Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Kriegszeit in Tsingtau und Gefangenschaft in Japan

von Hermann Schäfer
 

Hermann Schäfer aus Marburg arbeitete bei Beginn des Krieges bei einer deutschen Handelsgesellschaft in Japan und eilte Anfang August 1914 »zur Fahne«. Den folgenden Auszug aus dem von ihm verfaßten Bericht hat seine Tochter Renate Bergner dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, die Rechtschreibung wurde maßvoll angepasst. Der Redakteur hat Hinweise in [] oder Fußnoten eingefügt sowie, zugunsten der Übersichtlichkeit, einige Zwischenüberschriften.
 

Übersicht:

  1. Tsingtau
  2. Matsuyama
  3. Bando
  4. Heimreise

 1. Tsingtau

Das sorglose, unbeschwerte Junggesellenleben fand im August 1914 mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges ein jähes Ende. [...]

Meine damaligen Messkameraden, Leo König und Willi Hastedt, hatten als Ersatzreservisten einen Stellungsbefehl für Tsingtau, während ich als »Landsturm ohne Waffe« ausgemustert war. Der Landsturm wurde im Fernen Osten nicht aufgerufen. Aber allein mochte ich nicht in Yokohama bleiben, und so entschloß ich mich, mitzufahren und mich in Tsingtau als Freiwilliger zu melden. Ich war ja noch soo jung, eben 27, man wollte doch etwas erleben, auch schwebte uns vor, der Krieg werde gewiß nur einige Monate dauern, und ob die Engländer oder Russen – nur an sie dachten wir – jemals die Feste Tsingtau anzugreifen wagen würden, schien uns recht fraglich. Unsere Fahrt sollte möglichst unauffällig vor sich gehen, und so fuhren wir per Bahn über Kobe-Moji-Mukden bis Tientsin, das wir nach acht Tagen erreichten. Dort konnten wir in der deutschen Pionierkaserne übernachten, denn vom Boxer-Aufstand her lagen in Tientsin zum Schutz der Deutschen Gesandtschaft im nahen Peking einige Pionier-Kompanien1, die inzwischen nach Tsingtau verlegt worden waren. Am nächsten Tag fuhren wir weiter in das deutsche Schutzgebiet Kiautschou zum Hafen und zur Festung Tsingtau und wurden prompt in Khaki-Uniformen eingekleidet und in die 6. Kompanie des III. Seebataillons gesteckt. Quartier bekamen wir in der unteren Bismarck-Kaserne.

Die Kasernen sahen äußerlich sehr schmuck aus; das Europäer-Viertel von Tsingtau mit dem großen Gouverneursgebäude wirkte wie eine schöne, saubere deutsche Kleinstadt. Es war ein von den Europäern Ostasiens sehr geschätzter Badeort. Weniger schön war unser Quartier, da die Kasernen stark verschmutzt und die Stuben selbst und ganz besonders die Matratzen voller Wanzen waren. Auf unsere Beschwerde hin meinte unser Kompanieführer, Oberleutnant Buttersack, die Tierchen hätten wir »Kaffeesäcke« aus Japan mitgebracht. Im übrigen ging die Bimserei, wie beim preußischen Kommiß damals üblich, gleich am ersten Tag los: Auf dem Kasernenhof wurden wir regelrecht gedrillt, es wurde Gleichschritt, Ausschwärmen und Verhalten im Gelände geübt, wir wurden mit dem Gewehr, unserer »Braut«, vertraut gemacht, es wurde mit Platzpatronen geschossen, und als es dann einige Tage später hieß, nicht mit den erwarteten Engländern oder Russen sei zu rechnen, vielmehr habe die japanische Regierung ein bis zum 23. August befristetes Ultimatum geschickt, da wussten wir, daß es ernst werden würde.

Unsere 6. Kompanie wurde auf dem rechten Flügel der gut 5 km breiten Front zwischen Infanteriewerk 5 und dem Meer eingesetzt, neben dem Dorf Tschanschan. In der Ravine, dem trockenen Flusslauf in der Nähe des Dorfes, wurde von uns ein Unterstand, der die 180 Mann starke Kompanie aufnehmen sollte, eingebaut. Diese unsere »Kaserne« erhielt Tarnung und Schutz gegen leichteren feindlichen Artilleriebeschuß durch eine Zementdecke in etwa 90 cm Stärke. Jeden Abend nach Dunkelwerden rückte die Kompanie mit dem Gesang »Soll ich dir mein Liebchen nennen, Rosa heißt das schöne Kind, willst du sie noch näher kennen...« und »Ich hatt' einen Kameraden« mit dem Refrain »Und die Vögelein im Walde« hinaus nach Tschanschan neben dem chinesischen Dorf Fushanhou, und vier bis fünf Stunden lang karrten wir fleißig viele hundert Fuhren Zement auf das Dach unserer »Kaserne«, das mit mehr als 500 Tonnen Zement auf 24 Trägern ruhte. Die Kaserne bestand aus einem Offiziersraum und drei Mannschaftsräumen, in denen wir auf Strohsäcken und in Hängematten ausruhen konnten. Von der Ravine führten Laufgräben bis nahe an die knapp zwei Meter hohe sogenannte Weiße Mauer, die etwa 240 Meter entfernt war. Jenseits der Weißen Mauer war das Vorgelände, an unserem Frontabschnitt der sogenannte »Kugelfang«, der von einem Beobachtungsposten unserer Kompanie besetzt war. Dieser wurde am 2. November zurückgezogen, nachdem wir von einigen Volltreffern getroffen waren, wobei wir einen Toten und je zwei Schwer- und Leicht-Verwundete zu beklagen hatten. Auf schmalen Brettern trugen wir sie am Strand entlang unter ständigem Schrapnellbeschuß zu unserer Hauptstellung zurück.

Ende Oktober hatten die Japaner ihre schwere Artillerie in Stellung gebracht, und es begann vom Land und von der Seeseite aus allen Rohren die konzentrierte Beschießung von Tsingtau. Das Artillerieduell über unsere Köpfe hinweg war für uns bei den sternklaren Nächten ein grandioses Schauspiel. – In den frühen Morgenstunden des 7. November brachen die Japaner bei Infanteriewerk 2 und 3 durch und nahmen die Festung Tsingtau im Sturm. Unsere Verteidigungslinie war so dünn besetzt, daß unsere Gesamtverluste nur 100 Tote und 600 Verwundete betrugen, während man bei den Japanern von 1800 Toten und mehreren tausend Verwundeten sprach.2 – Übrigens war noch in der letzten Nacht eine Freiwilligen-Patrouille unter Unteroffizier Arps mit Rudolf, Steinfeld und mir – entgegen dem Befehl von oben – an der Weißen Mauer gewesen. Wir hörten die Stimmen der Japaner, die bis auf wenige 10 Meter ihre Laufgräben vorgezogen hatten, aber dann gerieten wir ins Scheinwerferlicht von Infanteriewerk 5. Man mußte uns für Japaner halten, und so kamen wir ins Kreuzfeuer von Infanteriewerk 5 und von unserer Batterie auf Huitschuenhuk. Auf dem Boden kriechend zogen wir uns durch das Drahtverhau zurück, und wie durch ein Wunder kamen wir heil davon. – Als die weiße Flagge über Tsingtau wehte und alle Geschütze schwiegen, kamen uns die Tränen. Wir mussten auf der Straße beim Dorf Fushanhou antreten, wo uns ein japanischer General eine Ansprache hielt, uns bezeugte, daß wir uns tapfer geschlagen hätten, und nun seien wir »Gäste des japanischen Kaisers«.
 

 2. Matsuyama

So wanderten wir in die Kriegsgefangenschaft, noch an den Sieg der deutschen Waffen glaubend, zumal die Japaner Gerüchte von großen Siegen an der Westfront verbreitet hatten, gewiß in der Absicht, uns einzulullen, so daß niemand an Flucht – die noch möglich war – dachte und wir von einem Weihnachten zu Hause träumten. Es wurden sechs Weihnachten, die wir hinterm Stacheldraht verbringen sollten. Die ersten Tage und Nächte verbrachten wir, nur wenige Kilometer von unseren Stellungen entfernt, in der Nähe eines chinesischen Dorfes. Nachts im Freien war es bitter kalt, aber nach einigen Tagen gingen wir an Bord eines kleinen japanischen Dampfers, der uns durch die Inlandsee nach Takahama an der Nordküste von Shikoku brachte. Von japanischen Wachen eskortiert hieß uns unser künftiger Lagerkommandant Oberstleutnant Maekawa nochmals im Namen des Tennosama als dessen Gäste auf Japans Boden willkommen. Da wir des Kaisers Gäste waren, wurde jeder Fluchtversuch streng bestraft. Ein jeder musste nun seinen Namen selbst in eine Liste eintragen, jedoch ein großes Schild besagte: »Wer seinen Namen nicht selbst schreiben kann, soll ihn durch einen Kameraden schreiben lassen.« Und dann marschierte die lange Kolonne nach dem nur einige Kilometer landeinwärts gelegenen Matsuyama, einer Stadt mittlerer Größe, gekrönt von einem alten Daimyo-Schloß. Unser Gefangenenlager, das am Rande der Stadt lag, war das Kokaido, das ehemalige japanische Rathaus. Der Fußboden war mit Tatamis belegt, im übrigen war es von Ratten bevölkert. In den ersten Wochen fingen wir einige hundert dieser grässlichen Tiere, vor denen nichts sicher war. Im oberen Stockwerk waren drei Räume für je 40 Mann, im Erdgeschoß lagen die restlichen 60 Leute einschließlich 20 Feldwebel.

Auf dem Hof stand eine Bretterbude mit 10 japanischen Holzbadewannen, und gleich am ersten Tag sollten wir ein heißes Bad nehmen, da wir ja seit 10 Tagen nicht aus unseren Klamotten gekommen waren. Das Baden ging genau nach Rang und Würde vor sich: zuerst die Herren Feldwebel, dann die Unteroffiziere und schließlich wir Seesoldaten. Aber da die Herren Vorgesetzten sich in der Wanne wuschen und einseiften, statt sich nach japanischer Sitte zuvor zu reinigen und abzuspülen, so kann man sich die Brühe gut vorstellen, die für uns simple Soldaten übrigblieb. Auf dem Hof stellten wir uns ein Turnreck, einen Barren und andere Geräte auf, und unsere erste Turnriege – wir waren 14 Mann stark – brachte es im Laufe des ersten Jahres zu recht beachtlichen Leistungen, so daß wir im Herbst 1915 ein Schauturnen vor den deutschen und japanischen Offizieren veranstalten konnten und viel Beifall fanden.

An dem langen Ausgang zur Stadt hin bauten wir uns eine Kegelbahn, für die uns der Deutsche Club in Kobe die Kugeln stiftete. Zu Spaziergängen bzw. kleinen Wanderungen wurden wir wöchentlich einmal nachmittags ausgeführt, aber das Spießrutenlaufen durch die uns angaffende Bevölkerung machte wenig Spaß. Man machte sich in der Hauptsache Bewegung im Freien, indem man die das Grundstück einzäunende, mit Stacheldraht gesicherte Hecke entlang um einen Teich herum einige Dutzend Mal lief. Im übrigen las man viel und lernte Sprachen. Unter Kurt Meißners Anleitung, der bereits seit 8 Jahren in Japan, Tokyo, lebte, erarbeiteten wir uns regelrecht eine japanische Grammatik. Aber auch für das Erlernen aller anderen Fremdsprachen, vor allem des Chinesischen, aber auch des Indonesischen, Malayischen, bot sich gute Gelegenheit; denn es fanden sich im Lager genügend Sprachkundige aus den verschiedenen Ländern des Fernen Ostens. Unsere Kompanie umfasste ja nicht nur sehr verschiedene Altersstufen, nämlich von 19 bis 35 Jahren, sondern auch Leute aus allen möglichen Berufen, wobei die Kaufleute natürlich überwogen. Da waren vor allem Lehrer und Ingenieure, die an chinesischen und japanischen Schulen und in der Industrie tätig waren, Missionare aus Korea und dem Inneren Chinas, Globetrotter, die sich auf einer Weltreise befanden und draußen vom Krieg überrascht worden waren. Unsere japanischen Offiziere waren: Oberstleutnant Maekawa, Hauptmann Shiraishi, Oberleutnant Hongu, Zahlmeister Hayashi.

Im Frühjahr wurde den Leuten, die dank ihrer japanischen Sprachkenntnisse im Centralbüro in Dairinji beim Sortieren der hereinkommenden Gefangenenpost, bei der Paket- und Postausgabe,sowie der Geld- und Wertbriefe mit gearbeitet hatten, ein Dolmetscherzimmer zugeteilt. Es war nur einige Matten groß, aber man konnte mehr für sich sein, für sich lesen und arbeiten, auch abends mal eine Stunde länger aufbleiben. Der Raum lag zu ebener Erde und gehörte den 4 »nichigots«, Dolmetschern: Meißner, Baerwald, Steinfeld und mir, und als fünften nahmen wir einen jungen, etwas verträumten Berliner, Hans Eggebrecht, auf, der uns damals oft mit seinen patriotischen Gedichten, auch kleinen Liebesliedern, die er zur Laute vortrug, erfreute. Auch vereinigte uns im Dolmetscherzimmer allwöchentlich ein Vortragsabend; meist waren es geschichtliche Themen. Die nötige Literatur besorgte man sich vom Deutschen Club in Kobe und Yokohama, ja selbst aus Deutschland konnten wir uns Bücher und anderen Lesestoff, übrigens auch Geld, kommen lassen. Außer der Löhnung, die für uns Seesoldaten 20 Reichsmark pro Monat betrug, schickten uns unsere Firmen anfangs 200 Reichsmark; als der Krieg sich in die Länge zog, nur noch die Hälfte, aber selbst noch im letzten Jahr 50 Reichsmark als sehr willkommene Unterstützung. So ging es uns finanziell recht gut; wir waren auf die bescheidene Kriegsgefangenenkost nicht angewiesen, konnten uns in der Lagerkantine, die ein japanischer Händler unterhielt, vieles besorgen lassen, ja wir bestellten sogar für unser Dolmetscherzimmer Wurstpakete bei den deutschen Trappisten in Hokkaido, wo die Mönche einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb aufgebaut hatten. Besonders geschätzt wurde von uns deren delikater Lackschinken, den auch unser jüdischer Zimmergenosse Ernst Baerwald als »Lachsschinken« – also vom Lachs stammend – ohne Gewissensbisse mit Appetit verzehrte.

Unser Lager war nach der Stadt zu von einer Mauer abgegrenzt, die von dahinter liegenden japanischen Häusern überragt wurde. Von dort winkten stets sehr freundlich und einladend junge Japanerinnen. Die Mittagsruhe benutzte ein Seesoldat zu einem Besuch in das benachbarte japanische Haus – ich weiß nicht mehr, welche Aufnahme er dort fand –, aber als er auf seinem Rückweg wieder über die Mauer klettern und ins Lager zurückkehren wollte, stand ausgerechnet an der Stelle der wachthabende japanische Posten vor ihm. Kurz entschlossen sprang er direkt auf den völlig verdutzten Soldaten, so daß dieser hinfiel, und ehe sich der Japaner von seinem Schrecken erholt und vor Betreten unseres Hauses nach Vorschrift das Seitengewehr aufgepflanzt hatte, war unser Kamerad verschwunden. Auf die Meldung des Postens hin kam Hauptmann Shiraishi prompt von Dairinji in unser Lager, und die Kompanie musste auf dem freien Platz antreten. Die Aufforderung, der Ausbrecher solle sich melden, blieb unbeantwortet, und so standen wir in Reih und Glied angetreten volle fünf Stunden in der glühenden Sonne. Am folgenden Tag mussten wir wieder frühmorgens antreten. Nach einigen Stunden weiteren Wartens sagte Hauptmann Shiraishi der Kompanie Straflosigkeit zu, auch würde er sich dafür einsetzen, daß der Betreffende mit einer gelinden Strafe davonkäme. Darauf meldete sich der Mann und er wurde abgeführt. Oberstleutnant Maekawa hielt sich aber nicht an das von seinem Hauptmann gegebene Wort: Die Kompanie erhielt zur Strafe zwei Monate lang Ausgangssperre, keine Post, durfte nicht schreiben, auch die Kantine wurde geschlossen. Und der Gefangene, der ausgebrochen war, wurde mit drei Monate schwerem Kerker bestraft.
 

 
3. Bando

Im Frühjahr 1917 wurde unsere Kompanie in das Barackenlager Bando in der Provinz Tokushima verlegt. Von den japanischen Offizieren begleitete uns der von uns sehr geschätzte, sympathische Oberleutnant Hongu dorthin. Bando war ein neu erbautes Barackenlager für 1000 Mann nebst einer Offiziers- und Kranken-Baracke. Oberhalb dieser beiden Baracken fand sich ein Teich, gedacht für die Bewässerung der Reisfelder, aber von uns wurde diese Anlage für unsere Freilichtbühne benutzt. In dieses größere Lager war noch K 7, die andere Reservekompanie, verlegt worden, ferner M.A., Matrosenartillerie, und andere Spezialeinheiten. Außerhalb des Lagers konnten wir uns brachliegendes Land sehr billig pachten, das von uns urbar gemacht wurde. Außer für Gemüsegärten und Federviehställen diente uns das Pachtland zur Anlage je eines Fußball- und Hockey-Platzes sowie von drei Tennisplätzen, die unter Anleitung eines Festungsbaumeisters [Deutschmann] mit großer Sachkunde und sehr guter Drainage von allen interessierten Sportlern in freiwilliger, wochenlanger Arbeit angelegt wurden.

Viele hundert Kisten Sand und Erde wurden von uns herbeigeschleppt, Steine aufgelesen und zu einem Wall aufgeschichtet, so daß eine herrliche Zuschauertribüne zwischen Fußball- und Hockey-Platz entstand. Außer für Tennis interessierte ich mich vor allem für Hockey. Zwei ehemalige Hamburger Spieler, Abbi Cortum, Uhlenhorst, und Gerhard Schultz, Harvestehude, waren unsere Lehrmeister und erste Mannschaftsführer. Am Anfang wurde Tag für Tag mehrere Stunden lang trainiert, so weit Hände und Schienbeine es aushielten – noch nach Jahrzehnten hatte ich ehrenvolle Narben –, jedoch brachten wir es bald zu einer beachtlichen Stock-Technik. Die Wettkämpfe zwischen den beiden Mannschaften waren erbittert und endeten meist unentschieden bzw. mit mehreren Verlängerungen, bis wir durch ein Signal ins Lager zurückgerufen wurden. Ich spielte in Cortums Mannschaft meist als Mittelläufer; im Sturm war der blonde Helgoländer Friedel Brandt, damals 21 Jahre alt, unsere Hauptstütze.

Aber auch das geistige Leben wurde nicht vernachlässigt. Eine Baracke war nur für Vorträge, Konzert-Abende und Theater-Aufführungen reserviert. Jede Kompanie hatte ihre eigene Theatergruppe. Ein erster Versuch war von uns schon in Matsuyama mit einem von Dr. Bohner geschriebenen Stück gemacht worden, aber Oberstleutnant Maekawa verbot jedes Theaterspielen. In Bando dagegen war die Lagerleitung günstig dazu eingestellt, und so fand sich unter Leitung von Hans Pietzcker, Bubi Blomberg (Deutsch-Russe) und anderen mehr ein kleiner interessierter Kreis zusammen. In einer kleinen Bude wurden Kulissen entworfen und gemalt, Kostüme geschneidert, kurzum eine regelrechte Schneiderwerkstatt entstand. Die K 6 kam mit »Minna von Barnhelm« als erstem Stück heraus. Wir hatten eine glänzende Minna und eine allerliebste Franziska, letztere gespielt von einem sehr talentierten lütten Sachsen, Lätzsch, und eine zu Tränen rührende Witwe; die kleine Rolle wurde mir zugeteilt. Der Zuspruch war so stark, daß wir die Aufführung bei vollem Haus zweimal wiederholen mussten. Auch die anderen Stücke unserer Gruppe, wie »Sherlock Holmes, Calderons »Das Leben ein Traum« und vor allem »Die Räuber« auf einer Freilichtbühne, als die sich die Teichlandschaft oberhalb der Offiziersbaracke anbot, fanden guten Anklang. Mit einem Floß wurde der Szenenwechsel durchgeführt. Die Zuschauer saßen am gegenüber liegenden Ufer des Teichs an einem Hang, die Akustik war glänzend.

Nach der bösen Grippewelle, die im Sommer 1917 in Deutschland viele junge Leben, besonders Mädchen, dahinraffte und im Herbst 1918 auch nach Japan kam – wir hatten 700 Grippekranke, keinen Arzt3, keine Medizin – und immer noch keine Aussicht auf Heimkehr – war das Stimmungsbarometer auf einen Nullpunkt gesunken. Da sammelte Pietzcker seine Mitarbeiter um sich und brachte Szenen aus »Egmont« auf die Bühne, womit die im Lager herrschende Lethargie bekämpft werden sollte, aber auch ein letzter großer Theatererfolg wurde erzielt. Die guten Besprechungen in der »Baracke« beweisen es. Die monatlich erscheinende »Baracke« wurde in unserer Lagerdruckerei hergestellt. Sie brachte neben Artikeln über das Zeitgeschehen auch recht gute Beiträge aus der Feder der Lagerinsassen, die aus den verschiedenen Berufen und Ländern des Fernen Ostens kamen und zum Teil über größeres Wissen und langjährige persönliche Erfahrungen verfügten.

Über unsere Unterkunft wäre nur kurz zu berichten: Die Baracken standen auf ebener Erde; mitten hindurch führte ein breiter Gang von festgestampftem Boden. Nach beiden Seiten lagen die Kriegsgefangenen auf je 90 cm Breite und 1,80 m Tiefe. Steinfeld, Meißner und ich blieben zusammen, und so schufen wir uns einen Raum von 3 mal 90 cm, also 2,70 m, und 1,80 m Tiefe. Durch ein mit Papier beklebtes Lattengestell schirmten wir unseren Raum gegen die Nachbarn ab, hängten eine Lagerstätte, die über Strickleiter zu erreichen war, an die Decke; die beiden Kojen auf der anderen Seite waren wo angeordnet, daß die untere Koje hochgeklappt werden konnte; auf diese Weise entstand eine Sitzbank. So hatten wir sogar Platz für einen kleinen Tisch und zwei Hocker. Man hatte das Gefühl, einen regelrechten kleinen Wohnraum zu besitzen. Frühmorgens kam als neueste Zeitung die »Osaka Shimbun« ins Lager, deren Kriegsberichte von sämtlichen Fronten von Meißner übersetzt und an die nahe Lagerdruckerei gegeben wurden. So konnten wir die Frontmeldungen am schwarzen Brett früher lesen als die Brüder in der Heimat.

Von der oben erwähnten Spanischen Grippe wurde ich persönlich sehr hart betroffen, da ich wohl zu lange als Krankenpfleger geholfen und auch zu früh wieder aufgestanden war. Die Folge war, daß ich zusammen mit drei anderen Schwerkranken im Lazarett separat gelegt und gepflegt wurde, wobei sich Hans Pietzcker durch unermüdliche Wachen besonders um mich kümmerte und mich auch durchbrachte, während die anderen drei Kameraden es nicht schafften.

Das Brennholz für die Lagerküchen fällten wir uns selbst. Ein entlegenes Waldstück wurde günstig gekauft, und von einem freiwilligen Holzfällertrupp, der allmorgendlich hinauszog, wurden die Bäume gefällt und zersägt. Eine Tages marschierten einige 100 Mann hinaus, und bildeten eine lange Kette, über die das gefällte Holz bis zur Fahrstraße geschaukelt wurde, von wo wir es mit Handkarren abfahren konnten. Das Lagerkommando gestattete im letzten Jahr auch öfters Wanderungen über die Berge zum Strand des freien großen Ozeans, wo ein breiter Strand zum Ballspielen, zu Sonnenbad und zum Schwimmen im Meer herrliche Gelegenheit bot.

Eines Tages mieteten wir uns dort ein japanisches Fischerboot und der des Segelns kundige Freund Pietzcker steuerte das Boot weit in die offene See hinaus. Als wir zur Rückkehr wendeten, wurden wir sehr gegen unseren Willen in die Kii-Straße zur Naruto-Enge hin abgetrieben. Pietzcker brachte das Boot nahe ans Ufer, wo Arps und ich – wir allein waren mitgesegelt – Boden unter den Füßen hatten. Mit aller Kraft versuchten wir, den Kahn in die offene See zurückzubringen. Nach langem Bemühen mussten wir aber zu unserem Erstaunen feststellen, daß wir langsam aber sicher weiter zur Naruto-Enge abgetrieben wurden; der Sog von der Inlandsee her war zu stark. Auf unser Rufen hin kam ein vorübersegelndes Fischerboot längsseits, einer der Fischer setzte über und brachte uns in ganz kurzer Zeit in eine Gegenströmung, so daß wir zurücksegeln und an Land gehen konnten. Im Dauerlauf legten wir die 6 km zum Lager zurück und kamen gerade noch vor Toresschluß im Lager an.

Von einer besonders schönen Tageswanderung im letzten Herbst wäre noch kurz zu berichten. Gegen 5 Uhr morgens starteten einige Dutzend Frühaufsteher mit nur einem japanischen Posten als Begleitung zu einem Tempel, der von einer Bergkuppe überragt war. Wir erklommen noch rechtzeitig die Spitze und sahen die Sonnenkugel glutrot aus dem stillen großen Ozean emporsteigen. Pietzcker und ich hatten uns einen Sonderausausweis verschafft, den wir uns durch wochenlange Krankenpflege im Militärlazarett Tokushima verdient hatten. Wir wanderten von Höhe zu Höhe, berührten nur selten eine Ortschaft, stießen auf einsame Köhlerhütten und hatten uns schließlich so verlaufen, daß wir nach mehr als 12-stündiger Wanderung mit wunden Füßen und nur mit großer Mühe uns ins Lager zurückschleppten.
 

 
4. Heimreise

Unser sechstes Weihnachten hinter Stacheldraht stand ganz im Zeichen des Aufbruchs und des Abschiednehmens. Die Mehrzahl fuhr am 2. Weihnachtstag nach Kobe, wo sie entlassen, von der deutschen Abnahme-Kommission übernommen wurde und an Bord der Hofuku Maru ging; einige blieben auch im Fernen Osten. Ich selbst hatte mich für eine vorläufige Rückkehr nach Yokohama gemeldet, was sich indessen zerschlug, und darum erfolgte meine Entlassung erst am 27.Januar 1920 in Kobe. In endloser Fahrt fuhren wir mit der Hudson Maru, einem umgebauten alten Frachter, über Shanghai-Sabang-Port Said, mit 700 Mann an Bord, heimwärts. Nur selten brachte es dieser Seelenverkäufer auf 8 bis 10 Knoten. Ein Lichtblick waren nur die zwei Tage in Sabang, wo Kohlen geladen wurden. Die Kohlen wurden von Kulifrauen auf dem Kopf in endloser Kette zum Schiff hinaufgetragen. Wir machten währenddessen einen herrlichen Ausflug quer durch diese kleine tropische Insel, die mit großen Palmen, wilden Wollbäumen, Lianen und Bambus üppig bewachsen und von Hunderten von Affen bevölkert war. Als nächsten Hafen liefen wir nach Durchquerung des Suezkanals Port Said an, wo die aufdringlichen arabischen Händler in Scharen an Bord kamen. Nach Port Said hatte die altersschwache Hudson Maru es schwer, gegen den starken Westwind anzukämpfen, aber als der Sturm abflaute, erreichten wir Gibraltar und passierten die Biskaya, wo das Schiff noch einmal schwer ins Schaukeln kam, so daß die starken Drähte, mit denen die Holzbänke und Tische vertäut waren, wie Strohseile zerrissen. Am 31. März gingen wir in Bremerhaven vor Anker.

An der Pier in Bremerhaven standen viele Kinder, die die Hände ausstreckten und nach Brot schrieen. Deutschland hungerte. Am Kai in B. erwartete mich auch Onkel Abbi und Friedel Brandt, die mit dem ersten Transport gefahren waren. Sie berichteten seltsame Dinge: vom Kapp-Putsch Ende Februar, von der Inflation. Für einen Kupfer-Sen = zwei Pfennig bekomme man die Haare geschnitten, und ähnliches. In Hamburg würde mich mein Kieler Bruder Ernst erwarten. Also fuhren wir gemeinsam dorthin. Im Hamburger Hauptbahnhof gingen wir zur Telephonzelle, um bei Abbis Eltern anzurufen, ob sich mein Bruder gemeldet habe. Ein junges Mädchen, das an der Tür stand, öffnete die Zelle und sagte zu dem telephonierenden Herrn: »Herr Amtsrichter, ich glaube, Ihr Bruder ist da.« So sah ich nach 11 Jahren meinen Bruder Ernst wieder. Das junge Mädchen war die Tochter eines deutschen Gastwirts in Yokohama, sie gab in Kiel den Kindern meines Bruders Gymnastik-Unterricht. Ja, so klein ist die Welt.
 

Anmerkungen

1. Die erwähnten Kompanien gehörten zur Marine-Infanterie bzw. zum Ostasiatischen Marine-Detachement (OMD).

2. Die Höhe der japanischen Verluste ist bis heute strittig.

3. Gemeint: kein spezieller Lagerarzt; Schwerstkranke wurden im Lazarett von Tokushima behandelt.
 

©  Renate Bergner, für diese Fassung auch: Hans-Joachim Schmidt
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