Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Der Kampf um Tsingtau«, Teil I: Auf dem Iltisberg

von Jakob Neumaier
 

Unter den Augenzeugen des Krieges und der Gefangenschaft ist Jakob Neumaier einer der wichtigsten. Seine Tagebucheintragungen decken den gesamten Zeitraum von den letzten Junitagen 1914 bis zur Rückkehr in die Heimat Anfang März 1920 ab. Er schildert seine Erlebnisse bewusst aus der Perspektive des einfachen Soldaten, ohne »Feldherrnattitüde«, mit guter Beobachtungsgabe und mit viel Liebe zum Detail.

Der erste Teil von Neumaiers Bericht handelt vom Kampf um Tsingtau, der hier des Umfangs wegen in zwei Abschnitten wiedergegeben wird.

Die hier benutzte maschinenschriftliche Version des Berichts wurde dem Redakteur von dem leider verstorbenen Bochumer Sammler Walter Jäckisch zur Verfügung gestellt. Die Wiedergabe erfolgt unverändert, jedoch wurde die Rechtschreibung maßvoll modernisiert. Zugunsten der Übersichtlichkeit wurden Zwischenüberschriften eingefügt. Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in den Fußnoten.

Übersicht:

  1. Kriegszustand
  2. Japanisches Ultimatum
  3. Seegefecht und Seeblockade
  4. Einschließung
  5. Artilleriekampf

 

1. Kriegsbeginn

Vor dem Tsingtauer Postamt in der Friedrichstraße herrschte einige Aufregung. Deutsche »Zivilmaster« und auch Chinesen standen in Gruppen beisammen und tuschelten sichtlich erregt über eine Neuigkeit der Tsingtauer Morgenzeitung.1 Ich holte an jenem drückend heißen Junimorgen wie jeden Tag vom Schließfach die Post für das Gouvernementsgericht und las dann auch bald die Nachricht von dem Fürstenmorde in Sarajevo und von Kriegsgefahr zwischen Österreich und Serbien. Wie alltäglich um diese Zeit waren auch die Ordonnanzen der Tsingtauer Truppenteile vor dem Postamt. Wir sagten uns, dass der Krieg sowieso schon jahrelang in der Luft läge, und regten uns wohl am wenigsten über die jetzige Kriegsgefahr auf, wenn wir auch nicht frevelhaft genug waren, den Krieg herbeizuwünschen. Nun, sogar die Chinesen, Kaufleute, Studenten, Boten und selbst Straßenhändler und Rikschamänner, schienen sich heute plötzlich stark für die politische Lage zu interessieren. Sie horchten besonders bei uns Soldaten herum oder suchten selbst die Zeitung zu entziffern. Natürlich waren sie weniger um uns als um ihre Geschäfte besorgt. »Master Soldat, jetzt bald plenty Bummbumm geben, auch in Tsingtau?« fragte der kleine Mandarinenhändler Wang einen langen Seebatailloner. Der sagte ihm nur: »Masky Bummbumm (das ist wurscht), du wirst Geschäfte machen oder davonlaufen.« Wang lächelte sorgenvoll und horchte weiter herum. Wir kamen als Soldaten zu Ansehen.

Uns war klar, dass das Wetterleuchten am politischen Himmel nicht nur vom Balkan, sondern auch von Frankreich und Russland ausging. Wir sagten uns, wenn es in Europa wirklich losgehen sollte, so würden wir uns im Fernen Osten die paar Kriegsschiffe und die Landtruppen, die ein europäischer Feind gegen uns aufbringen konnte, wohl vom Leibe halten. Um unser Schicksal in Tsingtau waren wir am wenigsten besorgt. Schließlich waren wir ja auch nicht als Sommerfrischler oder Badegäste in dem sonnigen Kiautschou. Jedenfalls betrachteten wir die Lage mit der berühmten »seemännischen Ruhe«. Einige Wochen vergingen in drückender Julihitze. Wenn in Tsingtau der Himmel einmal klar ist, dann bleibt er es gewöhnlich vier, fünf Wochen lang. Wir hörten wenig von den Verhandlungen der europäischen Mächte, wir exerzierten wie sonst, trieben am Iltisplatz Sport, badeten täglich in der Kiautschoubucht und wünschten, »ach dass es nur immer so bliebe«. Dass sowohl Frankreich wie Russland und auch Deutschland im Alarmzustande waren, nahmen wir an. Da mussten eines Tages die Gewehre von selbst losgehen. Dass wir gerade in dieser bewegten Zeit fern der Heimat sein mussten, empfanden wir geradezu als persönliches Pech. Viele Lorbeeren konnten wir uns bei einem deutsch-französisch-russischen Kriege hier in Tsingtau kaum holen.

[Hier fehlt ein Teil des Textes!] ...sabeth in die Kiautschoubucht ein. Er hatte auf der Fahrt von Shanghai nach Japan aus Österreich die Funknachricht von drohender Kriegsgefahr und den Befehl erhalten, sofort den Hafen von Tsingtau anzulaufen. Wir empfingen die Österreicher und Ungarn mit kameradschaftlicher Begeisterung. Schon einige Tage später brachte die Tsingtauer Zeitung unter der dicken Überschrift »Das ist der Krieg« die Nachricht von der Kriegserklärung Österreichs an Serbien. Am 31. Juli frühmorgens, als ich noch unter meinem Moskitonetz in der Koje lag, kam der lange Lan, unser Chinesenboy, aufgeregt ins Zimmer und ersuchte mich, sofort ans Telephon zu kommen. »Matrosenartillerie rufen, sehr wichtig, ich glaube, nicht gut«, kauderwelschte Lan mit einer Miene, als wäre ihm das größte Unglück passiert. Der Fernspruch kam vom Abteilungskommando der Matrosenartillerie und lautete: »Sämtliche Kommandierte haben sich sofort in ihren Kompanien einzufinden. Es wird gebeten, den Obermatrosen Neumaier sofort in die Kompanie zu schicken. Gezeichnet: Seyffert, Adjudant.« Der Kanzleischreiber am Telephon gab mir als Grund nur an: »Dicke Luft!« Also wartete ich nicht mehr ab, bis die Herren vom Gericht in die Büros kamen, sondern legte den Fernspruch und meine Abmeldung schriftlich vor, nahm rasch noch ein Brausebad, zog mein bestes weißes Päckchen an und verabschiedete mich von meinem Kameraden. Selbstverständlich dachten wir an Krieg. Mein Kamerad schien mir fast neidisch zu sein, dass die Matrosenartillerie ihre Leute zuerst zusammentrommelte und er bei seinem Truppenteile noch nicht benötigt wurde. Ich fuhr mit der Rikscha aus der Stadt, die schöne, weißsandige Straße am Strande entlang, über den weiten, grünen Iltisplatz nach der am Fuße des Iltisberges liegenden Kaserne.

Die Kompanie war am Korridor angetreten, als ich ankam. Die Leute der Iltisberg- und Tsingtaubatterie standen mit Sack und Pack, d.h. mit Kleidersäcken, Vorratstaschen und Gewehren, bereit zum Abmarsch in die Forts. Unser dicker Feldwebel Raue, eine ewig quäkende, aber sonst gutmütige Berliner Pflanze, teilte etwas aufgeregt Leute ein für Wachen und Transporte. Kaum hatte ich mich zur Stelle gemeldet, da war ich auch schon der Fliegerschuppenwache zugeteilt. Unser Kapitänleutnant verlas kurz die neuesten Funknachrichten: »Mobilmachung in Russland... Ansammeln französischer Truppenmassen an der deutschen Grenze... Versuch der deutschen Regierung, in letzter Stunde den Krieg abzuwenden... Treueversprechen Deutschlands an Österreich-Ungarn...« Er erklärte dann, auch für Tsingtau sei die »Große Sicherung« befohlen. Die Batterien würden kriegsmäßig besetzt, alle Wachen verstärkt. Mittags zogen die Kriegswachen, darunter auch unsere Fliegerschuppenwache, auf ihre Posten. Schlag auf Schlag kamen die Nachrichten: »Russische Truppen haben die deutsche Grenze überschritten.« »Kriegserklärung Deutschlands an Russland.« »Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich.« »Kriegszustand auch über Tsingtau verhängt.« Jeder fühlte es, dass auch für uns im Fernen Osten die Stunde zum Kampfe geschlagen hatte. Da saßen wir nun fern der Heimat, am »äußersten Ende« der Welt, und konnten uns kaum vorstellen, wie der Sturm der Begeisterung durch das Heimatland fegte, waren gewissermaßen ausgeschlossen von dem Erlebnis der großen Stunde, in der unser Volk aufstand zum Kampfe, unsere Armeen ausmarschierten, unsere Flotte auslief, klar zum Gefecht.

Still lag unser Tsingtau. Die Soldaten standen auf Posten bereit wie im Frieden bei einer großen Übung. Die Seebatailloner hatten sich in ihren Infanteriewerken, die Matrosenartilleristen in ihren Forts und auf den Minenschiffen eingerichtet, wie sie es schon oft bei den großen Alarmübungen getan hatten. Der Feind, der noch kommen sollte, war unbekannt und unbestimmt. Die Sonne brannte Tag für Tag auf das freundliche Städtchen hernieder, auf die grünen, von grauen Felskuppen gekrönten Hügel, die Forstgärten, Akaziengebüsche und Bambushaine, auf die silberglänzende Kiautschoubucht und die glatte, blaue See. Wieder einmal auf Posten ziehen, das ist schöner als der einförmige Amtsstubenbetrieb am Gericht. Der Iltisplatz, auf dem unser Fliegerschuppen steht, ist ein weiter Rasenplatz, der im Westen an den Strand der [Auguste-]Viktoria-Bucht grenzt und im Übrigen von dichten Akaziengebüschen und den am Fuße des Iltisbergs in der Nähe unserer Kasernen liegenden Forstgärten umsäumt ist. Der Iltisplatz war unser »Schleifstein«, unser großer Exerzierplatz, war auch der Platz für Paraden und größere Festlichkeiten, für Pferderennen, Polo-, Golf- und Hockeyspiel und fast jeden anderen Sport.

Am nördlichen Teil des weiten Rasenplatzes steht unser Fliegerschuppen, in dem unser einziges Flugzeug, eine Rumplertaube, untergebracht ist.2 Auf Posten bei dem Schuppen lernte ich bald unseren Flieger, Oberleutnant zur See Gunther Plüschow, kennen. Er ist ein freundlicher, gelenkiger Mann, der sich zuweilen mit dem Posten, anscheinend unbekümmert um dessen Instruktion, ins Gespräch einlässt, fragt, von welcher Gegend Deutschlands man sei, was man Neues vom Kriege höre, und ist der Ansicht, dass wir in Tsingtau sicher noch zu tun bekämen und auf alle Schlamassel gefasst sein müssten. Seine beiden Mechaniker, ein baumlanger Kölscher Jung und ein Münchener, sind dabei, das Flugzeug mit heller, bläulicher Farbe zu streichen, »dass der Vogel den Russen besser g'fallt«, sagte mir neulich der Münchener.

Niemand von uns kann sich richtig vorstellen, wer uns hier, im entferntesten Weltwinkel, angreifen sollte. Aber alles ist in Bewegung gesetzt, um für den Kampf bereit zu sein. Die Emden, das einzige Kriegsschiff mit Gefechtswert, das noch hier ist, nimmt von unserem Artilleriedepot Kriegsmunition an Bord. Scharnhorst, Gneisenau und Leipzig sind schon im Juni nach der Südsee abgegangen. In unseren Forts werden die Verschanzungen noch möglichst verstärkt. Drei Kompanien vom Seebataillon sind ins Vorgelände abmarschiert, auf Feldwachen und Streifen. Draußen auf See vor der Buchteinfahrt kreuzen nachts ununterbrochen unsere Kanonenboote Jaguar und Luchs und unser einziges Torpedoboot S 90. In unserer Wachstube im Abteilungsstabsgebäude vor den Iltiskasernen herrscht Tag und Nacht ungewöhnlicher Betrieb, schellen die Fernsprecher, kommen und gehen Ordonnanzen, und fast zu jeder Stunde treffen Reservisten und Kriegsfreiwillige aus allen Gegenden Ostasiens und von Handelsschiffen ein, oft dicke Masters von Großhandelsfirmen, steifbeinige Schulmeister oder Gelehrte, alte arbeitsgebeugte Seeleute und blutjunge Schiffsjungen. Alle werden eingekleidet und auf den Kasernenhöfen und in den Forts einexerziert. Die Seitengewehre werden in der Waffenmeisterei geschliffen. Auf den Höhen der Forts gehen die Posten, Gewehr im Arm, mit den Zeissgläsern das Vorgelände und besonders scharf den Horizont auf See belauernd.

»England hat an Deutschland den Krieg erklärt.« Bei dem Eintreffen dieser Nachricht sagte mir ein alter Reservist, nun sei die Lage für Deutschland äußerst kritisch. Der Krieg müsse von Deutschland in wenigen Monaten gewonnen sein; würde er längere Zeit dauern, seien wir verloren. Na, darüber kann man grübeln wie über manche Bibelstelle.

An meinem ersten wachfreien Abend hatte ich mit vier Kameraden zwei Maschinenkanonen und Munition vom Artilleriedepot für die Minenschiffe nach dem Hafen zu bringen. Wir kamen in der Dunkelheit am Hafen an. An der Landungsbrücke lag der Minenleger Lauting, vollbepackt mit Minen, klar zum Auslaufen. Wir mussten lange warten, bis wir unsere Kanönchen an den Mann brachten, den Feuerwerker, der weiter über sie zu verfügen hatte. Immer wieder heißt es, wir sollten uns gefälligst gedulden, Obermaat Soundso käme gleich, Boot Soundso müsse erst ankommen. Wir haben Zeit zu träumen. Hafen und Stadt liegen wie trauernd. Kein Licht darf von den Häusern nach der Seeseite hin gezeigt werden. Auch die Lichter der Leuchttürme und Bojen sind verschwunden. Rötlichgelb liegt der Nachthimmel über dem glatten, schwärzlichen Wasser der Bucht. Drüben im Westen sind die dunklen Hänge des Perlgebirges,3 dessen Konturen sich scharf vom gelbem Himmel abheben, zu erkennen. Da kommt hinter der Landzunge Yunuisan von der Werft her der dunkle, schlanke Schiffsleib der Emden, eine schwache Rauchwolke hinter sich ziehend, gleitet lautlos, mit abgeblendeten Lichtern, wie schleichend über die dunkle Flut, mit Kurs nach der offenen See. Wie ein Gespensterschiff von nebelhaften Umrissen zieht die Emden drüben vorbei, und ich erinnere mich an eine Szene vom »Freischütz«, in der Samiel im Hintergrunde über die Bühne schlich und teuflisch zu lächeln schien. Eine weißliche Rauchwolke liegt langgezogen über der Landzunge Yunuisan, als die Emden im Dunkel entschwunden ist.

Nachdem wir endlich unsere »Waren« an Bord eines Sperrschiffes losgebracht hatten, kehrten wir in die Kaserne zurück, wo die überraschende Nachricht verbreitet wurde, diese Nacht würde ein Angriff von der Seeseite her erwartet. »Na, den erwarten wir doch schon fast 'ne Woche lang«, sagte mein Freund GersdorfF, »wird doch wieder nischt sein«. Unser Feldwebel rumorte die ganze Nacht in der Kaserne umher, schärfte uns ständig ein, uns bereit zu halten und war offensichtlich, mehr als man von einer Kompaniemutter verlangen kann, besorgt um uns. Draußen auf der stillen See huschten die riesigen Lichtkegel von den Küstenforts und den Sperrschiffen über das dunkle Wasser, wie jede Nacht, suchten zum Horizont hin, erloschen zuweilen gleichzeitig wie auf Kommando und leuchteten wieder auf. Kein Feind ließ sich sehen oder hören.

Die Emden hat die erste Beute, den russischen Handelsdampfer Rjäsan, nach Tsingtau hereingebracht und ist einige Tage später ausgelaufen nach der Südsee zum Kreuzergeschwader. Man sagt, sie wird kaum noch nach Tsingtau zurückkommen, wird in der Südsee Kreuzerkrieg führen. Wir beneiden das Geschwader, sitzen wir doch noch, wer weiß wie lange, untätig an der Küste. – Aus Deutschland kommen Siegesmeldungen. Unsere Truppen sind in Belgien einmarschiert, haben auch an der Lothringer Grenze den Vormarsch angetreten. Wir sind der Meinung, dass unsere Flotte bald die Entscheidungsschlacht schlagen wird. Um unsere Armeen braucht man nicht zu bangen.
 

2. Japanisches Ultimatum

Jeder Tag bringt neue Gerüchte über einen geplanten Angriff auf Tsingtau. Bald heißt es, ein russisches Geschwader sei unterwegs nach Tsingtau, bald, ein englisches oder ein französisches. Nichts kam bisher. Aber der Gouverneur ließ bekanntgeben: »Wer Gerüchte aufbringt oder verbreitet, die nicht vom Gouvernement bestätigt sind, wird eingesperrt.« Japanische Zeitungen schreiben, dass Japan keine feindlichen Absichten gegen Deutschland hege. Am Fliegerschuppen sagte mir neulich Plüschow: »Es treiben sich viele Spione in Tsingtau herum. Achten Sie mir besonders auf die harmlos aussehenden Spaziergänger, ganz scharf aber auf die japanischen Zivilisten. Uns kann nur der Japaner gefährlich werden, und passen Sie auf, die Japaner werden noch kommen.« Niemand von uns glaubt, dass wir unbehelligt vom Feinde das Kriegsende hier einfach abwarten müssten. Die Ungewissheit darüber, wer Tsingtau angreifen wird, ist drückend.

Ich stehe wieder in der Gluthitze der Mittagssonne auf Posten bei dem Fliegerschuppen. Der weite Rasenplatz liegt in gleißendem Sonnenschein, und die Akaziengebüsche flimmern bläulich in der heißen Luft. Wie jeden Tag kommen ab und zu einzelne Spaziergänger auf der etwa 300 Meter vom Flugzeugschuppen entfernt vorbeiführenden Straße an meinem Postenbereich vorüber. Ein kleiner Japaner, in leichtem, hellem Anzug, mit Spazierstöckchen und Brille, geht bei dem Anblick des Schuppens von der Straße ab und auf mich zu. Ich gehe ihm entgegen und winke ihm energisch ab. Er bleibt stehen, lächelt und fragt mit einer Verbeugung: »Ist es gestattet, das Flugzeug zu besichtigen, bitte?« Ich sehe, dass er bei der Frage den offenen Schuppen und was er von dem Flugzeug sehen kann, mit den Augen sozusagen verschlingt, und brülle ihn wütend an: »Nein, machen Sie, dass Sie weiterkommen!« Er verneigt sich lächelnd und geht. Die Art, wie er an das Flugzeug herankommen wollte, scheint mir, allerdings erst nachträglich, verdächtiger, als wenn er herangeschlichen wäre. Ich bin immer noch zu wenig misstrauisch, glaube ich.

Man munkelt, Japan habe ein Ultimatum an die deutsche Regierung gerichtet, in dem die Räumung des Kiautschougebietes und die Herausgabe desselben an Japan verlangt werde. Unsere Fliegerschuppenwache, die bisher von Aktiven gestellt wurde, ist nun von Reservisten abgelöst worden. Ich kam in die Iltisbergbatterie, der ich schon im Frieden zugeteilt war. Meine Kompaniekameraden, die schon zwei Wochen am Iltisberg in den unterirdischen Kasematten hausen, empfingen mich mit großem Hallo und gaben ihrer Freude Ausdruck, dass ich meinen »Druckposten« im Gericht und auf Fliegerschuppenwache nun wohl endgültig verloren habe. Ich konnte dazu lachen, freute ich mich doch selbst über den »Verlust«.

Nun wissen wir es bestimmt: Die Japaner werden kommen. Unser Batterieführer, Oberleutnant zur See Falkenhagen, ließ uns am Batteriehof antreten und gab uns ohne besondere Einleitung, aber mit ungewöhnlich ernster, fast höhnischer Miene den Wortlaut des japanischen Ultimatums bekannt, von dem sich uns vor allem die folgenden Worte einprägten: »Um die Ursachen jeder Friedensstörung im Fernen Osten zu beseitigen ... auf Grund des japanisch-britischen Bündnisses ... hält die Kaiserlich japanische Regierung es aufrichtig für ihre Pflicht, der Kaiserlich deutschen Regierung den Rat zu erteilen..., sämtliche deutschen Kriegsschiffe aus den ostasiatischen Gewässern zurückzuziehen und die Kriegsschiffe, die nicht zurückgezogen werden können, abzurüsten, ... das gesamte Pachtgebiet Kiautschou bedingungslos und ohne Entschädigung der Kaiserlich japanischen Regierung auszuliefern... Wenn die Kaiserlich japanische Regierung ... Antwort, die die bedingungslose Annahme des Vorschlages enthält, nicht bis zum 23. August mittags erhält, sieht sie sich zu den Schritten gezwungen, die sie angesichts der Lage für notwendig erachtet.«

Unser Batterieführer sagte nur noch: »So, Ihr wisst, was das bedeutet. Sie sollen nur kommen. Wir werden sie empfangen. Was wir zu tun haben, weiß jeder von uns. Ich glaube, keine langen Reden darüber halten zu müssen. Tut jeder seine Pflicht am Geschütz und auf Posten! Zunächst erhöhte Aufmerksamkeit auf Posten! Die Japaner werden vielleicht nicht lange auf sich warten lassen.« In allen Gesichtern leuchtete die Begeisterung, aber auch ein seltsamer Ernst, der aus einer Art höhnischer Todesverachtung und Verwegenheit zu entspringen schien. Im Wegtreten stimmte die Besatzung das Lied an: »Deutschland, Deutschland über alles«, und der Gesang hallte mächtig im Batteriehof und in den Kasematten. Alles war fröhlich und wie neubelebt. Wir haben Gewissheit. Der Feind wird aus dem Osten über das Meer kommen, ein übermächtiger Feind. Ein schwerer Kampf steht uns bevor. Wer mag an den Ausgang des Kampfes denken! Wir werden auf eigene Faust kämpfen, abgeschlossen von der Heimat, im äußersten Winkel der Welt. Es gibt kein Abschiednehmen von den Lieben in der Heimat, keine Zeremonien und Ausmarschfeierlichkeiten. Hier sind wir festgehalten. Sie werden in der Heimat auch an uns denken und uns der eigenen Kraft und dem Schicksal überlassen müssen. Darüber auch können wir stolz sein. Wir haben ein bestimmtes Ziel, den Kampf gegen die Japaner, vor uns. Das ist ein Ziel für Tsingtauer Soldaten, das wir nicht erwartet hatten!

Der Iltisberg liegt nahe am Strande der offenen See und der Buchteinfahrt. Von dem Gipfel aus haben wir herrliche Aussicht auf die See, die sozusagen zu unseren Füßen liegt, auf die weite Kiautschoubucht, die Stadt Tsingtau, die graubraune Ebene, die sich vor den Höhen der Forts nach Norden und Nordosten ausbreitet und die in weitem Bogen umgrenzt ist von den sanften Höhenzügen des Kuschan und Taschan an der inneren Bucht, den Tsangkauer, Waldersee- und Litsuner Höhen und den massigeren Prinz-Heinrich-Bergen, deren südöstliche Ausläufer an die offene See grenzen. Hinter den rötlichen Felsen der Prinz-Heinrich-Berge, weit im Osten, erheben sich die gewaltigen Felswände des Lauschan mit ihren zackigen Gipfeln. So kann man fast das ganze Kiautschougebiet vom Iltisberg aus überblicken, am besten das Landdreieck zwischen dem Strande der inneren Bucht und der offenen See, die eigentliche Halbinsel Tsingtau, die ja als Kampfgebiet in Frage kommt. Da wir freie Aussicht auch auf die See haben, als Landfrontbatterie mit geringer Reichweite unserer Geschütze gegen ein feindliches Geschwader aber wohl nicht in Aktion treten können, der Iltisberg jedoch für den Feind ein ziemlich deutliches Ziel bieten wird, können wir uns auf besondere Schlamassel gefasst machen oder wenigstens von der Seeseite her kommende Angriffe in Ruhe beobachten.

Wir haben da am Iltisberg zwei moderne 10,5-cm-Schnellfeuergeschütze und sechs alte 12-cm-Bronzekanonen, die früher auf den Takuforts gestanden haben und im Jahre 1900 bei dem Boxeraufstand den chinesischen Rebellen abgenommen worden waren. Die beiden Batterien sind so angelegt, dass sie wirksam nur nach der Landfront hin gebraucht werden können. Die zwei Schnellfeuergeschütze stehen am höchsten Gipfel in Betonständen. Etwa zehn Meter tiefer, auf einer länglichen Plattform, nach der Seeseite hin von dem Gipfel gedeckt, stehen die sechs 12-cm-Bronzekanonen vor steinernen Brustwehren zwischen Erdtraversen. Zwei weißsandige Straßen führen in Windungen und teilweise in Mulden versteckt in den Batteriehof. Die Besatzung von etwa 50 Mann haust in unterirdischen, aus Eisenbeton gebauten Kasematten, die sich teils unter, teils neben den Geschützständen befinden. Von den massigen grauen Betonmauern der Kasematten mit ihren Eisentüren und Luken, wie überhaupt von der ganzen Batterie, ist vom Vorgelände und von See aus nichts Auffälliges zu sehen, denn die Hänge des kaum 300 Meter hohen, aber steil ansteigenden Berges sind bis zum Gipfel, der nur einige Felskuppen zeigt, von Laubgebüsch und Zwergföhren überwuchert. Wir sind also gegen Sicht ziemlich gut gedeckt, haben selbst aber gute Aussicht nach allen Richtungen, besonders von der östlichen Felskuppe aus, in die der sogenannte Panzerbeobachtungsstand eingebaut ist.

Von dem Gouvernement kam der Befehl: »Sämtliche nach der Seeseite hin sichtbaren Flaggen- und Signalmasten sind umzulegen.« Wir wissen, warum: Es gilt möglichst viele Anhaltspunkte für eine feindliche Artillerie wegzuräumen. Wir arbeiten auch schon Tag und Nacht, um kahle Flecken an den Hängen des Berges mit Zwergföhren und Gebüsch zu bepflanzen. Auffallende Felskuppen werden, soweit es möglich ist, einfach mit Dynamit weggesprengt, soweit dies nicht mehr möglich ist, mit grüner Farbe gestrichen. Das Bild der Höhenrücken und Gipfel soll möglichst wenig auffallende Punkte zeigen, möglichst eintönig erscheinen. Mag Japan nur auf Antwort warten! Ich bin bei der Bedienungsmannschaft des zwoten Geschützes der12-cm-Batterie. Vorläufig gibt es nur Arbeitsdienst und Wachen, Verstärkung der Deckungen durch Bau von Sandsackwällen, Einpflanzen von Gebüschen, Geschützreinigen, wenn auch wenig am Geschütz zu putzen ist, ab und zu auch eine Stunde Geschützexerzieren, und im Übrigen: auf Posten lauern, den Horizont auf der See immer wieder absuchen.

Wir sind nicht mehr in dem weißen Exerzierzeug wie im Frieden. Unsere Blusen, Hosen und Mützen wurden in der Garnisons-Wäscherei grün, blau und braun gefärbt. Die Offiziere tragen Khaki oder Blau. Weiß leuchtet zu weit in die Ferne. Es ist streng verboten, sich frei auf den Höhenrändern oder an den wenigen noch freien Flecken am Abhang zu zeigen. Die See liegt ruhig, spiegelglatt, seit Wochen von keinem Lüftchen bewegt, schimmert silbern und grünlich im Sonnenschein, geht in tiefes Blau über, wenn der Tag sich neigt, und liegt schwärzlich und leblos in ihrer unendlichen Weite in der Nacht. Tagsüber ist kein Fahrzeug draußen zu sehen. In der Dunkelheit gleitet da und dort auf der schwärzlichen Flut ein schattenhafter Umriss eines Sperrschiffes vor der Buchteinfahrt dahin, leuchtet kurz ein Scheinwerferkegel von einem Kanonenboot oder von dem äußersten Küstenfort Huitschuenhuk über die nächtliche See. Keine Leuchtboje zeigt noch Licht. Die Leuchttürme Yunuisan und Arkona in der Bucht stehen im Dunkel, sind »blind«. See, Stadt und Bucht liegen wie in Trauer. Auf den Höhen der Forts gehen die Posten. Kein Feind lässt sich sehen. Wir warten mit Ruhe und – Galgenhumor. Man denkt an die überraschenden Angriffe der Japaner bei Beginn des russisch-japanischen Krieges und ist der Ansicht, dass die Japaner nicht erst den Ablauf der Ultimatumsfrist abwarten, sondern wie seinerzeit ohne Kriegserklärung angreifen werden. Nun, unsere Minensperren draußen vor der Buchteinfahrt sind längst gelegt von der 2. Kompanie der Matrosenartillerie. Wir von der 4. Kompanie haben als Minensuchabteilung vorläufig auf See nichts mit den Minen zu tun, aber wir denken daran, ob wir wohl noch dazu kommen werden, unsere oder feindliche Minen wegzuräumen.
 

3. Seegefecht und Seeblockade

23. August. Wir sitzen bei Sonnenuntergang vor der Kasemattentüre unserer Batterie im Hof beim Kartoffelschälen, eine fröhliche Runde. Oben vor den Brustwehren der Geschütze und auf dem Gipfel bei dem Panzerbeobachtungsstand gehen die Posten, Gewehr im Arm, die Zeissgläser immer wieder zum Horizont, auf die See gerichtet. Es ist noch hell, ein klarer Abendhimmel von rötlichgelbem Schimmer bedeckt. In unsere übermütige Unterhaltung rollt von weiter Ferne, von See her, ein schwaches Donnern wie von einem fernen Gewitter. Immer wieder donnert es irgendwo weit draußen auf See. Es scheint näher zu kommen. Wir horchen auf. Geschützfeuer! Wir kennen die dumpfen Schläge und das kurze, rollende Gebrumm.

»Ach was! Wahrscheinlich ist ein Kanonenboot draußen beim Übungsschießen«, sagt einer. Da ruft der Posten vor dem Panzerbeobachtungsstand in den Batteriehof: »Feindliches Schiff, zwei Schiffe.« Schon stehen zwei, drei unserer Offiziere oben am Gipfel bei dem Posten. Unser Batterieführer winkt uns: »Raufkommen, wer Zeit hat!« Alles hat Zeit. Im Nu stehen wir auf der Plattform vor dem Panzerbeobachtungsstand. Die See ist tiefblau und die Sicht noch klar. Ein langer, schmaler Dunststreifen liegt am Horizont über der Kimm. Weit draußen vor dem schmalen Nebelstreifen ziehen zwei graue Schiffe mit Kurs nach Tsingtau auf der klarblauen Flut dahin, ein kleineres, das näher ist, und ein größeres, das noch weiter entfernt liegt, aber offensichtlich auf der Jagd ist nach dem kleineren, denn es feuert wie wild auf dieses. Auf die große Entfernung, von uns aus gesehen, scheinen sie sehr langsam näher zu kommen, aber sie fahren in Wirklichkeit äußerste Kraft, was man durch das Zeissglas an den Bugwellen erkennt, sind in höchster Fahrt.

Wir erkennen das kleinere Schiff als unser Torpedoboot S 90. Das andere scheint ein Zerstörer zu sein. Ein Japaner!? Jedenfalls hat er schwereres Kaliber als unser Torpedoboot. Große grünlich-gelbe Stichflammen blitzen dauernd am feindlichen Schiff auf unter brüllendem Gedonner, während man von unserem Boot nur ein dumpfes Paffen hört und keine Mündungsfeuer sieht. »S 90 war heute draußen auf einer Erkundungsfahrt«, sagt ein Offizier. Es hat also einen Feind aufgespürt, denken wir. In rasender Fahrt hält S 90 Kurs zur Buchteinfahrt. Der Zerstörer ist noch einige Seemeilen dahinter, kommt unserem Boot aber zusehends näher. Unaufhörlich blitzen die grünlichen Stichflammen von dem Feinde auf, und weiße Wassersäulen steigen weit vor und weit hinter oder neben unserem Boot auf. »Fünfhundert Meter zu kurz! ... Fünfhundert Meter zu weit!«, jubeln wir. Aber der Feind kommt dem Boot sichtlich näher, sucht es zu überholen und an den Strand zu drängen, ehe es die Buchteinfahrt erreicht. Schon ist der Feind fast auf gleicher Höhe mit dem Boot, und auch der seitliche Abstand von ihm wird kürzer. S 90 pafft mit seinen Kanönchen, dass es nur so staubt um das Boot. Wir sehen aber keine Wassersäulen in der Nähe des feindlichen Zerstörers. Die Schüsse unseres Freundes sitzen wohl gar im feindlichen Schiff, das geradezu erheiternd schlecht schießt, sichtlich überhastet Salven und wieder Einzelschüsse hinausjagt, während unser Boot in zwar raschen, aber gleichmäßigen Abständen ballert. Es hört sich an wie das Gekläff eines Hündchens gegen eine wuchtig bellende Bulldogge.

Uns stockt fast der Atem. Wenn eine Salve das Boot trifft, wenn es der Feind überholt, ihm die Einfahrt abschneidet, es zu längerem Kampfe zwingen kann, dann ist es verloren. Und wir müssen zusehen! Noch schießt der Feind miserabel, aber im Zufall..., bei dem geringer werdenden Abstand und der Feuergeschwindigkeit könnte er treffen. Plötzlich macht er eine Wendung. S 90 scheint einen Torpedo losgelassen zu haben, dem er ausweicht. Näher und näher kommen die Kämpfer. Im Geiste sehen wir die Maschinen zittern, die Heizer an den Kesseln werken und schwitzen, die Matrosen an den Geschützen fieberhaft arbeiten, an den Torpedorohren richten, hören die Kommandos von der Brücke, das Stampfen der Maschinen, das Zischen der Gischt um die Bordwände. Unsere Entfernungsmesser stehen wie erstarrt an den Geräten, die Augen an den Gläsern der Okulare, melden: »150 Hektometer ... 145 ... 140...« Auf Huitschuenhuk, unserem äußersten Küstenfort, heben sich die Rohrmündungen der 24-cm-Kanonen, und ein Schuss dröhnt hinaus auf die dämmernde See, liegt noch zu kurz, reicht nicht an den Zerstörer, der auf gleicher Höhe mit dem Boot S 90 ist.

»Ahhaa!« Wir atmen ordentlich auf. Der Feind dreht ab, seewärts, zieht sich zurück, und der Abstand zu unserem Boot vergrößert sich rasch. S 90 ist gerettet, ist im Bereich der Küstenbatterien. Im Rückzug funkt der Zerstörer noch unentwegt, und an den Wassersäulen sieht man, dass seine Schüsse bald nicht mehr zur Hälfte an unser Boot heranreichen. Aber er funkt noch wild drauf los. Hat unser Kätzchen S 90 der Bulldogge die Schnauze etwas verkratzt? Wir können uns die blinde Wut des Feindes nicht anders erklären. Endlich schweigt er. Qualmend mit hoher Fahrt zieht er von dannen in die schwärzliche See hinaus. Unser Torpedoboot läuft in die Bucht. Im bläulichen Nebelstreifen am Horizont entschwindet der feindliche Zerstörer. – Zwei Tage später wurde von der Tsingtauer Station ein Funkspruch aufgefangen: »Englischer Zerstörer Kennet in Weihaiwei eingelaufen, drei Tote, sieben Verwundete an Bord, Kommandobrücke zerschossen nach Gefecht mit deutschem Torpedoboot vor Tsingtau.« S 90 hat keinen Treffer erhalten, nur einige Granatsplitter an Deck, die keinen Schaden anrichteten. Allerdings sind bei der Fahrt auf Leben und Tod alle Maschinen des Bootes heißgelaufen, und es muss mehrere Tage in Reparatur in der Werft liegen.

»Warum müssen Deutsche und Engländer hier im Fernen Osten, wo sie nicht den geringsten Einfluss auf den Kriegsausgang in Europa haben, sich gegenseitig totschießen?«, gab unser als tiefsinnig bekannter Müller II zu bedenken und wurde ob der Frage natürlich ausgelacht. »Das musst du die Engländer fragen«, sagte ihm einer, »vielleicht schießen sie dann nicht mehr auf uns.« Und ein anderer: »Warum schießen wir überhaupt, wenn die Japaner oder Engländer kommen? – He! - Wir könnten sie ja auch so hereinlassen und die Sache in der Kantine bei einigen Flaschen Eberlbräu ausmachen!« Müller II fühlte sich wieder einmal als das unverstandene Genie.

Wieder sind einige Tage in erwartungsvoller Stille vergangen. Aus der Stadt hören wir, dass die meisten Chinesen Tsingtau verlassen haben. Die Züge der Schantungbahn seien täglich von flüchtenden Chinesen überfüllt gewesen. Aber viele chinesische Angestellte, auch Straßenhändler und Besitzer von kleinen Häusern im Chinesenviertel Tapautau und in Taitungschen, seien hier geblieben. Die deutschen Frauen hätten sich zum größten Teil als Krankenpflegerinnen zum Roten Kreuz gemeldet. Im Übrigen seien die deutschen Frauen und Kinder nach Shanghai abtransportiert worden.4 Die meisten Geschäfte in der Stadt seien geschlossen, die älteren Männer versähen als Bürgerwehr in der Stadt den Wachdienst. Auch unser alter Herr Geheimrat [Crusen], Oberrichter am Gouvernementsgericht, der wohl schon nahe am Sechziger ist, habe noch die Uniform angezogen, und man habe ihn vor der Deutsch-Asiatischen Bank als Posten gesehen.

27. August frühmorgens. Ich stehe am Ostflügel der Batterie auf Posten, wie eben die Sonne über den stahlblauen Hängen des Lauschan aufsteigt. Im Morgenschein glänzt die weite See tiefblau und silbern, und ein rosiger Nebelhauch liegt am Horizont, von der schwärzlichen Felsküste des Lauschan bis zu der gelben Felsmasse von Kap Jäschke. Immer wieder suche ich mit dem Zeissglas den weiten Horizont ab, suche mit dem Blick den dünnen rosigen Dunststreifen zu durchdringen. In der Phantasie sah wohl jeder von uns in den letzten Tagen schon die feindliche Flotte dort am Horizont auftauchen.


Plötzlich glaube ich wieder so ein Phantasiebild vor Augen zu haben, als in dem rosig und violett schimmerndem Nebelstreifen, in dem Himmel und Meer zusammenzufließen scheinen, mehrere dunkle Pünktchen, die in weiten Abständen voneinander liegen, zu sehen sind. Angestrengt sehe ich durch das Glas und glaube, sogar winzige Rauchfähnlein über den Pünktchen zu entdecken. Täuschung? Selbstsuggestion? Aber das Bild bleibt, die Punkte werden deutlicher sichtbar, auch die Rauchfähnlein. »Sie kommen!«, brülle ich in den Batteriehof hinab. Da ruft auch schon der Posten am Panzerbeobachtungsstand: »Sie kommen! Der ganze Horizont wimmelt von Schiffen.« Am Batteriehof wird es lebendig. Im Nu sind einige unserer Offiziere bei uns Posten, und wer von der Mannschaft Zeit hat, stürmt herauf zu der Plattform am Gipfel. Wir zählen die noch winzig scheinenden Schiffe, die in weiten Abständen in Dwarslinie auf der tiefblauen Flut von der Ferne heranziehen: Vier ... sechs ... zehn ... fünfzehn Schiffe, zwölf kleinere, drei größere. Langsam werden ihre Umrisse deutlich erkennbar, niedere Schornsteine und starker Bug bei den kleinen, massiger Schiffsleib und hohe Masten bei den großen. Torpedoboote und große Kreuzer. In unserer Telephonzentrale unter dem Panzerbeobachtungsstand schellen die Apparate, werden Meldungen an die Küstenbatterien abgegeben. In aller Ruhe sehen wir zu, wie das Geschwader näher kommt. Noch mag es etwa 30 Kilometer entfernt sein, als befohlen wird, wir sollen uns in die Gebüsche stellen, nicht mehr frei am Gipfel herumstehen. Vierzehn Kilometer reicht unsere äußerste Küstenbatterie Huitschuenhuk. Wir erwarten nichts anders, als dass der Feind, wenn er auf etwa 18 Kilometer herangekommen ist, das Feuer eröffnen wird, und wissen, dass wir am Iltisberg mit unseren Schmalzbüchsen den Feind auf See nie erreichen können. Ruhig und sorglos Witze reißend, sehen wir der Entwicklung der Dinge entgegen. Es wird also bald Trümmer geben, auch in unserer Batterie. Was kann anderes kommen als ein Bombardement. Vielleicht fällt es ihnen ein, die Landung an unserer Küste zu versuchen. Dann können auch wir mit unseren alten Kanonen ihnen noch die Hölle heiß machen, dass sie wohl für das erste Mal wieder umkehren müssen, hoffen wir. Wer denkt weiter als an den ersten Abwehrkampf?

Etwa 20 Kilometer mögen die Schiffe noch entfernt sein, als sie die Abstände voneinander vergrößern und dann – nicht mehr näher kommen. In weit auseinandergezogener Schützenlinie liegt das Geschwader vor Tsingtau. Wir sind nach der See hin abgesperrt, von der schwärzlichen Lauschanküste im Osten bis Kap Jäschke im Südwesten. Zwölf Torpedoboote und Zerstörer kreuzen draußen, lange, schnittige Boote, einige mit vier niederen Schornsteinen, ältere Bootstypen. Drei wuchtige Schlachtkreuzer5 halten sich im Hintergrunde. Zwei Zerstörer nähern sich langsam den beiden blauen, kegelförmigen Inseln »Max und Moritz«, auch »Heuhaufen« genannt, die weit draußen einsam träumen und nicht befestigt, auch nicht bewohnt sind. Die Zerstörer eröffnen das Feuer auf die Inseln, feuern etwa 20 Schuss, so dass die Abhänge und Gipfel nur so rauchen. Dann fahren zwei Ruderboote an die größere der beiden Inseln heran, und bald darauf weht am Gipfel die japanische Plagge. »Da haben sie erst plenty drauf schießen müssen, sonst hätten sie's nicht gekriegt«, sagt unser Feuerwerker Bergwein. Das Geschwader kommt nicht näher. Anscheinend haben die Japaner keine Eile. Ein Funkspruch von dem japanischen Flaggschiff meldet, dass die Blockade über Tsingtau verhängt sei, und fordert die Fremden auf, die Stadt zu verlassen.

Gleichsam als Antwort darauf fliegt an dem Vormittag unser großer Leuchtturm in der Bucht, auf der Landzunge Yunuisan, in die Luft. Wir sehen vom Iltisberg aus, wie der hohe, rotweiße Turm, in eine gewaltige Staubwolke gehüllt, zusammenstürzt. Ein Wegweiser, der dem Feind zur Einfahrt oder als Anhaltspunkt für seine Artillerie hätte dienen können, aber auch ein Wahrzeichen Tsingtaus ist von unserer Besatzung vernichtet. In unserer Batterie, wie auch bei allen anderen Tsingtauer Truppenteilen, wurde das Telegramm bekanntgegeben, das unser Gouverneur an den Kaiser schickte: »Einstehe für Pflichterfüllung bis aufs Äußerste.« Ein eigenartig anmutendes Schweigen liegt über der Stadt und der Festung wie der unsichtbare Schatten einer schwarzen Zukunft. Einen trotzigen Willen zum Kampfe fühlt man in diesem Schweigen. Der Feind scheint ihn ebenfalls zu fühlen und trifft umständliche Maßnahmen, diesem Kampfeswillen zu begegnen. Fast tatenlos liegt das Geschwader vor den Toren Tsingtaus. Nur ab und zu feuert ein Zerstörer auf den außerhalb des Festungsgebiets liegenden Strandort Schatsykou oder nach den Küstenhängen der Prinz-Heinrich-Berge, tastet mit seinen Geschützen das harmlose Strandgelände ab oder kommt, offensichtlich nach Minen suchend, näher in den Bereich der Küstenbatterien und zieht sich, wenn die Rohrmündungen des äußeren Küstenforts hochgehen, wieder zurück.
 

4. Einschließung

Ein brauner feindlicher Doppeldecker kam an einem klaren Nachmittag von See her, überflog in geringer Höhe die Festung und die Stadt und auch unsere Batterie. Wir empfingen den frechen Vogel mit rasendem Gewehrfeuer, als er über den Iltisberg kam, und wunderten uns, dass ihn unsere Salven nicht im Geringsten in seinem Fluge zu stören schienen. Vom Signalberg aus feuerte auch eine leichte Batterie auf den Flieger. Weiße Rauchballen lagen oft dicht an ihm, aber es scheint nicht so einfach zu sein, die Entfernung und Geschwindigkeit so rasch herauszukriegen, dass er nicht mehr entschlüpfen könnte. Unser Matrose Jeckel, wegen seiner technischen Vorbildung »unser Ingenieur« genannt, ist eifrig bemüht, einen neuen Messapparat für Flugzeugabwehr zu erfinden.

Wir glauben längst nicht mehr, dass der Feind im Schussbereich unserer Küstenwerke einen Landungsversuch unternehmen werde. Vorläufig scheint er die Küstenfront in aller Ruhe auskundschaften zu wollen, aber wir halten uns notgedrungen noch mäuschenstill, so lange wir mit den Geschützen kein Schiff erreichen können. Nach dem Landesinnern ausgeschickte chinesische Kundschafter brachten die Nachricht, dass in der Lonkoubucht, im Norden weit außerhalb der Grenze des Kiautschougebiets, japanische Truppen landeten. Unser Flieger Plüschow, der auf einem längeren Erkundungsflug das ganze Küstengebiet im Norden abgesucht hatte, bestätigte, dass in der Lonkoubucht etwa eine Brigade Infanterie, Artillerie und Kavallerie gelandet sei und sich auf dem Marsch nach Tsingtau befinde und noch weitere Truppenlandungen im Gange seien.

Unsere Seebatailloner hatten die ersten Gefechte mit japanischen Infanterieabteilungen im Lauschan. Da unsere fünf Kompanien Infanterie, die Feldbatterie, die Pionierkompanie und die Reiterabteilung den zahlenmäßig weit überlegenen feindlichen Streitkräften, wie vorauszusehen ist, im freien Gelände nicht lange werden standhalten können, versuchen unsere Truppen an den Hohlwegen, Schluchten und Gebirgspässen des Lauschan die vorgehenden feindlichen Trupps in überraschenden Angriffen und Feuerüberfallen möglichst in Verwirrung zu bringen. Bei dieser Taktik gelang es unseren Truppen, den Feinden bei den ersten Zusammenstößen große Verluste beizubringen und größere feindliche Abteilungen in die Flucht zu schlagen, so dass der Vormarsch der Japaner auf der ganzen Front wenigstens zeitweise ins Stocken kam. In den Gefechten unserer Seebatailloner im Lauschan fiel als erster Oberleutnant Freiherr von Riedesel. Unsere schwachen Schützenlinien ziehen sich im Gebirge langsam vor der feindlichen Übermacht zurück. Mehrere Tote und Verwundete auf unserer Seite sind gemeldet.

Zur Zeit, Mitte September, herrscht ein Hundewetter, täglich wolkenbruchartiger Regen. In der letzten Nacht, auf Posten vor der Batterie, war ich während der zwei Stunden ständig derart von den grauweißen niederstürzenden Regenmassen umhüllt, dass ich keine zwei Meter vor mir noch etwas sehen konnte und trotz meines Ölmantels in kurzer Zeit bis auf die Haut durchnässt war. Unsere Leute im Vorgelände haben schon wegen des Wetters einen harten Stand. Bei dem Überqueren eines Flusses in einem Lauschantale ertranken einige unserer Pioniere, da der sonst ungefährliche Fluss bei den Wolkenbrüchen in kürzester Zeit zum reißenden Strome wurde. Aber auch der Feind hat durch Überschwemmungen, wie gemeldet wird, Verluste an Mannschaft und Material erlitten und kommt vorläufig nicht mehr vorwärts. Der Wettergott scheint uns zu helfen, den Feind aufzuhalten.

Auf See hat der den Regen begleitende Sturm einen feindlichen Zerstörer in der Nähe von Kap Jäschke auf eine Klippe gesetzt. Wir sahen, wie das lange Heck des Bootes mehr und mehr in die tobende Flut versackte, während das Vorschiff, schräg zum Himmel ragend, noch über Wasser blieb, wie dann die Besatzung in kleinen Booten von dem festsitzenden Zerstörer wegfuhr und ein anderes Torpedoboot langsam an die Strandungsstelle herankam. Es wollte den festsitzenden vermutlich noch abschleppen und lavierte vorsichtig heran. Da kam unser Kanonenboot Jaguar mit Volldampf aus der Bucht und schoss mit einigen Salven das festgefahrene Boot in Trümmer. Als der zur Rettung herannahende Feind, der wohl auf die Unverfrorenheit des Jaguar nicht gefasst war, die ersten Schüsse auf Jaguar abfeuerte, war dieser bereits wieder auf der Rückfahrt nach der Bucht und im Bereich der Küstenbatterien.

Der Himmel ist wieder wolkenlos, die Luft herbstlich mild und so klar, dass die draußen auf der schwärzlichblauen See qualmenden Kreuzer und Torpedoboote näher liegend, größer und drohender erscheinen. Manchmal patrouillieren die Torpedoboote zu zweien oder dreien in lebhafterer Fahrt hin und her und kommen die Kreuzer wirklich etwas näher, und dann erwarten wir gespannt irgendeine besondere Tätigkeit des Feindes. Aber bisher warteten wir vergebens. Fast scheint es, er wolle uns durch seine Manöver gar ängstigen. Mag er sich das einbilden!

Unser Batterieführer gab bekannt, man würde versuchen, noch Post zwecks Weiterbeförderung nach der Heimat aus Tsingtau durchzubringen. Jeder von uns könne noch eine Postkarte abschicken, man solle sich kurz fassen, nicht viel schreiben, die Aussicht, dass die Post noch durchkäme, sei sowieso gering. Jeder schrieb noch eine Karte. Ich fasste mich kurz: »Ein feindliches Geschwader liegt vor Tsingtau. Auch von der Landseite kommt der Feind. Wir sind in bester Stimmung. Herzliche Grüße an alle!« Gott, dachte ich, meine Lieben werden auch andere Sorgen haben als die um mein Wohl. Wir sind zuerst Soldaten und können uns nicht von wehmütigen Stimmungen die »Stimmung« verderben lassen.

Etwa 30.000 Japaner sind auf der Landseite im Anmarsch, wurde gemeldet. Wir sind auf allen Seiten eingeschlossen vom Feinde. Die Japaner nähern sich unter erbitterten Kämpfen den Höhen, die sich vom Strande der inneren Bucht im Halbkreis zum Strande der offenen See hinziehen und die Halbinsel am Festlande wie ein Wall umgeben. Diese Höhenzüge, Kuschan, Taschan, Tsangkauer Höhen, Litsuner und Walderseehöhen und Prinz-Heinrich-Berge, liegen vom Festungsgebiet und der Stadt 8 bis 10 Kilometer entfernt. Wenn der Feind sie erreicht, kommt er in den Feuerbereich unserer Landfront- und Küstenwerke.

Der erste größere Angriff der Japaner auf der Landseite setzte von Litsun aus ein, einem großen Chinesendorfe, das vom Iltisberg aus gesehen nur als verschwommener brauner Fleck hinter den sanften Litsuner Höhenzügen zu erkennen ist. Eine sternklare Nacht war es. Unsere Truppen hatten das Wasserwerk in Litsun gesprengt und sich kämpfend vor dem nachdrängenden Feind zurückgezogen. Die Nacht hindurch hörten wir am Iltisberg von den Litsuner und Walderseehöhen her ununterbrochen das dumpfe Donnern der Feldgeschütze und ab und zu auch dazwischen feines Knattern von Gewehren und Maschinengewehren. Lichtkegel von Scheinwerfern hinter den Höhen, aufsteigende Leuchtkugeln sowohl im Osten in den Prinz-Heinrich-Bergen als auch im Norden bei den Tsangkauer Höhen, einige brennende Chinesendörfer, rollender Donner feindlicher Geschütze und Aufblitzen krepierender Geschosse am bläulich schimmernden Nachthimmel zeigten das Aufflammen des Kampfes, das Näherrücken des Feindes auf der ganzen Linie.

In der Morgendämmerung stand ich auf Posten vor der Batterie. Im Nordosten ragte eine gigantische, schwarze Rauchsäule in das helle Morgenrot, breitete sich der schwarze Rauch hoch am klarblauen Himmel wie eine flache, riesige Baumkrone aus. Das deutsche Verwaltungsgebäude in Litsun steht in Flammen, wurde gemeldet. Kerzengerade stand das düstere, gewaltige Rauchzeichen, von Litsun aufsteigend, über den Höhen und der weiten braunen Ebene, wie ein drohendes Ungetüm vor Tsingtau. Hinter den Höhen, ferne noch, rollte Geschützdonner, tackte Gewehrfeuer, tobte der Kampf. Die große Ebene, die sich zu Füßen der Fortshügel bis zu den umkämpften Höhenzügen im Norden und Nordosten ausdehnt, lag noch ruhig. Der Feind hat die Höhen noch nicht erreicht.

Gegen Mittag greifen unsere Kriegsschiffe Kaiserin Elisabeth und Jaguar von der inneren Bucht aus in den Kampf ein. Ihre Salven schlagen in die Flanke des massenhaft gegen den Kuschan und die Tsangkauer Höhen vorgehenden Feindes, der aber, wenn auch unter schweren Verlusten, die Höhenrücken erreicht und in den Schussbereich unserer Forts kommt. Noch schlagen sich kleinere Abteilungen unseres Seebataillons auf den Höhen mit den Japanern herum, die sich dort zu verschanzen suchen. Noch schweigen unsere Forts, denn man ist bei uns anscheinend über die Stellung unserer Infanterielinien nicht ganz im Klaren und will nicht die eigenen Leute unter Feuer nehmen. Die letzten Meldungen über den Verlauf der Gefechte sind teilweise unklar. Kein Wunder, da an einigen Frontabschnitten die feindlichen Massen überraschend weit vorkamen, während an anderen Stellen der feindliche Angriff immer wieder abgeschlagen werden konnte, so dass Freund und Feind wohl öfter arg durcheinander gerieten. Nachmittags auf Posten beobachte ich, wie eine unserer Feldbatterien auf der weißen, ziemlich breiten Straße von den Litsuner Höhen daherrast, in eine Mulde einschwenkt und ein wildes Feuer auf den Höhenkamm eröffnet, und dann, wie ausgeschwärmte Trupps unserer lnfanterie im Laufschritt über das freie, braune Feld zurückkommen und in die Sandravinen untertauchen. Den Japanern werden sie wohl noch einige Knüppel zwischen die Beine werfen.

Im Laufe des Vormittags sollen alle unsere Truppen mit Ausnahme einiger Feldwachen und Vorposten vom Vorgelände in die Infanterie-Hauptverteidigungslinie zurückgezogen werden, hören wir. Diese Linie besteht aus fünf Infanteriewerken mit Maschinengewehr- und Revolverkanonenständen, Brustwehren und betonierten, bombensicheren Unterständen. Die einzelnen Werke sind mit Drahtverhau umgeben und durch Schützen- und Laufgräben miteinander verbunden. Ein etwa 20 Meter breites, tiefliegendes Stacheldrahthindernis zieht sich vom Strande der inneren Bucht im Halbkreise vor den Infanteriewerken hin bis zum Strande der offenen See. An dieser Hauptstellung, den Infanteriewerken, werden die Japaner wohl noch lange zu knacken haben, so lange, hoffen wir im Stillen, bis im fernen Europa die Entscheidung in diesem Kriege zu Deutschlands Gunsten gefallen ist. Es ist wenig Hoffnung, dass wir Tsingtau so lange halten können. Wir erwarten kein Wunder. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Haut möglichst teuer loszubringen, bis aufs äußerste zu kämpfen.

Gegen Abend kommt die überraschende Meldung, feindliche Truppen seien bei dem Dorfe Tschantschan, das nahe vor Infanteriewerk 1 liegt, gesehen worden. Die östlich vom Iltisberg auf der Passkuppe liegende 8,8-cm-Batterie eröffnet in der Abenddämmerung das Feuer auf Tschantschan und dessen Umgebung.

Die Japaner haben in den Prinz-Heinrich-Bergen eine Abteilung unserer Infanterie, etwa 40 Mann, eingeschlossen, die sich auf einen schwer zugänglichen Felsen, das sogenannte Adlernest, zurückgezogen hatten. Durch Blinksignale vom Adlernest erfuhren wir, dass unsere Leute dort oben sich eine Verteidigungsstellung eingerichtet hätten, dass sie genügend Munition und Proviant besäßen, um sich einige Wochen halten zu können, dass die Stellung für uneinnehmbar gelte und von dort aus unsere Artillerie durch Blinksignale unterstützt werden würde. Die Felshänge am Adlernest würden mit Schmierseife bestrichen, um den Japanern das Hochklettern zu erschweren. – Wir freuen uns über den Optimismus dieser Leute und über ihre Verwegenheit und wünschen ihnen Glück. – Sie hatten nicht viel Glück. Das Adlernest wurde nach kurzem Kampfe von den Japanern, die es mit Haubitzen befunkten, ausgehoben. Etwa 30 Mann von dem Felsennest sind gefangen, 11 Mann haben sich durchgeschlagen und sind wohlbehalten in unsere Hauptverteidigungslinie zurückgekommen. Das ist immerhin schon Glück.6
 

5. Artilleriekampf

An dem Abend, da unsere sämtlichen Truppen vom Vorgelände in die Hauptverteidigungslinie zurückgenommen sind [28.09.] und bestimmte Nachrichten vorliegen, dass die Japaner auf den Tsangkauer, Litsuner und Walderseehöhen sich eingraben und hinter den Höhenzügen Batteriestellungen zu bauen beginnen, kommt für uns endlich der Feuerbefehl. Iltisberg und die anderen Landfrontbatterien sowie auch die Küstenforts, die ihre Turmgeschütze nach der Landseite gedreht haben, eröffnen bei Eintritt der Dunkelheit mit einem Schlage das Feuer auf die 8 bis 10 Kilometer entfernten Höhen und auf die dahinter liegenden Anmarschwege und Quadrate, in denen unser Flieger Plüschow verdächtige Tätigkeit des Feindes festgestellt hat. Wie bei einer Schießübung im Frieden, doch mit größerer Begeisterung und womöglich größerer Aufmerksamkeit geht es bei uns am Iltisberg los: »An die Geschütze! ... Richtungslinie drei ... Seite minus zwanzig ... Erhöhung siebenzehn Grad acht ... Geländewinkel plus vier ... Granaten, Aufschlag ... Erstes feuern ... Zwotes feuern ... Drittes feuern ... Schrapnell, Brennzünder, Brennlänge einundzwanzig sechs Achtel Sekunden ... Erstes feuern ... Salve fertig, feuern! ... Seite minus zwo.« —

Gewissenhafter haben wir noch nie diese Kommandos ausgeführt. Wir wissen, dass dem Batterieführer jeder Weg und Winkel, fast jeder Quadratmeter wenigstens der Karte nach am Vorgelände bekannt ist. Wir schießen indirekt, zielen nach dem Hilfsziel, einer seitlich von der Batterie aufgestellten Stange, können die Einschläge unserer Geschosse vom Geschütz aus nicht sehen, bestreichen die Höhenzüge vom Kuschan bis zu den Prinz-Heinrich-Bergen, feuern die ganze Nacht hindurch. In aller Ruhe werden die Kommandos gegeben. Die blanken Rohre heben und senken sich, von dem Luftdruck der Abschüsse werden die Gebüsche vor den Mündungen dauernd geschüttelt. Wir hören das Donnern der Küstenbatterien, sehen den Feuerschein von den Abschüssen. Alle Werke, Hsiauniwa an der Innenbucht, Tsingtaubatterie, Moltkeberg, Bismarckberg, Huitschuenhuk auf der Landzunge an der offenen See, Passkuppe und Iltisberg, spucken rote Stichflammen in die klare, sternhelle Nacht hinaus. Den Feind auf der Landseite aufzuhalten gilt es zunächst. Tsingtau brüllt »wie ein gefangener Löwe«, sagt mein Kamerad Gersdorff und reißt exakt wieder den Verschluss auf, während ich wieder das Geschoss ansetze. Es geht alles Hand in Hand, dass es eine wahre Freude ist. Noch ist der Krieg gewissermaßen schön für uns. Kein Feind gibt uns Antwort in dieser Nacht.

In der Morgendämmerung wird bei uns am Iltisberg das Feuer eingestellt. Man will Munition sparen. Die erste Geschützwache reinigt ihre Kanonen. Wir vom ersten und zwoten Geschütz nehmen in den Kasematten das Frühstück ein, Kaffee, Kommissbrot und Marmelade. Nach dem Aufräumen unserer Stuben gehen wir hinauf in den Batteriehof an die frische Morgenluft, um unsere Geschütze zu reinigen. »Wieder ein wunderbarer Morgen«, sage ich zu Gersdorff, und er meint grinsend: »Da kann ja dat Schlafen mal ausfallen.« Da saust es gewaltig über unseren Köpfen, als zischte dort oben ein Schnellzug durch die Luft. Ein kalter Windstoß fährt mir um die Ohren, dann erfolgt unten am westlichen Abhang des Iltisbergs ein gewaltiger heller Krach, als würden die Hänge bersten, in der Luft singt es misstönend: »iiiuiii« und »drrrr« fliegt ein armgroßes, graues Eisenstück dumpf klingend vor mir auf die Straße, dass der Sand aufspritzt. Dann wieder das hitzige Sausen in der Luft. Wie Kinder, die keine Gefahr ahnen, sehen wir neugierig in die Höhe. Der erste Gedanke ist: Das sind sie, die feindlichen Schiffsgranaten. »Verflucht schwere Brocken von See aus«, ruft jemand, und alle ducken sich bei den scharfen Zischern. Oben am Beobachtungsstand stehen zwei unserer Feuerwerker und unser Batterieführer im Freien und sehen mit den Gläsern nach der See. Wir lachen leichtsinnig, wie sie bei jedem Zischer in den Eingang zum Panzerstand flitzen, dass man im nächsten Moment nur noch die Stiefelabsätze um die Ecke wischen sieht. »Alles in Deckung, in die Kasematten!« ruft unser Feuerwerker Bergwein noch vom Stande herab, aber wir sehen uns noch um nach unseren Geschützen, begreifen augenblicklich noch nicht, dass wir schon flüchten sollen. Da kommt unser Batterieführer Falkenhagen von oben: »Zum Donnerwetter, in die Räume marsch, marsch! Die Schiffe schießen. Was wollt Ihr, zum Teufel nochmal? Unten alle Luken und Außentüren dicht!«

Zwei, drei furchtbare Detonationen erfolgen unten am Erlengrund. In der Luft singen schrill die Splitter. Klimpernd fliegen Eisenfetzen auf den weißsandigen Batteriehof. Dichter schon sausen die »Reisekoffer« der Schlachtschiffe über unseren Köpfen. Im Laufen greife ich nach einem im Sande liegenden Sprengstück, lasse es sofort wieder los, denn es ist glühend heiß, und renne mit den Kameraden in die Kasematte. Die Eisentüren hinter uns und die Panzerschieber an den Luken werden zugeschlagen. Draußen donnert es wieder fürchterlich, und in den Räumen erzittern die Lampen, und es staubt bei jedem Krach von Wänden und Decken. Da sitzen wir nun auf den Stühlen und Kojen. Die 30,5-cm-Sprenggranaten gelten uns. Bei jedem Donnerschlag sehen wir einander groß an. Wir merken erst jetzt, dass jeder von uns etwas blass ist, aber wir machen auch Witze. Bellende Donnerschläge antworten draußen, bald näher, bald weiter entfernt, bald gerade über unserer Decke, so dass Kalk und Staub spritzt. Wie eisiger Todeshauch fegen Luftstöße durch die Ritzen der Luken. Die Betondecke über uns ist meterdick, auch die Wände sind nicht von Pappe. »Da geht keiner durch«, behauptet Maat Knappe, aber wir meinen, dass wir es erst abwarten müssten, fühlen uns nicht so ganz sicher.

Vom Panzerbeobachtungsstand wird gemeldet, die feuernden Schiffe seien die japanischen Schlachtkreuzer Su[w]o, Tango und Iwami, jeder mit Kaliber 30,5 cm, und das englische Linienschiff Triumph mit 25-cm-Geschützen. Wir wundern uns darüber, dass sie so haarscharf hinter den Gipfel des Berges treffen, als feuerten sie mit Haubitzen. Sie schießen wohl auf sehr große Entfernung, da ihre Granaten so steil einfallen. Da können sie wohl auch zufällig in unsere durch den Berggipfel gedeckte Batterie treffen. Ab und zu klimpern schon riesige Sprengstücke an die Betonwände unserer Kasematten und ein paar »Zuckerhüte« sind schon auf unser Betondach gebrummt, das bei weiteren Einschlägen natürlich stark abbröckeln wird. Wir müssen untätig in unseren Höhlen sitzen. Es ist eine miserable Lage, nur darauf warten zu müssen, dass das Gewitter gnädig vorübergehen werde. Der Feind feuert übrigens ganz gemächlich, noch können wir die Schüsse zählen und machen Witze: »Der war nicht für uns ... Hallo, der war am Dach ... Der drunten im Erlengrund ... Da unten haben noch plenty Platz ... Sssst! ... Nichts ... Der ist in der Luft hängen geblieben ... oder ein Blindgänger.« Dann wieder ein fürchterlicher Krach über der Decke, und alles schweigt verblüfft. Aber die Decke ist innen noch ganz. Mein Freund Gersdorff, der seit einigen Tagen wegen einer Fußverletzung schlecht gehen konnte, sagt mir grinsend: »Mensch, denk dir, wie ich heut' loofen konnte von draußen rein! Janz vajessen hatt' ick mein' schlimmen Fuß.«

Allmählich regt sich die Ungeduld, der Wille zum Sichwehren äußert sich: Da sitzen wir nun, können mit unseren Schmalzbüchsen draußen nur die Nachtruhe etwas stören, mit unserem Spielzeug von Kanonen die Schiffe ewig nicht erreichen, müssen uns verkriechen, solange sie hereinfunken. Da können die Japaner auf der Landseite sich in aller Ruhe heranmachen und eines schönen Tages auch am Iltisberg stehen, derweil wir in den Kasematten dösen! Wir sind eben im besten Zuge, uns über unsere verfluchte Lage gegenseitig aufzuklären, da schallt es durch die Kasemattengänge: »An die Geschütze!« Alles springt auf. »Aha! ... Endlich! ... Hurra! ... Quai-quai (schnell)!« »Los, los!« flüstert im Hinausdrängen einer dem anderen zu. Die eisernen Außentüren fliegen auf. Einer steht einen Augenblick zögernd am Ausgang, fragt mit bleichem Munde: »Schieten sie noch?« »Jawohl«, rufe ich mit einer Art Schadenfreude über seine Ängstlichkeit, obwohl ich keine Ahnung habe. »Frag nicht so dämlich«, brummt einer neben mir im Laufen.

Wir sind an der frischen Luft, stürzen an unsere Kanonen. »Sssst«, zischt es über unseren Köpfen, kaum dass sich einer noch duckt, ein heller Krach irgendwo in der Nähe, dann klimpern einige Splitter in den Sand. Ich habe nicht Zeit, weiter auf feindliches Geräusch zu achten. Keiner hat Zeit. Unsere Kanonen sind noch klar. Die Munitionsmänner schleppen Geschosse und Kartuschen heran. Vom Stande oben kommen die Kommandos für Richtung, Erhöhung, Geländewinkel, Zeitzünder, die Zugführer und Geschützführer wiederholen sie, im Nu ist der Zünder eingestellt, ich jage das Geschoss mit dem Hebebaum ins Rohr, die Kartusche hinein, zack, haut Gersdorff den Verschluss zu, Maat Kronenberger stellt den Richtungsgrad am Richtkreis ein, Fischer die Erhöhung, ein paar Rucker mit den Hebebäumen am Lafettenschwanz, alles ist in wenigen Sekunden klar zum Schuss. Hand in Hand arbeitend funken wir los. Schuss auf Schuss donnert hinaus in die sonnige Morgenluft nach den Höhen, wo der Feind schanzt. Das Zischen der eigenen Granaten und Schrapnells hört sich besser an als das der feindlichen. Jetzt hat jeder zu tun, wehrt sich jeder seiner Haut, mag einschlagen was will bei uns, jetzt schlägt es auch beim Feinde ein. »Ob sie auch richtig hinkommen?«, fragt einer kurz. »Jedenfalls wächst kein Gras mehr dort«, übertreibt ein anderer. Alle sind voll Übermut, arbeiten exakt wie Maschinen, kennen nur noch Laden, Richten, Abschuss, haben nur das eine Gefühl, das des Sichwehrens. Die blanken Rohre heben und senken sich, die Gebüsche werden von den Abschüssen geschüttelt. Draußen mögen sich die Japaner eingraben. Die Schiffe sind anständig, schweigen, lassen auch uns zu Worte kommen, müssen vielleicht ihre Rohre abkühlen lassen. Iltisberg und die anderen Tsingtauer Forts behämmern wieder das Vorgelände.

Unsere alten Bronzekanonen scheinen vom Glück begünstigt zu sein. Bei der ersten Beschießung von See aus durch die japanischen Schlachtkreuzer und das englische Linienschiff Triumph wurden zwar die Rasendecken unserer Kasematten tief aufgerissen, auch die Betonmauern beschädigt und riesige Sandhaufen an die Geschütze geschleudert, aber diese selbst blieben intakt, obwohl ein paar feindliche Einschläge nur fünf bis zehn Meter von den Geschützen entfernt lagen. Es gab viel Arbeit, die Trichter im Batteriehof wieder auszufüllen, die Sandsackverschanzungen an den Geschützen auszubessern und auch die Sandhaufen, die durch Geschosseinschläge auf die Zufahrtstraßen geworfen wurden, wegzuräumen.

Die Japaner haben auf der Landseite hinter den Höhen die ersten schweren Batterien in Stellung gebracht. Einzelne schwere Brummer von dort schlugen schon in der Nähe des Iltisbergs ein, aber die Japaner lassen sich Zeit. Unser Flieger ist täglich draußen, um die Schlupfwinkel dieser Batterien zu suchen und die Bewegungen des Feindes zu melden. Kaum schwebt der einsame Vogel über den feindlichen Stellungen, so wird er auch schon mit Schrapnells und Granaten befunkt. Er hält sich aber gewöhnlich lange über den Höhenzügen auf, lässt sich nicht gleich vertreiben, auch wenn die weißen Rauchballen schon verteufelt dicht an ihm liegen. Wir beobachteten ihn manchmal mit angehaltenem Atem, so dicht war er schon von platzenden Geschossen eingekreist. Einmal kamen von See aus zwei große Wasserflugzeuge auf ihn zu, da musste er flüchten. Er flog geradeaus dem Iltisplatz zu und wurde, als er in Spiralen niederging, von feindlichen Landbatterien noch eklig mit Schrapnells eingedeckt, landete aber glücklich. Unser Plüschow ist nicht zu beneiden. Er ist im Flugzeug immer allein, kann keinen Beobachter mitnehmen, muss alles selbst sehen und dabei seine Taube dirigieren. Das Flugzeug ist für ostasiatische Luftverhältnisse zu schwer gebaut, ist mit zwei Mann Besatzung, die wohl darin Platz hätten, zu unsicher im Manövrieren, hörten wir von Fachleuten.

Über dem Iltisberg platzten wieder einige Schrapnells, die von feindlichen Landbatterien kamen. Wir wissen, dass hinter dem braunen Bergkegel des Kuschan eine schwere feindliche Batterie steht, haben aber ihre Stellung noch nicht genauer herausfinden können. Die Kaiserin Elisabeth feuerte an einem sonnigen Nachmittag, als ich am Iltisberg auf Posten stand, von der inneren Bucht aus nach dem Kuschan. Schon nach wenigen Schüssen des Österreichers antwortete der Japaner vom Kuschan her mit schwerem Kaliber. Weiße, turmhohe Wassersäulen stiegen nahe am österreichischen Kreuzer auf, der langsam im Zickzack lavierte und mit seinen 15-cm-Geschützen Salve um Salve nach dem Kuschan jagte, mit drei Geschützen vom Vorschiff, dann wieder, nach einer Wendung, mit drei Geschützen vom Achterschiff, so dass der Kreuzer dauernd in schwarze Rauchwolken gehüllt war. Unheimlich nahe kamen ihm bald die feindlichen Einschläge, dicht vor und hinter ihm schossen die Wassersäulen hoch, und manchmal schien es mir, er habe einen Treffer erhalten. Es war ein aufregendes Schauspiel, die Kaiserin Elisabeth im Feuer. Der Kreuzer funkte jedenfalls in gleichmäßigen Abständen seine Salven weiter, zog sich dabei aber langsam zurück bis hinter die Werft, wo ihn die feindliche Batterie anscheinend nicht mehr erreichen konnte, da sie das Feuer einstellte.

Wir feuern Tag und Nacht, zwar nicht immer mit allen Geschützen, sondern, je nach den eingehenden Meldungen von der Tätigkeit des Feindes im Vorgelände, mit geringerer oder erhöhter Feuergeschwindigkeit. Manchmal werden auch Feuerpausen eingelegt. Wir müssen Munition sparen. Die feindliche Flotte draußen stört uns ganz unregelmäßig, lässt uns manchmal tagelang in Ruhe und belästigt uns auch wieder mehrmals am Tage mit einem Überfall von einigen Dutzenden ihrer ekelhaften Reisekoffer. Darum achten wir besonders scharf auf die »dicken Dampfer«, die sich, solange sie schweigen, weit hinter der Kette der Torpedoboote aufhalten und nur näher herangehen, wenn sie uns wieder einige Brocken herein werfen wollen.

Ich stand eben wieder auf Posten bei sonnigem Morgenhimmel, als die drei dicken Japaner auf See wieder näherkamen. »Sie kommen wieder!«, rief ich in den Batteriehof hinab. Durchs Zeissglas sah ich, wie auf den grauen Kolossen die langen Rohre der Buggeschütze langsam hochgingen. Da blitzte es dort auch schon auf, und dann sauste es wie von einem D-Zug über dem Iltisberge. Dumpfes Donnern von den Schiffen folgte. Unten im Erlengrunde waren die ersten Granaten wieder mit Donnerhall eingeschlagen. »Alles in die Kasematten, marsch, marsch!« rief ein Offizier vom Panzerbeobachtungsstand. Im Nu saßen wir wieder in unseren unterirdischen Räumen. Draußen bellten die Einschläge näher und näher. Ab und zu platzte wieder so ein Koffer auf unsere Betondecke. Wird sie standhalten? Die Frage stand auf allen Gesichtern. Heute schien der Feind besonders grimmig. Nicht mehr gemächlich mit kurzen Abständen zwischen den einzelnen Schüssen, sondern in einem ununterbrochenen bellenden Gedonner ging das Gewitter los. Wände und Decken zitterten, und durch die dünnen Ritzen der Luken sah man den blitzartigen Schein der Explosionen. Plötzlich ein furchtbarer Donnerschlag über unserer Decke, alle Lampen im Räume flackerten kurz auf und erloschen mit dem Schlage. Mauerwerk rieselte verdächtig nieder. Die Luft war dick und roch nach Schwefel und Pulvergas. Im Augenblick waren wir stumm, dann blinkten ein paar Taschenlampen auf. Es war noch gut gegangen. Wir steckten die Petroleumlampen wieder an. »Saxn, Saxn nochamal...«, sagte mein Landsmann Gleixner und versuchte dabei eine witzige Miene zu machen, aber sie schien wie unsere Gesichter etwas hilflos. Die Decke über uns zeigte Risse. »Noch so ein Schlag, dann fällt sie ein«, meinte einer. »Man sollte lieber ins Freie gehen«" sagte ein anderer, aber wir lachten darüber.

Oberleutnant Falkenhagen kam vom Offiziersraum zu uns und fragte: »Ist was Besonderes passiert?« »Noch nicht.« Er befahl, Picken und Schaufeln aus dem Geräteraum bereitzustellen. »Wenn die Bude einfällt, müssen wir schaufeln, was das Zeug hält, verstanden?« Sie fiel nicht ein. Draußen schien das Gebelle kein Ende nehmen zu wollen. Wir saßen verbissen und ziemlich still auf unseren Kojen und Hockern. Nur ein Obermaat, der an meiner rechten Seite am Tisch saß, redete dauernd wie zu seiner eigenen Beruhigung: »Verfluchte Sache, Kriegsmann zu spielen, da können wir nun sang- und klanglos begraben werden ... was hat man da als alter Obermaat von seiner zwölfjährigen Dienstzeit ... nicht mal wehren kann man sich als Soldat.« Mein linker Nebenmann stieß mich grinsend mit dem Ellenbogen an. Man musste lachen über den ollen Obermaaten, der jetzt an die Zivilversorgung denken konnte. Jetzt bemerkte ich auch, als er immer noch weiterredete, dass er richtig zitterte. Konnte man ihm dies übelnehmen? Uns anderen war auch nicht gerade wohl zumute. Das untätige Warten im Feuer konnte einen rasend machen. In allen Gliedern drängte der Selbsterhaltungstrieb zum Sichwehren, forderten die Nerven immer gebieterischer das Losschlagen gegen irgendetwas, verlangten Abwehr, während der Verstand zu höhnen schien: »Abwarten, ergeben ins Schicksal, nichts kannst du machen...« Und die Sprenggranaten brüllten an den Hängen, schlugen auf die Betondecke, zischten um die Mauern. Man kam sich vor wie ein zum Tode Verurteilter unter dem Beile des Henkers, der noch zum Spaß immer daneben hinschlägt und doch einmal treffen wird. Die meisten von uns blieben äußerlich ruhig, einige rissen kräftige Witze oder stießen gelegentlich einen Fluch aus und bändigten so die innere Erregung, auch die der anderen, wieder. »Soldatenlos, Soldatenpflicht«, auf den eisernen Gesichtern grub sich immer deutlicher die starke Verbundenheit mit diesem Gedanken ein. Da war kein Raum mehr für jämmerliche Todesangst, höchstens noch für Galgenhumor.

Und das Gewitter ging wieder gnädig vorüber. Plötzlich war es draußen still. Gleich kam auch schon für uns der Feuerbefehl. Traurig sah es in unserer Batterie aus. Schon im Hofe, nahe an den Geschützen, waren einige tiefe Granattrichter. Neue Sandhaufen lagen da aufgeworfen, armgroße Sprengstücke überall, Traversen waren demoliert, Gebüsche zerfetzt und in den Hof geschleudert, Sandsäcke durcheinander geworfen und zerrissen. Auf der Rasendecke unserer Kasematten hatten mehrere Granaten tiefe Löcher gerissen, in deren Gründen, etwa in Metertiefe, weißgraue Bruchstücke der Betondecke sichtbar waren. Da hatten wir unter der Decke wirklich noch Glück gehabt, bemerkten wir mit einigem Gruseln. Unsere Kanonen waren stark versandet, doch weiter nicht beschädigt. Das haben wir wohl ihrer einfachen, alten und doch starken Konstruktion, selbstverständlich neben unserem Glück und dem Pech des Feindes, zu verdanken. Wenn nicht gerade ein Volltreffer auf die alte Kanone geht, ist daran nicht leicht etwas kaputt zu kriegen, denn sie besteht nur aus Bronzerohr, Rundkeilverschluss, schwerer Eisenlafette und schweren Rädern, hat keine komplizierte Seiten- und Höhenrichtmaschine, keine feinen Räder, Kurbeln und Hebel wie manche moderne Kanone. Die Zubehörteile, Quadranten, Richtkreise, Okulare usw., nehmen wir bei jeder Flucht in die Kasematten mit. In aller Eile befreiten wir nach dem Gewitter unsere Geschütze von den »Sandbänken« und räumten im Hofe auf. Dann feuerten wir wieder los, als wäre nichts gewesen. Der Itisberg lebt noch.
 

Anmerkungen

1.  »Tsingtauer Neueste Nachrichten«

2.  Das zweite Flugzeug war beim ersten Start abgestürzt, wobei Pilot Müllerskowski schwer verletzt wurde.

3.  Gemeint ist das »Kleine Perlgebirge«, dessen Ausläufer sich bis in die Halbinsel Haihsi (Kap Jaeschke) ziehen.

4.  Genauere Angaben hierzu liegen nicht vor.

5.  Bei den hier (und im weiteren Text) so genannten Schlachtkreuzern bzw. Schlachtschiffe handelte sich um ältere Linienschiffe russischer Herkunft.

6.  Siehe dazu die Augenzeugenberichte von Bunge und Kluge.
 

©  für diese Fassung: Hans-Joachim Schmidt
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