmeckendem Dosenfleisch. Trotz des schlechten Lagers schlief ich in der Nacht wie gewiegt.
 

2. Transport nach Japan

15.11.14. Von dem harten Lager und dem dichtgedrängten Liegen habe ich heute die Folgen gespürt; die Glieder schmerzen den ganzen Tag. Auch hatte die Kälte das Nötige dazu getan.
Gegen 7 Uhr am Morgen gingen wir in See und verließen die Bucht von Schatzekou. Unsere Beschäftigung bestand aus Schlafen, Trinken und Kartenspiel.

16.11.14. Heute erreichten wir die Straße von Shimonoseki, eine Meerenge zwischen der japanischen Hauptinsel Honshu und der Insel Kyushu im Süden. Herrliche Landschaften auf beiden Seiten. Es herrschte ein reger Schiffsverkehr.

Am 18.11.14 gegen 7 Uhr morgens waren wir am Ziel unserer Seereise: Oshima. Wir mussten noch eine Weile an Bord bleiben und vertrieben uns die Zeit mit allerlei Kurzweil. Warmes Essen gab es auch diesmal nicht, und wir sangen wieder unsern Kohldampfmarsch. Noch zwei Tage werden wir an Bord bleiben müssen, hörte ich. Nun hatte ich reichlich Gelegenheit, die nähere Umgebung von Bord aus zu betrachten. Es war ein sehr schönes Hafenbild, eingeschlossen von hohen Bergen. Weit im Hintergrunde sah ich am Fuße eines Berges die Stadt Hiroshima liegen. Ich hatte schon gehofft, im Laufe dieses Tages von dem elenden Scheuerprahm herunterzukommen.

Am 20.11.14 konnten wir das Schiff verlassen. Auf dem Platz vor dem Bahnhof wurde angetreten, und jeder erhielt eine Nummer. Auch gab es Verhaltensmaßregeln. Hier erfuhren wir auch, dass wir nach Tokyo gebracht werden und eine Bahnfahrt von 46 Stunden vor uns haben. Um 6 Uhr abends wurden wir in den Zug verteilt. Wir saßen furchtbar eng. Unser Gepäck kam in den Packwagen. Gegen 7 Uhr setzte der Zug sich in Bewegung und trug uns dem Inneren Japans zu, in jedem Wagen drei Mann zur Bewachung. Im Ganzen waren wir ca. 300 Mann im Zug.

21.11.14. Eine Nacht halben Schlafens und Wachens lag hinter uns. Herrliche Landschaften zu beiden Seiten boten uns reiche Abwechslung. Früh am Morgen war unser erster Aufenthalt in Okayama. Jeder erhielt zwei gekochte Eier, Weißbrot und warmen Tee. Dies bekamen wir abwechselnd mit Fleisch und kalten Pellkartoffeln bei jeder Station, an der wir Aufenthalt hatten. Um 10:30 Uhr eine Stunde Aufenthalt in Himeji. In Kobe hatten wir eine herrliche Aussicht auf den Ankerberg. Am Bahnsteig wurden wir von ein paar deutschen Landsleuten begrüßt. Eine Japanerin verteilte Bonbons. Am Nachmittag passierten wir Kyoto, die frühere Hauptstadt Japans.

Am 22.11.14 um 7 Uhr morgens erreichten wir Shizuoka, am Nachmittag Yokohama. Um 4:30 Uhr lief unser Zug in Shinagawa ein, einem Vorort von Tokyo. Das war die Endstation. Ich hatte nun eine herrliche Eisenbahnfahrt hinter mir, wie ich noch nie eine erlebt habe. Die Fahrt ging durch Bergland, über breite Flüsse und durch viele Tunnels, vorbei auch am Fujiyama, dem größten und heiligen Berg Japans. Er ist ein Vulkan, wie es 170 weitere im Lande geben soll. Weithin ist er sichtbar. Auf so mancher Station wurden wir von oft vielen Menschen bestaunt, ist doch wohl nur selten ein Ausländer von ihnen gesehen worden.
Die Straßen und Plätze am Bahnhof Shinagawa, zwei Stationen vor Tokyo, waren dicht gefüllt von Menschen. Schon auf dem Bahnsteig wurden wir viele Male photographiert. Vor dem Zuge nahmen wir Aufstellung. Wir wurden in Gruppen von je 50 Mann eingeteilt.
Als dies beendet war, erschien plötzlich eine Japanerin und verteilte Blumen, an jeden von uns eine. Dabei war ein kleiner Zettel, auf dem gedruckt stand:
  »Aus Dankbarkeit für die mir von einem deutschen Ehepaar
  erwiesene Güte sei lhnen dieser Gruß gebracht.
  Frau Aki Hayama, Nº l Y. chome, Minami Sakuma, Shiba, Tokyo.«
Dieser Gruß bereitete uns allen große Freude. Ein sonderbares Gefühl, als Kriegsgefangener im Feindesland mit Blumen beschenkt zu werden.
Als wir den Bahnhof verließen, wurden wir von einer großen Menschenmenge mit den Rufen »Banzai! Banzai!« empfangen.2 Ich wusste nicht, waren es Rufe der Freude, Bewunderung oder Wut? Von allen Seiten wurden wir photographiert und kinematographisch aufgenommen. Polizei und Militär hatten zu tun, uns den Weg zur elektrischen Straßenbahn freizuhalten. Mit dieser Bahn fuhren wir fast durch ganz Tokyo, so schien es mir. Alle Straßen, die wir durchfuhren, waren voller Menschen, so dass die Bahn oftmals anhalten musste, da Menschen den Weg versperrten.
Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir unser uns unbekanntes Ziel. Also hier aussteigen. Nur einzeln konnten wir uns durch die Menschenmenge drängeln, einem großen Tore zu, welches der Eingang zu einem großen Hofe war. Hier waren schon weniger Leute, und als wir ein zweites Tor passiert hatten, waren wir aus dem Gedränge heraus. Wir waren in Kinshi-cho, nahe der Tokyo-Bucht, in einem Tempel-Bereich. Wir stellten uns vor einem kleinen hölzernen Gebäude auf; als die nötigen Meldungen gemacht waren, wurden wir zu einem anderen Gebäude gleicher Art geführt, an dessen Vorbau wir die Schuhe ausziehen mussten.
Drinnen in der Halle empfing uns der Vorsteher des Gefangenen-Heims, Oberstleutnant Marquis Saigo, mit einer Ansprache in gebrochenem Deutsch3 und las uns Verhaltensregeln vor: Dann wurden wir auf die einzelnen Quartiere verteilt. Es waren dies Räume mit Holzwänden, Papierfenstern und Fußböden aus Strohmatten. Jetzt kam das Abendessen: Nach langer Hartbrot-Verpflegung gab es endlich mal wieder etwas anderes. Was das eigentlich war, konnte ich nicht erraten, aber es hat gesclmeckt. Nur war es zu wenig. Nach dem Essen kam unser Gepäck. So konnten wir uns nach langer Zeit wieder einmal umziehen und es uns bequem machen. Zum Schlafen erhielt jeder sechs Decken, zwei Laken und eine Kopfrolle. Das Bett war der Fußboden. Nach einer Fahrt von 46 Stunden schlief ich in dieser Nacht den Schlaf des Gerechten.
 

3. Im Lager Tokyo-Asakusa

Am nächsten Tag [23.11.14] wurden wir um 6:30 Uhr durch Trompetensignal geweckt. Zehn Minuten später war Antreten zum Frühappell. Um 7:30 Uhr gab es Frühstück, bestehend aus Tee, Brot und Butter. Die Behandlung von Seiten der Japaner ist sehr human. Am Vormittag eineinhalb Stunden Bewegung auf dem Hofe, desgleichen eine Stunde am Nachmittag. Zur Zeit werden hier große Tempelfeste gefeiert.
Die Zeit vertreibt man sich mit Kartenspiel, Lesen, Schreiben und Rauchen. Es gibt eine Kantine, wo man allerhand Kleinigkeiten kaufen kann. Ich wechselte hier mein letztes Geld um; es waren achtzehn Dollar. Erstmals seit vier Monaten schrieb ich einen Brief und vier Postkarten nach der Heimat.

29.11.14. Heute war um 10:30 Uhr Gottesdienst, gehalten mit einer guten Rede von einem Missionar. Die Feier war trotz ihrer Einfachheit sehr ergreifend. Am Abend wurden zwei Chinesen aus Ponape zu uns gebracht, die dort in ärztlicher Behandlung waren und von den Japanern gefangengenommen wurden.4

4.12.14. Herr Dr. Überschär, ein Mitgefangener in unserem Lager, hielt am Abend einen interessanten Vortrag mit dem Thema »Land und Leute Japans«. Am Vormittag des folgenden Tages wurden wir von einem japanischen Arzt geimpft.

7.12.14. Die Buddhistengemeinde von Tokyo hielt heute einen Gottesdienst ab zum Gedenken der bei Tsingtau gefallenen Japaner und Deutschen. Danach erhielt jeder von uns ein kleines Geschenk.

Am 8.12.14 untersuchte uns ein japanischer Militärarzt auf Verletzungen und innere Krankheiten. Mein Gewicht beträgt 19,405 [Kan].5 Von jetzt an gibt es mehr Nachrichten vom heimatlichen Kriegsschauplatze. Unser Oberstleutnant Kuhlo liest uns stets die neuesten Meldungen aus einer englischen Zeitung vor. Trotzdem diese meist stark verlogen waren, konnte man doch zwischen den Zeilen lesen, dass unsere Kameraden dort langsame, aber sichere Fortschritte machen. Wir freuen uns immer sehr, wenn ein Sieg gemeldet wird, hoffen wir doch, bald wieder von hier fortzukommen. Am Abend Fortsetzung des Vortrages »Die japanische Verfassung«.

11.12.14. Nach des Tages ewiger Uhr war am Abend ein Vortrag über die Religion Japans, die Shinto-Religion.

15.12.14. Heute wurde die Küche, die solange von den Japanern geführt wurde, von uns selbst übernommen. Das Essen, das uns unsere Köche zubereiten, mundet uns natürlich besser als die japanischen Speisen, trotzdem dieselben auch nicht zu verachten sind. Um 6 Uhr abends wieder Vortrag »Christentum und Buddhismus in Japan«.

23.12.14. Vorbereitung zum Weihnachtsfest. Wir erhielten buntes Papier und Pappe und verfertigten daraus Ketten und Transparente. Alle taten ihr Bestes, um das Quartier so gut wie möglich auszuputzen.

24.12.14. Meine erste Weihnacht im Ausland, noch dazu als Kriegsgefangener in Japan. Zu unser aller Freude erhielten wir auch einen Weihnachtsbaum, ohne den wir Deutsche uns kein fröhliches Weihnachtsfest vorstellen können. Da es in Süd- und Mitteljapan keine Tannen gibt, hatten auf Anregung des Christlich-Japanischen Jünglingsvereins in Tokyo ein deutscher Gelehrter und sein japanischer Kollege, der in Deutschland seinen Doktorgrad erworben hatte und die beide in Nord-Japan leben, 55 schöne Tannen ausgesucht und an die verschiedenen Gefangenenlager geschickt. Die japanische Eisenbahnverwaltung unterstützte dies, indem sie die kostenlose Beförderung mittels Eilzügen übernahm.
Um sechs Uhr abends, als wir alles fertig ausgeschmückt hatten, begann die Feier. Von unseren in Japan wohnenden Landsleuten wurden reichlich Geschenke gesandt. Ich erhielt ein Paar warme Schuhe, vier Äpfel, Nüsse, ein Paket Pfefferkuchen und eine Schachtel Zigaretten. Für jeden gab es noch ein Los, und es hing vom Glück ab, was jeder gewann. In meinem Gewinn-Paket waren ein Paar Strümpfe und Schreibpapier. Was mich am meisten freute, waren die zwei Yen, die jeder erhielt. Oberstleutnant Kuhlo hielt eine Ansprache, und unser Sängerchor sang einige Lieder. Somit hatte ich ein besseres Weihnachtsfest als erwartet. Jedem von uns war anzusehen, dass er zufrieden war.

Am 25.12.14 war Gottesdienst. Nachmittags und abends waren wir lustig und guter Dinge. Ich hatte mich etwas abgesondert und ließ meine Gedanken zu den Lieben in der Heimat schweifen. Wir hatten Erlaubnis, bis 10 Uhr aufzubleiben.

31.12.14. Nach der üblichen Tagesroutine begann um 6 Uhr abends die Silvesterfeier. Zu Beginn sang der Chor das Lied »Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag«. Oberstleutnant Kuhlo hielt dann einen Vortrag über den jetzigen Krieg. Da wir bis 10 Uhr aufbleiben durften, füllten wir die übrige Zeit mit Singen und Tanzen aus.

1.1.1915. Oberstleutnant Kuhlo begrüßte uns mit einem »Prosit Neujahr, Leute!« und beendete seinen gestrigen Vortrag. Sonst war nichts Neues zu verzeichnen.

7.1.15. Heute war der erste große Schneefall in Tokyo. Es wird jetzt immer kälter, was man hier in den leicht gebauten Häusern sehr empfindlich spürt. Wir haben in unseren Räumen einige Gasöfen, die aber nicht imstande sind, die hohen Räume zu durchwärmen. Abends Vortrag, Thema: »Japanische Erziehung«.

12.1.15. Heute nichts Neues, außer Vortrag über Unterschied zwischen Schule und Kirche in Japan und Deutschland.

14.1.15. Wir erhielten Ansichtskarten, ein Geschenk des japanischen Kindergartens in Asakusa, einem nicht weit von unserem Lager entfernten Stadtteil Tokyos. Auch bekamen wir zu unserer Unterhaltung ein Grammophon.

Am 15.1.15 gab es für jeden 60 Sen, ausgezahlt von den Japanern.

19.1.15. Vortrag, Thema: »Industrie und Textilbranche in Japan«.

23.1.15. Vortrag über japanischen Berg- und Hüttenbau, am 26.1. über die Hausindustrie.

27.1.15. Wir feierten Kaisers Geburtstag. Nach dem Gottesdienst hielt Oberstleutnant Kuhlo eine Ansprache, die mit einem dreifachen Hoch auf den Kaiser endete. Der Chor sang einige Lieder, mit denen die Feier ihren Abschluss fand. Nach dem Abendessen waren wir noch einige Stunden mit unseren Offizieren beisammen. Durch Gesang und Auftritt der Bremer Stadtmusikanten machten wir uns die paar Stunden so angenehm wie möglich. Der japanische Oberleutnant Habu brachte ebenfalls ein Hoch auf unseren Kaiser aus.
Pro Mann bekamen wir heute 30 Sen, eine Flasche Bier und Walnüsse. Von unserm Ingenieur [Diesing] erhielten wir Heizer 30 Sen, einige Zigarren und Zigaretten und ein Stückchen Wurst.

28.1.15. Heute wurde uns bekanntgemacht, dass das Reichsmarineamt für die Gefangenen in Japan 75.000 Mark bewilligt hat. Jeder Mann soll 1,25 Yen pro Monat erhalten.

29.1.15. Heute abend Fortsetzung des Vortrages über die japanische Hausindustrie. Am 2.2. wurden mit den Themen Handel, Armee und Marine die Vorträge über Japan abgeschlossen.

8.2.15. Die ersten Liebesgaben aus Deutschland sind angekommen. Auch erhielten wir Nachricht von unserem Kommandanten [Lüring] aus Tientsien.

Am 15.2.15 bekam ich 50 Sen von einer Spende aus Tientsin. Am 19.2.15 bestellte ich in Nagasaki für mein letztes Geld ein Wappen, um ein Andenken in die Heimat mitnehmen zu können. Am 26.2.15 war der zweite große Schneefall.

1.3.15. Heute zweite Löhnung aus den 75.000 Mark, für jeden 1,20 Yen. Auch kamen Liebesgaben in Gestalt von Zigarren von unseren Landsleuten in Manila. Auf den Mann kamen 19 Stück; ein famoses Kraut.

3.3.15. In aller Stille feierte ich heute meinen 24. Geburtstag. Zufälligerweise hatte ich das Glück, dass dieser Tag auf einen japanischen Feiertag fällt. Am 3.3. eines jeden Jahres feiern sämtliche Mädchen Japans ihren Geburtstag gemeinsam. Für Knaben wird ein solcher Tag am 5.5. gefeiert, bedeutend mehr als der für Mädchen.

7.3.15. Heute, Sonntagvormittag, war Gottesdienst auf dem Hofe vor dem Tempel, abgehalten von einem deutschen Geistlichen aus Yokohama. Er war der erste Deutsche, der während unserer nun schon ein halbes Jahr dauernden Gefangenschaft zu uns kommen durfte. Eine Freude war es uns allen, in einem so fremden Lande nach so langer Zeit einen Landsmann sprechen zu hören, und es war eine schöne und ergreifende Predigt, die er hielt.

Am 10.3.15 traf nach langer Zeit die erste Post aus der Heimat für mich ein. Eine Karte von meinem Cousin, aus der ich ersehen konnte, dass er beim Roten Kreuz ist und in Frankreich im Felde steht.

13.3.15. Wieder starker Schneefall. Am 15.3.15 wurden uns aus Spenden zwei Yen pro Mann ausgezahlt.

19.3.15. Heute erhielt ich von meinem Freunde Bruno von Ellern einen Brief. Er schreibt, dass auch er jetzt zur Front eingezogen ist und in Russland steht. Es freut mich, dass es ihm gutgeht. 20.3.15. Erhielt eine Karte aus Obergörzig.

21.3.15. Freudig überrascht wurde ich durch einen Brief meines Freundes Willy Wendt. Auch er ist zur Reserve eingezogen worden. Seine lieben Zeilen gaben mir zu erkennen, dass es ihm in der letzten Zeit nicht besonders gut ergangen ist und dass er viel Kummer hatte. Zu allem Unglück kamen noch der Tod seiner Mutter und die Krankheit seiner jungen Frau. Armer Willy.

30.3.15. Nach langer Zeit und bangem Warten erhielt ich heute die erste Nachricht von meinen Eltern, und zwar in Gestalt einer Postanweisung über 34 Franken = 13,37 Yen. Das Geld kam über die Schweiz (Bern), dort gestempelt am 15.2.15 und am 29.3.15 in Tokyo. Erstaunt darüber, dass ich von meinen Eltern noch keinen Brief erhalten habe, muss ich annehmen, dass die erste Post aus der Heimat verloren gegangen ist.

Am 1.4.15 habe ich die erste Hälfte meiner Dienstzeit überschritten, und es geht jetzt bergab. Heute, am 100. Geburtstag Bismarcks, wurde auch hier durch eine schlichte Gedenkfeier seiner gedacht. Oberstleutnant Kuhlo hielt einen Vortrag über die ruhmvolle Tätigkeit des Reichskanzlers. Am Nachmittag bekam jeder Mann einen Yen, eine Liebesgabe aus München. Zu meiner Freude erhielt ich am Abend einen Brief aus der Heimat von meinem Freunde Fr. H. Auch wurde mir das Geld, das meine Eltern geschickt haben, ausgezahlt. Nun konnte ich sagen: Es ist ja keine Not, es ist ja alles da.

4.4.15. Ostern! Ostern als Kriegsgefangener in Japan, traurige Ostern! Am ersten Feiertag war vormittags Gottesdienst, gehalten von einem Missionar. Nachmittags veranstaltete der Sängerchor ein Konzert. Was mich am meisten freute und was mich so sehr am unser liebes Osterfest in der Heimat erinnerte, waren die Ostereier, wirklich gefärbte Ostereier, die wir zum Frühstück und zum Abendbrot erhielten, fünf Stück pro Mann.
Der zweite Ostertag verlief wie all die andern Tage, ruhig und ohne irgendwelche Anregung. Wie lange werden wir hier noch bleiben müssen? Werden wir Pfingsten oder sogar noch einmal das Weihnachtsfest hier im Fernen Osten und in dieser Abgeschiedenheit erleben müssen?

9.4.15. Nach einem halben Jahr Anwesenheit in Japan erhielt ich heute den ersten Brief von meinen Eltem. Nach dem lnhalt desselben ist anzunehmen, dass die erste Post nach Japan und umgekehrt verlorengegangen ist. Am Vormittag wurde die Jaguar-Mannschaft von Herrn Leutnant Heimendahl photographiert (Gruppenbild).

10.4.15. Zu meiner Überraschung erhielt ich heute einen Postabschnitt über 11,36 Franken = 4,47 Yen aus der Heimat von Familie Kube. Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Ja, es gibt noch gute Menschen auf der Welt. Hoffentlich komme ich bald in die Lage, mich erkenntlich zu zeigen.

11.4.15. Heute vor einem Jahr starb die Kaiserin-Witwe von Japan. Die japanischen Offiziere unseres Lagers hatten Galauniform angelegt. Wir wurden aufgefordert, uns ruhig zu verhalten. Das Spielen auf Instrumenten und Singen wurde untersagt. Na, auch wir haben dafür gesorgt, dass die Kaiserin-Witwe in ihrem Grabe nicht gestört wurde. Es war ein regnerischer Tag, und wir hatten uns alle unter unsere Decken aufs Ohr gelegt.

14.4.15. Das von mir am 19.2. in Nagasaki bestellte Wappen kam heute an. Habe mich sehr gefreut über die saubere Arbeit und das schöne Aussehen desselben. Es ist ein herrliches Andenken.

16.4.15. Einen schönen Spaß hatte ich heute abend, als ich eine Karte aus Tsingtau erhielt, welche folgenden Inhalt hat: »Sehr geehrter Herr Kaul! Habe mich Ihres Hauses angenommen und an einen japanischen Arzt für 100 Yen pro Monat vermietet. Senden Sie mir bitte eine schriftliche Vollmacht, was ich mit dem Gelde machen soll. Soll ich das Geld aufbewahren oder soll ich es Ihnen zuschicken? Der Polizei-Chef Welzel macht auch Zinsen geltend, die doch auch bezahlt werden müssen. Schreiben Sie mir bitte Bescheid, was ich machen soll. Ihr Ferring6

17.4.15. Heute wurde ich in der Gefangenschaft zum dritten Mal gewogen. Mein Gewicht beträgt 19,04.

18.4.15. Heute hatte ich Gelegenheit, die Pracht japanischer Blumen zu bewundern. Diese und auch andere Gewächse waren im großen Buddha-Tempel ausgestellt, und die Japaner, von unserer Vorliebe für Blumen wohlunterrichtet, luden uns ein, die Ausstellung anzusehen. Auch erhielten wir auf Veranlassung von Herrn Oberstleutnant Saigo mehrere Blumentöpfe.

24.4.15. Jeder von uns erhielt heute aus einer Spende von Siemens in New York 1,25 Yen.

29.4.15. Von einem japanischen Stabsarzt wurden heute unsere Augen untersucht. Auch erhielt ich einen Brief von meinen Eltern.

1.5.15. Wegen eines geringfügigen Leidens musste ich mich heute ins Revier begeben. Der Arzt stellte Hämorrhoiden fest. Am 5.5.15 Löhnung von 1,25 Yen.

9.5.15. Heute, Sonntag, war Gottesdienst, gehalten von Herrn Pastor Schröder aus Yokohama. Leider konnte ich nicht daran teilnehmen, weil ich im Revier bleiben muss.

12.5.15. Wurde aus dem Revier als geheilt entlassen.

14.5.15. Abends neuer Vortrag von Dr. Überschär, Thema: Allgemeines und Einleitung zum Deutschen Staat.

17.5.15. Wir erhielten jeder 1,50 Yen aus einer Sammlung unserer Landsleute in München. 21.5.15. Vortrag: Das römische Kaiserreich, Verfall und Wiedererneuerung.

23.5.15. Heute, am 1. Pfingstfeiertag, war Gottesdienst, gehalten von einem Missionar. Am Abend waren wir mit unseren Offizieren zusammen. Alle hatten ihr Bestes getan, uns einige fröhliche Stunden zu bereiten. Gesänge des Chors wechselten mit Freiübungen der Turnergruppe und deren Pyramiden mit den Kraftleistungen einiger starker Männer vom Jaguar ab. Ein echter Berliner Junge sorgte für den nötigen Humor, so daß man aus dem Lachen nicht herauskam.
Der zweite Feiertag verlief bedeutend ruhiger. Am Nachmittag war Gesang und Tanz. So hat man nun auch diese Feiertage im Auslande verleben müssen. Hoffentlich ist der Tag unserer Freilassung nicht mehr allzu fern.

28.5.15. Am Abend folgte die Fortsetzung des Vortrags über den 1. Artikel der deutschen Verfassung.

29.5.15. Heute erhielt ich einen Brief von Bertha, in dem sie mir mitteilte, dass Richard jetzt auch in Russland steht. Am 30.5.15 ein Brief von meinen Eltern.

Am 31.5.15 Löhnung und Geld aus einer Sammlung von Siemens und dem Reichsmarineamt. 1,20 Yen pro Mann.

4.6.15. Zu meiner großen Überraschung erhielt ich heute einen Brief von Frl. Leibner. Am Abend Vortrag, Thema: »Unterschied zwischen dem englischen und dem deutschen Staatsbegriff«.

6.6.15. Sonntag. Gottesdienst, gehalten von Herrn Pastor Schröder aus Yokohama. 11.6.15. Am Abend Vortrag, Thema: »Macht des Regenten und Majestätsrechte«. Sonst nichts Neues.

14.6.15. Große Freude bereiteten mir heute die Geschenke, die von unseren Landsleuten aus Manila hier eintrafen. Es waren Zigarren, ein famoses Kraut. Jeder Mann erhielt 20 Stück. Ich habe dafür einen Dankbrief an den Vorsitzenden des Deutschen Flottenvereins gesandt, der in Manila seinen Sitz hat. Einer der beiden japanischen Oberleutnants, die bei uns im Lager sind, kehrte heute zu seinem Regiment zurück und wurde durch einen anderen ersetzt.

15.6.15. Heute war Löhnung, 1,50 Yen pro Mann.

18.6.15. Heute wurde gemeldet, dass ein deutsches Unterseeboot einen japanischen Kreuzer torpediert hat.7 Am Nachmittag war wieder ärztliche Untersuchung, mein Gewicht diesmal 18,18. Ich habe somit während meines Aufenthaltes in Japan neun Pfund abgenommen. Am Abend wurden aus Shanghai hier eingetroffene Liebesgaben verteilt, bestimmt für die Besatzung des Jaguar. Jeder erhielt ein Hemd, drei Taschentücher, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe und die Raucher eine Shagpfeife. Abends Vortrag: »Majestätsrechte, Erbfolge und Landtag«.

25.6.15. Wieder kam Geld für uns von Siemens New York und vom Reichsmarineamt; jeder erhielt 1,20 Yen.

7.7.15. Erhielt einen Brief von meinen Eltern. Keine besonderen Neuigkeiten. 14.7.15. Heute erhielt ich den ersten Brief von meinem Cousin Heinrich, aus dem ich ersehen konnte, dass auch von ihm Post an mich verloren gegangen ist.

15.7.15. Am Nachmittag Bekanntmachung durch Oberstleutnant Saigo betreffs künstlicher Glieder und Augen.8

18.7.15. Wegen der großen Floh- und Moskitoplage, die hier während der heißen Jahreszeit herrscht, war heute im Lager eine intensive Reinigung.

19.7.15. Heute erhielt ich eine Karte von einem Kameraden von SMS Cormoran aus Guam, USA, wo er interniert ist.

24.7.15. Heute Löhnung, 1,20 Yen.

1.8.15. Mit dem heutigen Tage ist ein Jahr verflossen, seit Deutschland mit seinen Feinden im Kriege steht. Die Meldung, dass Warschau eingenommen wurde, hat in unserem Lager große Freude ausgelöst und wurde gebührend gefeiert.

10.8.15. Gegen sieben Uhr am Morgen war hier eine Sonnenfinsternis zu sehen. Am 11.8.15 wieder ein Brief von meinen Eltern und am 16.8. ärztliche Untersuchung. Gewicht: 18,30.

21.8.15. Endlich nach langem Warten erhielt ich heute ein Paket, das bereits am 12.4. in Neukölln abgeschickt war. Sämtliche Sachen waren gut erhalten und werden mir hoffentlich gut munden.

26.8.15. Ein sehr interessanter technischer Vortrag unseres Oberingenieurs über die Dieselmaschine wurde heute begonnen. Der Vortrag war anfangs nur für Unteroffiziere bestimmt, doch konnten dann auch Mannschaften, die in der Praxis schon mit Maschinen gearbeitet haben, dabei sein.

3.9.15. Heute wurde bekanntgegeben, dass wir am 6.9. in ein neues Lager übersiedeln. Daraufhin großes Packen unserer wenigen Habseligkeiten.

4.9.15. Während des ganzen Tages Klarmachen zum Umzug.

6.9.15. Verladen des Gepäcks.

7.9.15. Früh am Morgen um 2:30 Uhr war Wecken. In aller Ruhe machte ich Toilette, denn nach der uns bekannten japanischen Umständlichkeit war an einen Abmarsch noch nicht zu denken. Endlich um 4:20 Uhr war Antreten auf dem kleinen Hof vor dem Tempel, dann Abmarsch zum Bahnhof, eine Strecke von etwa einer halben Stunde. Wegen der frühen Morgenstunde und der Geheimhaltung unserer Abfahrt wurden wir auf den Straßen nicht behelligt. Trotzdem musste es einigen Photographen bekannt gewesen sein, denn vor und auf dem Bahnhof wurden wir verschiedentlich photographiert.
Nach Einteilung auf die Wagen und Einsteigen war kurz darauf Abfahrt. Da wir uns um die Beförderung unseres Gepäcks nicht zu kümmern brauchten, hatte ich nur zwei große Blumentöpfe bei mir, die mir Oberstleutnant Kuhlo geschenkt hatte und die ich nun notgedrungen mitnehmen musste. Ebenso die Kaninchen und unsere Luftflotte9 wurden mitgenommen. Einige Kameraden teilten sich diese Arbeit mit mir.
Die Eisenbahnfahrt dauerte eine Stunde. Ich fühlte mich ordentlich frei, wieder einmal ein größeres Stück Himmel zu sehen. Die Fahrt ging vorbei an Reis- und Lotusblumenfeldern, Dörfern und kleinen Ortschaften. Von einer Stelle aus konnte ich sogar ein Stück vom Meer sehen, und so wurde der Wunsch nach Freiheit immer größer. Von Kinshi-cho, wo wir abfuhren, ging die Fahrt über Kameida, Hirai, Koiwa, Funabashi nach Tsudanuma, unserer Endstation.
Vor dem Stationsgebäude des kleinen Ortes, es war früh um 6:30 Uhr, Antreten und Marsch zum neuen Lager, auf anfangs guten, dann fast grundlosen Wegen. Es gab Erlaubnis zum Singen, wovon wir auch gleich Gebrauch machten, und mit Gesang ging es durch einige Dörfer, deren Bewohner neugierig an der Straße standen, waren sie es doch wohl nicht gewohnt, dass Soldaten singen, denn beim japanischen Militär gibt es so was nicht.
 

Anmerkungen

1. Wie viele Chinesen bei den Kämpfen ums Leben kamen, wurde nie ermittelt.

2. [Fußnote Hans Zabel:] Vergleichbar dem deutschen »Hurrä«; wörtlich: 10.000 Jahre sollst du leben!

3. Saigo hatte in den 1880er Jahren einen Teil der Offiziersausbildung in Deutschland absolviert.

4. Zu diesen Personen ist nichts weiter bekannt.

5. [Fußnote Hans Zabel:] Japanische Gewichtseinheit, auf Kilogramm umzurechnen mit Faktor 3,75. [Ergänzung: 1 Kan = 1.000 Momme.]

6. Vermutlich war der Brief des Dolmetschers Ferring für den im Lager Osaka gefangenen Hans Kaul gedacht.

7. Nähere Angaben hierzu fehlen.

8. Dieser Erlass der japanischen Kaiserin wurde in allen Lagern bekanntgemacht; es ist nicht bekannt, ob Gefangene das Angebot angenommen haben.

9. [Fußnote Hans Zabel:] Luftflotte: vermutlich Ziervögel.
 

© Sigrid Zabel; für diese Ausgabe auch: Hans-Joachim Schmidt.
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