Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

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Der Kampf um Tsingtau

von Robert Pügner
 

Der vorliegende Augenzeugenbericht wurde von Robert Friedrich Pügner um 1920 verfasst und beinhaltet seine Erlebnisse von der Abreise aus Shanghai am 2.8. bis zum Verlassen von Tsingtau am 7.11.1914. Er verdient Interesse zum einen wegen der Detailfreude und den Mitteilungen über das Schicksal von Kameraden, zum anderen durch seine Authentizität: Weil der Verfasser schon 1922 starb, fand keine spätere Überarbeitung des Textes statt. Der Duktus des Berichts lässt vermuten, dass Pügner ein geübter Schreiber war.

Grundlage dieser Berichtsfassung sind maschinenschriftliche Aufzeichnungen, insgesamt 48 Seiten, die sich im Nachlass Hermann Neukamp, d.h. in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek (Sign. Ana 708), befinden. Andreas Pügner, der über seine Familie forscht, hat die Seiten transkribiert und zur Verfügung gestellt – dafür herzlichen Dank!
Die Wiedergabe erfolgt unverändert, die Kapitelüberschriften entsprechen dem Original. Der Redakteur hat die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und zugunsten der Übersichtlichkeit zusätzliche Absatzmarken eingefügt. Sachbezogene Anmerkungen des Redakteurs stehen in [ ] oder in den Fußnoten.
 jedoch wurde .

Übersicht:

  1. »Vor den Beschießungstagen«
  2. »Während der Beschießungstage«
  3. »Als Gewehrführer des MG No. 445
  4. »Die letzten Tage auf chinesischem Boden«
  5. »Ergebnis dieser drei Monate Krieg«

 

»Vor den Beschießungstagen vom 8. August bis 30. Oktober 1914«

Schön waren die Erinnerungen, die ich aus Japan mitnahm. Schön war der sonnenhelle Morgen, an dem ich am 2. August 1914 mit dem Japaner in Shanghai einlief. Wie schnell leider sollten diese schönen Träume zerstört werden. Kaum längsseits der Mole, kam der Agent an Bord und meldete: War declared in Europe – Krieg in Europa erklärt.

Bald wusste ich alle Einzelheiten. Tags darauf sprach ich beim General-Konsulat vor, wo man mir erklärte, dass ich auf Grund meines Militärpasses militärfrei sei. Für den Augenblick berührte mich diese Mitteilung angenehm, zumal ich mich körperlich nicht ganz wohl fühlte. Als aber am nächsten Tage der erste Schub Shanghaier nach Tsingtau abfuhr, wäre ich am liebsten sofort mitgegangen. Das Pflichtgefühl war stärker als die kühle Berechnung, und die Wut auf die englischen Gesellen half noch etwas nach. Zwei Tage später kamen meine Kantoner Bekannten durch Shanghai, um sich ebenfalls dem bedrohten Vaterlande in Tsingtau zu stellen.

Da gab es für mich kein Halten mehr. Am nächsten Abend, am 6. August, fuhr ich mit dem Nachtzuge von Shanghai über Nanking, Tsinanfu nach meiner alten Garnisonsstadt.1 In Nanking verbreitete sich das Gerücht, Italien habe unseren Gegnern den Krieg erklärt. Das kam den mit uns reisenden italienischen Matrosen von der Marco Polo, die nach Peking gingen, zugute. Wir sahen in ihnen bereits unsere Kameraden und teilten mit ihnen, was wir hatten. Da sie, weil in Uniform, die chinesische Regierung anhalten wollte, steckten wir sie in Zivilkleider und halfen ihnen weiter, soweit das in unseren Kräften stand. Wir waren wohl an die 80 Deutsche, die wir am 8. August in Tsingtau eintrafen und hier mit Regimentsmusik am Bahnhofe empfangen und nach den Bismarck-Kasernen gebracht wurden.

Vom Himmel goss es wolkenbruchartig. Auf dem Bataillonsbüro lieferte ich zunächst meine 5 Rollen Geld ab. Ich glaube, es waren $ 30000.- in Gold, die man mir in Shanghai auf dem Konsulat zwei Stunden vor Abfahrt eingehändigt hatte, ohne mich vom Inhalte zu unterrichten. Derartige Geldpakete wurden in diesen Tagen verschiedenen Herren mitgegeben und auf diese Weise noch allerlei bares Geld nach Tsingtau gebracht. Noch am gleichen Tage wurde ich mit meinen Kameraden in der Kaserne der 4. Kompanie untergebracht. Am nächsten Tage wurden wir den Kompanien zugeteilt und eingekleidet. Die bei dieser Gelegenheit erhaltene Erkennungsmarke und das Verbandpäckchen machten uns auf kommende ernste Tage aufmerksam. Ich trat zur 7., der Landwehr-Kompanie. Mit dem Dienst wurde tags drauf begonnen. Auf den Veranden und Korridoren wurden wir wieder zu Soldaten gemacht; auf dem Kasernenhof konnten wir, des anhaltenden Regens wegen, nicht exerzieren. Nach ungefähr einer Woche wurden wir nach den Iltiskasernen umquartiert. Von hier aus gingen wir jeden zweiten Tag nach Iltishuk zum Scharfschießen.

Die Stimmung war durchaus eine prachtvolle, und jeder Einzelne brannte mit Ungeduld darauf, die Franzosen, besonders aber die Engländer vor die Flinte zu bekommen. Aber wie anders kam es. Auch nicht einen einzigen dieser Herrschaften habe ich vor Tsingtau gesehen. Als durchsickerte, dass Japan uns ein Ultimatum gestellt hatte, Tsingtau zu räumen, wurde die Stimmung etwas gedrückt, da mit deren Eingreifen die Verteidigung von vornherein eine verlorene Sache war. Mitte des Monats war es wohl, als wir uns eines Nachts auf einen Überrumplungsversuch der Japaner vorbereiteten. Völlig angekleidet legten wir uns zu Bett, das Gewehr neben uns, sämtliche Türen verschlossen. Unnötige Vorsicht, da nichts geschah. Unsere Tokyoer Botschaft hatte uns telegraphisch diesen Bären aufgebunden.2

Am 18. August wurden wir Landwehrleute nach den Infanterie Werken [IW] 2 und 3 verlegt. Ich kam in das größere der beiden Werke, nach IW 2. Uns wurden hier noch einige aktive Mannschaften, Maschinengewehr- und Walllampen Leute [?], Kriegsfreiwillige und Ersatzreservisten zugeteilt. Die volle Besatzung betrug ungefähr 140 Mann. Wir Landwehrmänner setzten uns in erster Linie zusammen aus Kaufleuten aus China und Japan. Unser Werkkommandant war Hauptmann Schulz, die weiteren Offiziere Oberleutnant der Landwehr Schliecker, Leutnant außer Diensten von Seckendorff, beide ausgezeichnete Herren, und Leutnant der Reserve Zimmermann, den wir mitsamt unserm Herrn Hauptmann vorteilhafter entbehrt hätten. Unser Feldwebel Max Bunge hatte von Verteidigung und Organisation wohl die meiste Ahnung. Leider hatte er unter diesem Hauptmann nur wenig zu sagen.

Am frühen Morgen des zweiten Tages im Werk wurden wir durch Schüsse aufgeweckt. Noch wenig Ahnung in der hohen Kriegskunst, glaubten wir alle, jetzt geht's los. Dem war aber nicht so. Zwei Posten hatten auf einen Chinesen gefeuert, der sich von Tsingtau her dem Werke näherte. Nicht getroffen, hatte er von dem Attentate gar nichts gemerkt und ging seiner Beschäftigung weiter nach. Er war nicht wenig überrascht, als er plötzlich festgenommen und der Spionage verdächtigt wurde. Noch größer aber war die Überraschung unseres Postens, als er einen ganz alten Kuli vor sich sah, der in seinem verdächtigen Körbchen Rossäpfel aufgesammelt hatte.

Wir mochten eine Woche im Werk gewesen sein, als uns Pfarrer Winter besuchte, um uns das letzte Abendmahl zu reichen. Wem nicht die heilige Handlung zu Herzen ging, den feuerten die letzten Worte des Geistlichen an: »Nur über unsere Leichen soll der Weg der Räuber zum Signalberg gehen, um ihre Flagge zu hissen.«

In den ersten Wochen fuhr ich eines Morgens, ich hatte die einzigen 24 Stunden Urlaub hinter mir, mit einem Kameraden zurück nach dem Werk, seine Frau begleitete uns. Als wir am Friedhofe vorbei kamen, schrie sie plötzlich auf: »Da, da, sehen sie die Massengräber!« und sah uns beide schon darin liegen. Wir trösteten sie und versuchten, mit faulen Witzen darüber hinweg zu kommen, aber recht gelingen wollte uns das nicht. Nach den gewaltigen Dimensionen der Erdlöcher zu urteilen, schien uns ja ein frisches, fröhliches Schlachtfest bevorzustehen.

IW Zwo – Marinesprache, um Verwechslungen mit ähnlich klingenden Zahlen zu vermeiden – haben wir Kaufleute erst zu einem kriegsfertigen Werk ausgebaut. Die 4. Kompanie, die vor uns drin lag und ins Vorgelände geschickt wurde, hatte sich darum nicht gekümmert. Die erste Woche schliefen wir in den Kasematten, konnten es aber bald der übergroßen Hitze wegen nicht aushalten und errichteten uns vor dem Werk ein Zelt, das uns alle aufnahm. Hier verlebten wir in unserer freien Zeit recht gemütliche Stunden. Am Spätnachmittag kamen öfters die Tsingtauer Frauen, ihre Männer besuchen. Daraus wurde meistenteils ein allgemeiner Kaffeeklatsch. Den Kaffee brauten wir, den Kuchen hatten die Damen mitgebracht. Dass uns nicht zu wohl wurde, dafür sorgte unser Häuptling.

Gelände-Instruktion hörten wir jeden Tag. Entfernungen wurden eingepaukt wie auch das Verhalten in verschiedenen Fällen des Angriffs. Stellung besetzen wurde täglich zweimal geübt. In der übrigen Zeit brummte uns der hohe Herr Arbeitsdienst schlimmster Sorte auf; fast alles Arbeiten, die in den anderen Werken von Kulis geleistet wurden. Mit Betonplatten, Eisenschwellen, Balken, sechs Zentner schweren Eisenplatten bauten wir unsere Stellungen aus. Das ganze Material fuhren wir selbst an und schleppten es in die Stellungen. Alle diese ungewohnten Anstrengungen nahmen wir gern in Kauf; aber was uns empörte, war das wegwerfende, gehässige Benehmen unseres jugendlichen Herrn Werkkommandanten, der erst wenige Wochen vorher seine Beförderung erhalten hatte.

Anfangs leistete wohl ein jeder, soviel er konnte, handelte es sich doch um den eigenen Schutz. Die Arbeitsfreude erlahmte aber sehr bald. Welche Stellung wir ausgebaut und was immer wir zurechtgezimmert hatten, war für unsern Hauptmann aber nur Unsinn, Mist, Dreck, das er uns befahl, niederzureißen und neu aufzubauen. Ohne aber nähere Anordnungen zu geben, ließ er uns regelmäßig mit dieser Weisheit stehen. Diese Dreck- und Mistmanöver wiederholten sich 3, 4, auch 5 Mal, ehe wir unsern Häuptling nur einigermaßen befriedigen konnten. Auf diese Weise hat er es verstanden, eine Missstimmung und Unzufriedenheit in die Landwehrkompanie zu bringen, wie sie übler im Kriege schwerlich gedacht werden kann.

Ans Wacheschieben kamen wir anfänglich jeden vierten Tag, späterhin, als die Wachen verstärkt wurden, jeden zweiten bis dritten Tag. Die Unteroffiziere, zu Anfang als Wachthabende, zogen dann mangels genügender Mannschaften als Posten auf. Das letztere zog ich vor, denn das Sitzen im Wachtlokal wurde unter der Moskitoplage zur wirklichen Plage. Bei der späteren angestrengten Nachtarbeit kam es so weit, dass das Postenschieben als Erholung angesehen wurde. Und angenehm war es auch, in mondheller Nacht für sich allein zu sein nach dem ständigen engen Aufenthalt in den Kasematten. Der Himmel übersät mit Millionen von Sternen, im Vorgelände die Prinz-Heinrich-Berge, die Waldersee-Höhe in tiefster Ruhe, dahinter der volle Mond am wolkenlosen Himmel aufsteigend und die markanten Umrisse der massigen Kuppen scharf abhebend. Ein malerisches Bild, einzig schön in seiner Pracht, geschaffen zum Träumen und die gewaltige Allmacht auf sich einwirken zu lassen.

Ping, ping, ping ... verdammt ... vereinzelter Kugelwechsel im Vorgelände... alles wieder still. Die Gedanken fragen: Gibt es eine göttliche Allmacht, die solche wahnsinnige Unterschiede schafft? Ringsum der tiefe Friede und darin denkende Menschen, die sich gegenseitig kaltblütig hinmorden. Keiner kennt den andern, und keiner hat dem andern auch nur das Geringste zu Leide getan. Vergangene, schöne Stunden ziehen vorüber, aber auch so mancher Gedanke an das Kommende drängt sich auf. Hatte doch unser Gouverneur Meyer-Waldeck dem Kaiser telegraphiert: Stehe ein für äußerste Pflichterfüllung ... und auf Ersatz konnten wir nicht hoffen.

Wir vermuteten, dass einzelne Japaner versuchen würden, sich in die Werke zu schleichen, um hier mit Bomben vorzuarbeiten. Dadurch zu besonderer Wachsamkeit angespornt, blieb es nicht aus, dass wir des öfteren Gespenster sahen und auf Bäumchen, Sträucher und sonstiges sich im Winde Bewegende schossen.

Ein kleines Erlebnis, dass recht unangenehm hätte werden können, hatte ich eines Nachts auf der Wachstube. Auf der Pritsche schlafend, wachte ich gegen 2 Uhr morgens durch Rufe auf. Eine der Leuchtpatronenkisten, die zusammen mit Schiessmunition platzmangelshalber im Wachtraum aufgestapelt standen, war durch eine unvorsichtigerweise darunter gestellte Lampe in Brand geraten und die Sonderpackung [?] in der Kiste bereits angegangen. Die beiden wachenden Kameraden hatten dies erst im letzten Augenblick bemerkt, darum auch der Aufschrei. Ich springe auf, noch im Dusel, gieße Kaffee darüber. Im nächsten Augenblick packt der Geistesgegenwärtigste diesen Explosionskasten, trägt ihn hinaus und schüttet Wasser darüber. Wir waren gerettet; noch wenige Sekunden länger, und keiner von uns wäre am Leben geblieben.

In Aufregung setzte uns eines Nachts ein Alarm. Gegen 22:30 Uhr wurden wir durch tolles Geschieße aufgeweckt, dem unmittelbar großer Alarm folgte. Wenige Minuten später stand die Kompanie. Patrouillen wurden ins Vorgelände geschickt, die Frontlinie besetzt. Aber bald konnten wir wieder schlafen gehen; unser Nachbarwerk IW 3 hatte auf nicht vorhandene Feinde gefeuert. Für uns war dieser unerwartete Alarm jedenfalls viel wert. Er zeigte jedem, was er von sich und seinen Kameraden zu halten hatte; gab er uns doch den ersten Begriff vom »Der Feind ist da.«

Unserem IW waren fünf Maschinen Gewehre [MG] zugeteilt. Da die Kompanie zu wenig ausgebildete Mannschaften hatte, wurden Freiwillige verlangt, zu denen ich mich meldete. Mit der Ausbildung waren wir Neuen bald soweit, dass wir ans Scharfschießen gehen konnten. Das klappte recht gut und machte uns viel Freude. Weniger angenehm bei der Geschichte war das täglich zweimalige Stellung besetzen üben. Mit Gewehr und Munition den schmalen Weg aufwärts zur Frontlinie oder seitwärts den noch steileren Weg rauf zur Verbindungslinie, brachte uns immer ordentlich in Hitze und nicht nur körperlich, sondern auch gegen unseren andauernd nörgelnden und schimpfenden Häuptling.

Nach einiger Zeit wurden wir Landwehrunteroffiziere zu Gewehrführern eingestellt. Ehe wir aber zeigen konnten, was wir gelernt hatten, sollte es Ende Oktober werden, und dann haben wir das auch zur vollen Zufriedenheit aller getan. Vorher kam es unsererseits nur zu gelegentlichen Schießereien, wenn sich ein größerer Trupp Japaner in erreichbarer Nähe vorm Werk sehen ließ oder wir ihnen mit den MG entgegen gingen. Bis Ende Oktober aber hatte es unser Herr Hauptmann so eingerichtet, dass wir neben unserm MG-Dienst die übrige Tages- und Nachtzeit noch mit reichlich anderem von ihm angesetzten Dienst ausfüllen durften. Mit einer netten Nebenbeschäftigung hatte mich unser Feldwebel noch bedacht, indem er mich zum Korporalschaftsführer machte. Die mir zugeteilten 20 Mann waren die ältesten in der Kompanie, einige bereits dem Landsturm angehörend.

In das Einerlei der Kriegsvorbereitungen der ersten Wochen brachte uns der 22. August das erste Zusammentreffen mit dem Gegner, und zwar zur See. Der englische Torpedobootzerstörer Kennet hatte sich unserem [Torpedoboot] S 90 zum Kampfe gestellt, dessen letzten Teil wir gut verfolgen konnten, da der Gegner bis auf 12 km an unsere Küste heran kam. Der Engländer feuerte, was seine Geschütze hergaben. Nie aber hatte ich gedacht, dass die Briten derartig schlecht schießen würden. Fast alle seine Schüsse gingen 30 bis 50 % zu kurz. Als der bedeutend größere Gegner schließlich einen bösen Treffer erhalten hatte, der ihn einige Tote und Verwundete kostete, brach er das Gefecht schleunigst ab und verschwand nach Hongkong.

Am 27. August morgens tauchten die Japaner vor Tsingtau auf mit 1 großen, 3 kleinen Kreuzern und 4 Torpedobootzerstörern und nahmen die Blockade auf. Die Kreuzer gingen sofort gegen die uns ca. 15 km vorgelagerte Insel, den sogenannten »großen Heuhaufen«, vor und eröffneten zu unser aller Belustigung eine lebhafte Kanonade auf die von uns dort aufgestellten Ofenrohrkanonen.3 Nicht eher ruhten sie, bis sie diese Geschütze vernichtet hatten und ihren Sieg durch Hissen ihrer Kriegsflagge bekunden konnten. Die Bezwingung der deutschen Streitkräfte auf dieser Insel war tags drauf in den japanischen Zeitungen zu lesen.

Einen Monat später, am 27. September, donnerten unsere ersten Geschütze, die vom Iltisberg, nach dem Gegner hinüber. Große Freude lösten sie bei uns allen aus, aber bös' knallten sie uns in die Ohren, da wir, der Batterie vorgelagert, den Schall aus erster Hand bekamen. Tags drauf feuerten sie nach Litsun, um den gemeldeten gegnerischen Aufmarsch zu stören. Offenbar waren die Unsern auch gut im Ziele drin, denn bald wurden sie von See aus von dem englischen Panzerkreuzer Triumph mit 30,5ern bedacht.4 Sofort kam bei uns der Befehl durch: Volle Deckung, und keiner durfte die dicht verschlossenen Kasematten verlassen. Zu Anfang kam uns diese ängstliche Fürsorge lächerlich vor. Als uns aber die faustgroßen Granatsplitter gegen die Türen schlugen, bekehrten wir uns doch zu anderer Ansicht.

Unsere Gewehre, die im Zelte lagen, mussten wir unbedingt zur Hand haben, wussten wir doch nicht, was der Gegner vorhatte. Auf die Aufforderung »10 Freiwillige Gewehre holen« rannte ich mit meinen Kameraden nach vorn. Nach mehrmaligem hin und zurück hatten wir die Gewehre und uns wieder in Sicherheit. Während der später eingetretenen Feuerpause holten wir unsere übrigen Sachen herein, brachen das Zelt ab und lebten von jetzt ab im Werke. Am gleichen Vormittage konnte ich doch nicht unterlassen, in die rechte Verbindungslinie raufzuspringen, um das Feuer des Engländers zu beobachten. Lange hielt ich mich nicht auf. Schon die erste Granate, die offenbar zu kurz im Hindernis [vor] IW 1 einschlug, jagte einige Eisenstücke in meiner unmittelbaren Nähe vorbei und damit auch mich in die bombensicheren Räume zurück.

Mit Beginn der Schießerei traten allerlei Änderungen ein. Jeder Urlaub nach Tsingtau hörte auf. Die ganze Bewegungsfreiheit beschränkte sich auf unser kleines Werk. Der Dienst wurde erheblich anstrengender; da wir tagsüber nur während der Feuerpausen arbeiten konnten, mussten wir die Nacht zu Hilfe nehmen. Unser verehrter Herr Hauptmann strengte uns mit einem neuen Arbeitsprogramm aber gleich derartig an, dass nach ungefähr einer Woche die halbe Kompanie nachgerade auf dem Hunde war. Besonders beliebt machte er sich noch dadurch, dass er uns bei jeder Gelegenheit mit dem Revolver entgegen trat. Ging er durch die Räume, während die Leute schliefen, tat er das mit dem Revolver in der Hand. Ging er in der Dunkelheit durchs Werk, tat er das mit dem Revolver in der Hand. Revidierte er die Posten, tat er das mit dem Revolver in der Hand oder hielt dem Posten gar seinen Revolver vor.

Auf einem dieser Revisionsgänge durch die Räume bot sich ihm einst ein nettes Bildchen dar. Ein Kriegsfreiwilliger, dick und mit gesundem Schlafe, passte nicht recht in die schmale Koje und hing meistenteils mit einem gewissen Körperteile darüber hinaus. So auch an diesem Abende, zufällig aber unbekleidet. Ein böser Bube hatte ihm zu allem Überfluss einen Zigarrenstummel in die edelste aller menschlichen Leibesöffnungen gesteckt…

Leider hat sich unser Herr Hauptmann über diesen versinnbildlichten Gedanken eines ruhenden Ozeandampfers nicht ausgelassen. Seine militärischen Belehrungen waren ebenfalls von besonderer Güte. Brachte da bei einem Stellung-besetzen-üben seiner Meinung nach ein Vizefeldwebel die Leute nicht schnell genug in die Stellung. Vor der ganzen Kompanie erklärte er, jeden Vorgesetzten niederzuschießen, der im Ernstfalle seine Leute so langsam bewegen werde. Beim ersten gefechtsmäßigen Schießen der Aktiven am MG funktionierte die Geschichte nicht. Der Richtschütze, den der Häuptling durch Anschnauzen ordentlich verdreht gemacht hatte, konnte die Ladehemmung nicht beseitigen. Um für die Zukunft derartige Fälle auszuschalten, erklärte er den Leuten, er werde jeden niederschießen, den er wieder bei einer Ladehemmung anträfe.

Gott sei Dank wurden wir diesen Herrn bald los. Gegen Mitte Oktober ließ ihn ein gütiges Schicksal an Ruhr erkranken, wenigstens wurde der Kompanie so gesagt. Wie atmeten wir auf. An dieser Krankheit wurde er bis zum letzten Tage im Lazarett zurück gehalten. Und als er dann am 6. November telefonisch seine Ankunft für Nachmittag in IW 2 anmeldete, wollte es wieder das gleiche gütige Schicksal, dass er nach einem andern Platze befohlen wurde. Während des Häuptlings »Krankheit« übernahm unser Oberleutnant Schliecker die Führung des Werkes. Von diesem Augenblick ab wurde die Arbeitseinteilung vernünftig geregelt; wir fühlten uns wieder als Soldaten. Damit hob sich auch unsere Stimmung und unser Wohlbefinden. Und wie notwendig war das doch für die letzten Wochen. Jeder Einzelne tat wieder freudig seine Pflicht und viele auch ein gut Teil darüber.

Während der schweren Zeit frischten uns hauptsächlich die Siegesmeldungen der Unseren vom heimischen Kriegsschauplatz auf, die regelmäßig des Abends zur Parole vom Feldwebel bekanntgegeben wurden. Während der letzten Tage mussten wir zur Parole leider auch so manche Trauerbotschaft hören, denn so mancher von uns hatte sein Herzblut vergossen. Das Andenken der Braven ehrten wir auf einfache mililitärische Weise. Der Feldwebel erzählte in schlichten Worten den näheren Hergang, befahl »Still gestanden, Mützen ab«, eine kurze Pause, »Mützen auf«. Diese kurzen Augenblicke des Stillstehens waren feierliche Augenblicke, und wohl keiner unter uns, der beim »Mützen auf« nicht ein Würgen im Halse verspürte oder eine Träne im Auge zerdrückte.

Mit Beginn der Beschießung kamen auch die feindlichen Flieger. 4 Land- und 4 Wasserflugzeuge hatten die Japaner, die Tsingtau so reichlich, aber erfolglos mit Bomben bewarfen. Zu Anfang durfte nach ihnen schießen, wer wollte. Da aber keine Resultate erzielt, sondern nur Munition verpulvert wurde, schossen wir später nur geschlossen und auf Befehl des Kommandanten, allerdings mit gleichem Ergebnis. Leider ebenso erfolglos feuerten unsere Batterien, denen die Flieger-Abwehrgeschütze fehlten. Den Japanern erging es nicht besser. Unserer leichten Rumpler-Taube, geführt von Oberleutnant Plüschow, konnten sie nichts anhaben.

Vor unserem Werk stieg ein leichter Hügel an, der in ungefähr 800 m Entfernung seinen höchsten Punkt mit 58 m erreichte, danach Höhe 58 benannt. Die Besetzung der Höhe, respektive Patrouillen dahin, waren für uns von großer Wichtigkeit, da wir von hier aus die gegnerischen Bewegungen gut beobachten konnten und uns gleichzeitig vor einem plötzlichen Überfall sichern. Wir hatten hier einen Unterstand eingebaut, den wir bis Mitte Oktober ständig und in der zweiten Hälfte dieses Monats der Überrumplungsgefahr wegen nur tagsüber besetzt hielten. Von hier wurden Posten ausgestellt und Patrouillen gegangen. Bei der letzten Patrouille hier oben war ich dabei. In den Ravinen, die ich mit Unteroffizier Janssen durchstöberte, stellten wir aufgeworfene gegnerische Stellungen fest, die aber offenbar des lang anhaltenden Regens wegen wieder vergessen waren. Von den Japanern nicht belästigt, wurden wir dreister. Ohne Deckung gingen wir jenseits des steilen Abhanges der Höhe längs, obgleich wir wussten, dass der Gegner auf nur einige hundert Meter vor uns in Stellung lag und kleine Abteilungen vorgetrieben hatte.

Plötzlich: ping, ping; ich glaubte, von einigen Leuten unserer Patrouille sei geschossen worden, und schaute mich nach Janssen um. Den sah ich nicht: ping, ping. Da merkte ich, dass die Kugeln uns zugedacht waren und lag im Augenblick platt zur Erde in der Ackerfurche. Hm, was nun, seitwärts gab's kein Entweichen, also die Höhe rauf. Die chinesischen Bauern hatten den Abhang hier terrassenförmig angebaut. So mussten wir, immer in Erwartung auf neues Feuer, in 1 1/2-m-Sprüngen nach oben. Das gelang uns auch glücklich, trotzdem uns bei unserm Bergauf noch reichlich die blauen Bohnen um die Ohren sausten. Als wir uns in Sicherheit fühlten, erwiderten wir ihre Liebenswürdigkeiten in gleicher Weise, denn bald hatten wir festgestellt, woher die Schüsse kamen.

Vorher, als die Japaner bereits in den Prinz-Heinrich-Bergen lagen, gingen wir eines Nachts Patrouille, 25 Freiwillige unter Führung des Leutnants von Seckendorff. Unsere Aufgabe war, festzustellen, wie weit die Gelben bereits vorgedrungen waren. Schleichschuhe an den Füßen, die weißen Spiegel von der Litevka, National von der Mütze, ohne Patronentaschen, so zogen wir los, um uns nicht durch leuchtende Abzeichen oder Lederknarren zu verraten. Munition, 75 Patronen jeder, trugen wir in den Seitentaschen. In kleinen Abständen stahlen wir uns über die Mauer des Haupthindernisses, und halbwegs Höhe 58 sammelten wir uns. Kein Kommando mehr, jeder Einzelne wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Nach allen Seiten hatten wir gesichert. Sprungweise vorgehend, schleichend, kriechend, uns ganz dem Gelände anpassend, waren wir nach ca. zwei Stunden in den Bergen drin und in den vordersten Stellungen der Feinde. Kurz vorher hatten wir eine gegnerische Patrouille gesichtet, die uns aber offenbar auch erkannt hatte, da sie uns im gleichen Bogen auswich wie wir um sie herum. Sobald wir unsere Aufgabe gelöst hatten, drehten wir wieder heimwärts und waren gegen Mitternacht im Werk und stärkten uns an dem für uns gebrauten Glühwein.

Kurz vor den Beschießungstagen hieß es wieder einmal: »Freiwillige zur Deckung unserer Pioniere«, die im Vorgelände Minen legen mussten. Gegen 9 Uhr abends gingen wir 18 Mann, die wir uns dazu gemeldet hatten, in stockdunkler Nacht vor. Links seitwärts der von uns auf Höhe 58 ausgestellten Feldwache rutschten Unteroffizier Mahnfeldt, Unteroffizier Lehmann und ich in die ca. 10 m tiefe Ravine und krochen, kaum die Hand vor Augen sehend, tastend und stolpernd vorwärts, jeden Augenblick gewärtig, auf gegnerische Patrouillen zu stoßen, die sich hier wiederholt gezeigt hatten. Die übrigen Kameraden sicherten oben der Ravine längs, mit denen wir durch leise Pfeifsignale in Verbindung blieben. Jenseits der Höhe legten die Pioniere ihre Minen. Die Gegner waren so dicht an uns heran, dass wir sie sprechen hörten. Unsere Vermutung, dass sie unser Tun beobachtet hatten, bewahrheitete sich nicht, denn später wurde festgestellt, dass einige der Minen hochgegangen waren. Nach ca. 6 Stunden gelangten wir ohne Zwischenfall wieder im IW an.

Der 14. Oktober war ein Freudentag für uns. Die Huitschienhuk-Batterie hatte dem englischen Linienschiff Triumph einen Volltreffer mit einer 24-cm-Granate beigebracht, der mitten im Deck saß. Das war ein Toback, den er nicht ertragen konnte. Volle zwei Wochen ließ er uns in Frieden. Lange schon hatte uns dieser Kasten geärgert. Mit seinen weittragenden Geschützen konnte er wohl uns, nicht aber unsere Batterien ihn erreichen. Durch besondere Abänderung in der Geschützstellung langte sich der Huitschienhuk-Kommandant den Engländer aber doch.

Das war für die »dicken Japaner« Veranlassung, sich sofort in sichere Entfernung zurückzuziehen. Der 18. Oktober brachte uns ein noch besseres Stückchen. S 90 hatte die Kühnheit, sich in der Nacht an den eng geschlossenen Ring der Gegner heranzuschleichen – das Blockade-Geschwader hatte sich inzwischen auf 17 Linienschiffe, 2 Kanonenboote, eine Unzahl von Torpedobooten und Torpedobootszerstörern erhöht –, um dem japanischen Küstenkreuzer Takatschio einen Torpedo in den Bauch zu rennen. Das bekam dem Japsen so schlecht, dass er mit seiner ganzen Mannschaft in die Luft flog.

Am 28. Oktober begannen Japaner und Engländer von See aus ernsthaft mit der Beschießung der Iltisbatterie, die ihnen offenbar am meisten zu schaffen machte. Schon am ersten Abend glaubten wir, dass sie nach den erhaltenen 216 Schuss 28er und 30,5er vollständig zusammengeschossen sei. Desto größer war unsere Freude, als nach eingetretener Feuerpause gegen 6 Uhr abends ihre Schnellfeuergeschütze vollzählig den Gegnern einen vergnügten »Guten Abend« wünschten. Am nächsten Tage war das Feuer noch lebhafter. 236 der schweren Kaliber flogen nach dem Iltisberg. Nach den Einschlägen zu urteilen, die wir gut beobachtet hatten, musste der gegnerische Erfolg ein ausgezeichneter sein. Kurz nach 18 Uhr wieder derselbe kräftige Abendgruß wie tags zuvor. Auch nicht der geringste Schaden war angerichtet worden.
 

[2.] »Während der Beschießungstage vom 31. Oktober bis 7. November 1914«

Für den 31. Oktober, den Geburtstag des Mikado, erwarteten wir eine ganz besondere Überraschung. Hatten wir doch durch Kundschafter erfahren, dass Tsingtau an diesem Tage genommen werden sollte. Alles war in gewaltiger Spannung.

Um 6 Uhr morgens donnerten sämtliche Geschütze der gegnerischen Land- und Seestreitkräfte auf einmal los. Die planmäßige Beschießung Tsingtaus hatte begonnen. Frühstück und Mittagessen schienen die Bedienungen heute ganz vergessen zu haben. Die Tanks der Petroleumgesellschaften schossen sie in Brand, unsere Bismarckberg-Batterie beschädigten sie wie auch die Moltkekaserne und die Moltkebaracken. Nach Tsingtau jagten sie mehrere Geschosse hinein, die großen Materialschaden anrichteten. Sogar unsere Bierbrauerei hatten sie die Unverschämtheit, mit Knallbonbons zu bedenken. Im Übrigen aber war der gegnerische Erfolg auf Werke und Forts der, dass mitten in der Nacht, als wir hören und sehen konnten, wie sich die feindlichen Sturmkolonnen sammelten, unsere sämtlichen Batterien den heranrückenden Gegner mit vernichtendem Feuer überschütteten.

Den Sturm unterließ er daraufhin, selbst seine Artillerie schien sprachlos zu sein, da sie erst spät am nächsten Morgen ihr Maul wieder aufriss. Unsere Iltisberg-Batterie hatte schweres Feuer auszuhalten. An die 500 Schuss mochten heute hinaufgegangen sein, und nicht weniger waren es in den nächsten Tagen. Von feindlichen Fliegern wurde sie jetzt regelmäßig des Vor- und Nachmittags mit Bomben beehrt. Aber sie schien unverwundbar. Zeitweilig erwiderte sie auch tagsüber das Feuer.

Der schönste Augenblick für uns blieb aber doch der herzhafte Abendgruß, klang er doch immer wie ein Hohn auf die Hunderte von feindlichen Geschützen, die ohnmächtig auf sie losbellten und bissen. Wir waren stolz auf unsere Braven auf dem Iltisbuckel und bekundeten das jeden Abend mit lautem Hurrah, sobald wir ihren donnernden Abendgesang vernahmen. In den letzten Tagen hat diese Batterie noch kräftig unter den Söhnen Dai Nippons aufgeräumt. Deren erstes Ziel war darum auch, nachdem sie die Werke durchbrochen hatten, der Iltisberg. Und als sie den schließlich gestürmt hatten, fanden sie die Geschütze … gesprengt.

Am 31. Oktober wurde ich zum Wachthabenden der mit 12 Mann besetzten Kehlbauwache bestimmt. 5 Uhr abends zogen wir auf. Bis zum 31. Oktober hatten wir noch keinen Schuss in unser Werk bekommen, aber dafür wurden wir von jetzt ab desto reichlicher bedacht. Von früh 6 bis abends 6 zählten wir ca. 5 Schuss in der Minute, das auszurechnen, schon ein kleines Rechenexempel (4320 Schuss). Das Besetzen der Postenstände schien unmöglich; aber doch haben wir es getan. In kurzen Zeiträumen erkundigte ich mich durch das Sprachrohr nach dem Ergehen der Posten. Postenstand 8 hatte in den ersten Stunden am meisten auszuhalten, da hier die Granaten in unmittelbarer Nähe einschlugen. Die nur halb überdeckten Stände hatte ich sofort mit dicken Brettern und Sandsäcken überdeckt.

Die Vorsicht hatte sich gelohnt, denn in der Feuerpause stellten wir fest, dass in Postenstand 7 und 8 die Sandsäcke durchschlagen waren und die Bohlen aufgerissen. Sprengstücke von beträchtlicher Große lagen darauf. Gegen 6 kam Feldwebel Bunge und beauftragte mich, alle halben Stunden die Scheinwerfer in der linken und rechten Flanke leuchten zu lassen. Eine verdammt kitzlige Geschichte. Schon um an die Scheinwerfer-Stände zu kommen, war kein leichtes Stückchen, denn die Japaner schossen nach Dunkelwerden ununterbrochen mit Schrapnells.

Wir hatten schnell herausgefunden, dass nach einer bestimmten Anzahl von Schüssen ca. eine Minute Pause eintrat, die uns genügte, heil in die Stellungen zu kommen. Lies ich meine zwei Mann leuchten, krach, flogen uns die Schrapnells um die Ohren. Bald hatte ich festgestellt, woher die Schüsse kamen. Der helle Schein ihres Mündungsfeuers verriet sie in der Dunkelheit. Kaum sah ich das Aufleuchten, schrie ich: »Köppe weg«. Die wenigen Sekunden, ehe die Schrapnells da waren, reichten aus, um abzublenden und in Deckung zu gehen. Krepierten die Geschosse mir unmittelbar überm Kopfe, so glaubte ich wohl, mein letztes Stündlein sei gekommen. Das Gehör schien verletzt von dem schrillen Knall, die Augen schmerzten von dem grellen Explosionsfeuer der berstenden Geschosse. Ein brenzlicher Geruch stieg mir in die Nase. Die Schrapnellkugeln prasselten auf die drei Bretter, die ich zum Schutze über mich gelegt hatte, schlugen neben mir in die Stellungen ein, mir Sand und Steine gegen den Körper schleudernd. Die Hülsen fuhren surrend und heulend in den aufspritzenden Grund.

An diese harmlosen Scherzchen habe ich mich bald gewöhnt, ist doch während der sieben Beschießungstage von unserer Werkbesatzung nur ein Mann davon verwundet worden. Wir leuchteten, wie befohlen, jede halbe Stunde. Freilich mussten wir manchmal früher aufhören, als wir beabsichtigten, da uns die Japaner zu unanständig mit Schrapnellfeuer, und reagierten wir darauf nicht, mit Granaten eindeckten. Zum Schlafen bin ich in dieser Nacht nicht gekommen und sechs weitere schlaflose Nächte sollten noch folgen.

Gegen 8 Uhr am nächsten Morgen wurde das Granatfeuer derartig stark, dass ich die Posten einziehen musste. Noch im Laufe des Vormittags war Postenstand 8 ein Trümmerhaufen. Am Nachmittag wurde Postenstand 6 zusammengeschossen. Tagsüber beobachtete ich zeitweilig vom Kommandoturm, der für den Festungskommandanten in unserem Werk eingebaut, aber nicht benutzt war. Prachtvoll war das Schauspiel anzusehen. Granate um Granate schlug um mich herum ein, tiefe Wunden reißend. Gingen sie in allernächster Nähe nieder, so klappte ich wohl schnell das schmale Guckloch zu. Notwendig wäre es wohl nicht gewesen, rein mechanisch tat ich das. Wohl nur ein Zufall ist es zu nennen, dass keine der 28er auf dem Turm einschlug. Der Kruppsche Panzer hätte der wohl keinen Stand gehalten, und die Granate hätte bös' in unserer Wache aufgeräumt. Aber das Schicksal verschonte uns davor und tat das in den nächsten sechs Tagen und Nächten in noch oft sehr wunderbarer Weise. In diesen letzten Tagen versah ich fast ausschließlich noch MG-Dienst. Hier von soll der folgende Abschnitt erzählen.
 

[3.] »Als Gewehrführer des Maschinengewehrs No. 445 während der Beschießungstage vom 1. bis 7. November 1914«

Mein Gewehr wurde bedient von Gefreiter Hoppe als Richtschütze und Seesoldat Meyer als Schütze 3. Während der Beschießungstage hielten wir es so, dass wir erst gegen Abend das MG in Stellung brachten, da von dieser Zeit ab 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens das ungemein heftige Artilleriefeuer etwas nachließ. Tagsüber war das Verlassen der bombensicheren Räume so ziemlich ausgeschlossen. Solange wir nicht die Bekanntschaft mit der Wirkung der 15er, 21er und 28er gemacht hatten, fühlten wir uns in unsern besonders befestigten Maschinengewehr-Unterständen sehr sicher. Die Unterstände hatten wir unter fachkundiger Aufsicht gleich nach Beziehen des Infanterie-Werks selbst ausgebaut. Mit 20-cm-Balken waren sie versteift und überdacht mit 12-mm-Eisenplatten mit Eisenbetonplattenauflage, die noch eine 15-cm-Betonschicht deckte.

Wie wenig Schutz die gegen die schweren Kaliber boten, mussten wir gleich in den Anfangstagen der Beschießung erfahren. Als wir nach eingetretener Feuerpause am 1. November gegen 6 abends den Befehl erhielten »Sofort rauf zur Frontlinie zu Aufräumungsarbeiten«, da fröstelte wohl jeder Einzelne bei dem Anblick, der sich ihm bot, so winterlich sah es aus. Auf den Böschungen war von dem angepflanzten Grün nichts mehr zu sehen. Alles war von den Geschossen durchwühlt. Hier und da lag ein Blindgänger als schauriger Gruß aus dem ungleichen Kampfe. Nun gar mein Unterstand, der mir in der rechten Frontlinie zugewiesen war. Durch die Überdachung der linken Hälfte waren die Granaten glatt durchgeschlagen und hatten im Innern des Standes bös' gehaust. Nach einer Stunde harter Arbeit hatten wir soweit aufgeräumt und den Stand mit Hilfe von Sandsäcken soweit ausgeflickt, dass wir wenigstens das Gewehr wieder in Stellung bringen konnten. Die Nacht über wechselten wir uns mit Wache am Gewehr und Beobachtung zweistündig ab. Die Freihabenden ruhten sich in dem gegen Artilleriefeuer eingebauten Unterstande aus. Am Schlafen war nicht zu denken, sowohl des anhaltenden Feuerlärmes wie auch des Platzmangels und der eingetretenen Kälte wegen nicht. Zu sehen bekamen wir vom Feinde in dieser wie auch in den nächsten Nächten wenig, jedenfalls nicht genug, um mit dem MG dazwischen zu funken.

Wohl kam aller Augenblicke ein Kamerad, um meine von Aufmerksamkeit auf vereinzelte Japaner zu lenken, die von unseren Scheinwerfern erfasst waren. Bitter enttäuscht verzog er sich, sobald ich ihm erklärte, dass das ja die gegebenen Ziele für Infanterie-Schützen seien. Bald wurde ich gefoppt, dass wir nicht schießen könnten und wohl überhaupt nicht mit dem Gewehr umgehen. Sie alle sollten noch eines Besseren belehrt werden, was sich noch am Besten in der allgemeinen Anerkennung kundgab, die uns am Schlusse gezollt wurde.

Die verheerende Wirkung der feindlichen schweren Artillerie sollten wir von Tag zu Tag mehr kennen lernen. Die ganze Frontlinie, insbesondere die MG-Stände, wurden mehr und mehr zu Trümmerhaufen geschossen. Ich war glücklich genug, den meinen bis zur letzten Stunde benutzen zu können, da die Schiessluke immer nur so beschädigt wurde, dass ich sie wieder ausflicken konnte. Weniger glücklich war mein rechter, durch eine Betonwand von mir getrennter Nachbar Unteroffizier Geier, dessen Stand am fünften Tage vollständig dienstunfähig geschossen wurde. Wir beide verständigten uns über Feuerverteilung und wechselten uns auch im Schießen ab, um auf alle Fälle ein Gewehr immer klar zu haben. Nach dem dritten Beschießungstage war mein MG-Stand ziemlich übel zugerichtet. Die 12-mm-Eisenplatten lagen aufgerollt mehrere Meter weit weg auf der Böschung. Von Betonplatten und Betonauf1age war nur hier und da noch etwas zu sehen, sodass uns viel Schutz nicht mehr blieb. Da meine Beobachtungsluke aufgehört hatte zu existieren, musste ich raus unter freien Himmel.

Ich konnte mich immer noch freuen über die mondhellen Nächte und die über unserem schmalen Befestigungsraum sich kreuzenden Feuerströme. Die Schrapnells störten die friedliche Stimmung nicht besonders. Nur die Granaten verursachten gelegentliches Unbehagen. Gegen Schrapnelle hatten wir uns Schrapnellmützen gebaut, indem wir die Mützen mit Zeitungen, Handtüchern etc. ausgepolstert hatten. Wenn auch im Falle des Treffens kaum genügender Schutz, so hoben sie doch das Gefühl der eigenen Sicherheit.

Die Japaner, die wir im Sturme von der uns gegenüberliegenden Höhe 58 her erwarteten, spielten uns einen derben, ganz unvorschriftsmäßigen Streich. Sie gingen in Schützengräben auf den toten Punkt unseres Werkes und den von IW 3 vor. Auf diese Weise gaben sie uns, abgesehen von den letzten beiden Tagen, nur wenig Gelegenheit zum Schießen. In der fünften Nacht endlich konnte ich das gründlich nachholen. Das löste die Spannung der Nerven und machte uns lebendig.

Als ich dann noch am kommenden Morgen den Befehl erhielt, zur Unterstützung in die linke Frontlinie zu rücken, war die Freude groß, und ordentlich haben wir hingelangt. Unsere Resultate schienen gut zu sein, denn bald war »dicke Luft« für uns. Granaten und Schrapnells flogen uns ununterbrochen um die Ohren, dass wir schließlich gezwungen waren, den Stand zu räumen. Kurz vor Verlassen schlug hier eine Granate ein, durchschlug die Sandsäcke, die uns vom Nebenstand trennten und krepierte dort mit lautem Gebrüll. Einen Augenblick später war ich auf der anderen Seite, um mich nach dem Ergehen meiner Kameraden zu erkundigen. Glücklicherweise waren die einen Augenblick vorher weggelaufen, denn sonst wäre es denen wohl schlecht ergangen.

In der sechsten Nacht musste ich feststellen, dass die Japaner ganz erheblich vorwärts gekommen waren und bereits einen Schützengraben unmittelbar vor unserm Werk ausgehoben hatten. Von hier aus beschäftigten sie uns mit Maschinengewehren und kleineren Abteilungen Infanterie. Das gab wieder frische fröhliche Arbeit für uns. Um die gegnerischen Erwiderungen kümmerten wir uns nicht, da wir den Sturm in dieser Nacht vermuteten, und den wollten wir auf alle Fälle abweisen. Erst mit Tagesgrauen stellten wir unser Feuer ein und verdeckten die Schießluke, wie wir das jeden Morgen getan hatten. Nur sollte das heute das letzte Mal gewesen sein. Kaum hatten wir Gewehr und Munition zur Kaserne gebracht, so setzte die feindliche schwere Artillerie wieder mit aller Macht ein. Wir alle bangten um die letzten Trümmer unserer Frontlinie, die uns bislang noch einigermaßen Schutz geboten hatte. Und unsere Vermutung sollte uns nicht täuschen. Bös hatte der Gegner gewütet und gut für die kommende Sturmnacht vorgearbeitet.

Hier muss ich noch einige Worte über den Aufenthalt tagsüber in der Kaserne einfügen. In den ersten Tagen war die Stimmung eine ausgezeichnete. Die Infanterie-Schützen lösten sich immer so ab, dass sie jede zweite oder dritte Nacht ihre Nachtruhe hatten, so waren sie nie überanstrengt. In meinem Raume, dem Bereitschaftsraum links, wurden in einer Ecke die Vorgänge der letzten Nacht besprochen, in einer andern lustige Soldatenlieder gesungen, hier an einem Tische Karten gespielt und Bier getrunken, dort die letzten Reste von Wurst und Schinken verzehrt. Alles Krachen der feindlichen Geschütze verursachte nicht viel Störung. Nur das Krepieren der größeren Haubitzen-Geschosse ließ uns manchmal zusammenschrecken. Besonders dann wurden wir an das böse Toben draußen erinnert, wenn die 28er auf unserer Kaserne einschlugen, dass wir meinten, die Decke stürze ein, um uns alle zu begraben, oder wenn die Steilgeschosse unmittelbar vor der Kaserne herunterkamen und uns mit aller Wucht Spreng- und Felsstücke gegen unsere Eisentüren und Fenster schleuderten.

Zu Ende der Beschießungstage wurden die Nerven doch recht kaputt. Was Wunder auch. All das ununterbrochene Getöse, die große Anstrengung, Aufregung und der Aufenthalt tagsüber in den vollbesetzten, dumpfen Räumen, der entbehrte Schlaf sollten wohl den Körper und noch mehr die Nerven mitnehmen. Bei jeden Einzelnen äußerte sich das. Die einen wurden reizbar, die andern hatten das Bedürfnis, ständig zu erzählen, wieder andere lagen apathisch auf ihrem Bette und dachten wohl an Frau und Kind und das Ende. Und kam in diesen Stunden, die den Schlaf flohen, die Überlegung, die das Hoffnungslose der Sache vor Augen führte, die sagte, das Ende ist ein sinnloses Hinschlachten im Handgemenge, erinnerte sie daran, was uns in den Anfangstagen ein nach Japan abkommandiert gewesener Oberleutnant über die Kampfesweise der Japaner erzählte: Im Nahkampfe besonders ausgebildet, seien sie uns allen ausnahmslos überlegen. Die Seitengewehre waren daraufhin in unserm Werk außer Gebrauch gesetzt. So regte sich wohl auch der [innere] Schweinehund. Aber das Wort eines Kameraden, irgendeine Störung, rüttelte die Nerven wieder zurecht und der Wille zum Aushalten, wie immer es auch kommen möge, war wieder da.

Ich erinnere mich noch, wie mir Heinrich Ahrens am sechsten Tage die Trauerbotschaft vom Tode unseres Kameraden Hagmann mitteilte. Ich hatte an die zwei Stunden auf dem Bette gelegen, ohne Schlaf zu finden, und war eben etwas eingeduselt. Ahrens kommt und rüttelt mich wach, um mir zu sagen, dass Hagemann von einer Granate erschlagen sei. Am liebsten hätte ich Ahrens eine Grobheit gesagt dafür, dass er mich aufgeweckt hatte, so abgestumpft war ich selbst gegen solche Nachrichten. Sieben volle Tage hatte ich kein Tageslicht gesehen. Zu wirklichen Schlaf bin ich während all dieser Zeit nicht eine Stunde gekommen. Zu Anfang der fidelen Stimmung in der Kaserne wegen nicht, und zum Schluss ließen das die Nerven nicht zu.

So kam schließlich die siebte Nacht heran. Eben dabei, mit meiner Mannschaft die Kasematten zu verlassen und das Gewehr in Stellung zu bringen, kommt ein mir befreundeter Kanton-Mann vorbei. »Heute Nacht kommen sie«, nickten wir uns zu, mussten wir doch aus all den heutigen Vorbereitungen den Sturm erwarten. Ein Händedruck und ein »Auf Wiedersehen« ließen uns voneinander scheiden. In diesem Augenblick kam mir die tiefinnerste Bedeutung des sonst so leichthin gesprochenen »Auf Wiedersehen« das erste Mal zum vollen Bewusstsein. Und würden wir uns wohl am kommenden Morgen wiedersehen? Als ich bei meinem Stande anlangte, schien es mir, als habe es der Feind nur auf den abgesehen gehabt. Soweit der sich noch ausbessern ließ, taten wir das. Ununterbrochen wurden wir in dieser Nacht mit allen Kalibern der Artillerie, Maschinengewehren, Infanterie und Minenwerfern bearbeitet.

Aber ebenso rührig waren auch wir. In dieser Nacht wurde so manches Tausend Patronen durch mein Gewehr gejagt. In der Hauptsache nahm ich die gegnerischen Maschinengewehre aufs Korn. Durch ihren ständigen Platzwechsel waren die nur so zu fassen, dass ich ihr Schießen abwartete, sich so durch das Mündungsfeuer verratend; dann aber brachte ich sie meistens schnell zum Schweigen. Prächtig war das tolle Kampfgetöse in dieser Nacht anzuhören. Die feindlichen Maschinengewehre klangen wie helles, teuflisches Lachen. Die Schrapnells krepierten mit klirrendem Getöse, die japanischen Infanterie-Kugeln pfiffen uns mit hellem Klange um die Ohren, die Minenwerfer-Bomben explodierten mit dumpfen Geknall. Die Leuchtgeschosse, unsere und gegnerische, machten die Nacht zum Tage. Die gegnerische Artillerie gab her, soviel sie konnte. Die Unsere schlug von den Höhen und aus den Zwischenstreichen ihre wuchtige Antwort zurück. Unheimlich klang das Surren der vorbeisausenden Sprengstücke, wenn die Granaten in unmittelbarer Nähe zerschellten. Einen Sandsack nach dem andern, die wir kurz vorher auf den Stand geworfen hatten, fegten sie weg. Stück um Stück riesen sie vom Gebälk herunter.

Bis gegen 1 Uhr morgens war ich in meinem Unterstande. Die reichliche Bewegung, ein Schluck Cognac ab und zu, ließ uns trotz der Kälte die Glieder nicht steif werden. Hier schienen wir gefeit gegen den feindlichen Bleihagel. Kein Artilleriegeschoss schlug durch die Schießluke. Gegen Infanterie- und Maschinen-Gewehr schützten uns die Stahlblenden. Kein Artillerie-Geschoss, kein Sprengstück, keine Gewehrkugel traf uns beim öfteren Munition- und Wasserholen. Nach 1 Uhr kam Unteroffizier Leist, der die Führung der MG unter sich hatte, mit dem Bescheide, dass IW 3 soeben von den Japanern gestürmt würde und mein Gewehr sofort zur Unterstützung nach dem linken Schulterpunkt müsse. Hoppe und ich hasteten, so schnell wir konnten, nach der angegebenen Stelle bergauf, bergab, denn vom Wege längs der Frontlinie war kaum mehr etwas vorhanden. Munition brachte Gefreiter der Landwehr Franz, der mir in dieser Nacht zugeteilt wurde. Wir besetzten hier einen Notstand, den wir erst unlängst gebaut hatten und der ohne Deckung war. Schutzschilde hatten wir weder Zeit noch Hände genug, um mitzunehmen, und so schossen wir, frei auf dem Walle stehend, auf das uns von Unteroffizier Hinney beschriebene Ziel, die Durchbruchstelle im Haupthindernis von IW 3. Erwähnter stand neben uns und beobachtete mit seinem Fernglas die Bewegungen des Feindes. Da Meyer und Franz noch Material heran holten, führte Leist Patronen zu.

Wir hatten, ich weiß nicht, wieviel Gurte durchgejagt, als mir Leist zurief, einen Ersatzlauf zum Auswechseln zu holen. Ich eilte nach meinem Stande. Unterwegs wurde ich auf das gegnerische Flankenfeuer aufmerksam gemacht, das die ganze Frontlinie bestrich. Keiner von uns am Gewehr hatte in der Aufregung, wohl auch durch das ununterbrochene eigene Geknatter des Schießens bemerkt, dass uns bereits die Japaner von der rechten IW-3-Flanke aus unter Feuer hielten. Als ich kurz darauf zurückkehrte, brachte man am Nordraum einen Kameraden auf der Bahre an mir vorüber. In der Eile konnte ich nicht feststellen, wer das war, sollte das aber bald erfahren.

Zu meiner Bestürzung musste ich, bei meinem Gewehr angekommen, sehen, dass das ohne Bedienung oben auf dem Walle stand. Ein Schütze von den Maschinen-Kanonen kam im gleichen Augenblicke, mir zu sagen, das Gewehr solle nach meinem Stand zurück; was sonst geschehen war, wusste er nicht. Das Gewehr hatte sich in der Holzunterlege festgehakt. Also wieder rauf auf den Wall. Franz, der inzwischen zurück gekommen war, und ich drückten es mit den Schultern aus der unfreiwillig verankerten Stellung. In der Frontlinie erfuhr ich von Leist, dass Hoppe einen Halsschuss erhalten hatte und sofort verschieden war. Ferner, dass Hinney, der mich so vorzüglich im Beobachten unterstützt hatte, fast zur gleichen Zeit durch Knieschuss erledigt wurde. Wie ging mir doch der arme Hoppe nahe, der sich so außerordentlich brav benommen hatte und um sein 445 immer sehr besorgt gewesen war.

Kopfhängen ließ ich aber nicht aufkommen. Wir brachten das Gewehr zurück zum alten Stand und nahmen hier das Feuer wieder auf. Mein Gewehr mag wohl eine gute Stunde am linken Schulterpunkt tätig gewesen sein. Wir hatten die Strecke von Haupt- bis Werkhindernis von IW 3 ständig unter Feuer. Hier brachen die Gegner durch und wollten einen Schutzwall aus Sandsäcken gegen uns aufbauen. Ab und zu funkten wir in das gesprengte Blockhaus 5, das die Japaner besetzt hatten, und aus dem zeitweilig einige Kerls hervorstießen. Nach Hinneys Beobachtung, der uns aller Augenblicke mit »gut, gut« anfeuerte, sollen wir dem Gegner ganz erhebliche Verluste beigebracht haben. Die feindliche Artillerie hatte unsere Stellung recht schnell erkannt, nur brachte sie es nicht fertig, uns daraus zu verdrängen. Wir kümmerten uns kaum darum. Platzten die Schrapnells in unserer unmittelbaren Nähe, dass uns Augen und Ohren schmerzten, so ließen sie uns wohl für einen Augenblick stutzen, aber auch nicht länger. Wer uns erledigte, waren die gegnerischen Schützen, die bereits in der rechten Verbindungslinie von IW 3 lagen und deren Feuer wir, wie schon vorerwähnt, nicht bemerkt hatten. Ein Kunststück für sie war es nicht. Die Entfernung, die uns von ihnen trennte, war eine kurze. Das starke Mündungsfeuer unseres andauernden Kugelstromes gab ihnen einen sicheren Haltepunkt, und ohne Deckung standen wir oben auf dem Wall.

Das Gewehr, das bis dahin ohne Störung geschossen hatte, arbeitete jetzt nicht mehr recht. Ich konnte nicht feststellen, woran die Störung lag. Nachdem ich noch einige Gurte verfeuert hatte, setzte der Mechanismus ganz aus. Leist, der nach einiger Zeit kam, fand zunächst den Grund der Störung auch nicht. Erst nach längerer Untersuchung stellten wir fest, dass das Gewehr hinten am Abzugssteg einen Schuss erhalten hatte. Leist erklärte mir, dass es sich nicht mehr in Ordnung bringen ließe. IW 3 hatte sich übergeben. Wir hatten die Anweisung »zurück zur Kaserne«, sobald die Japaner im Haupthindernis seien, der Befehl würde rechtzeitig erfolgen, um es nicht zum Nahkampfe kommen zu lassen. Lange also hatten wir nicht mehr.

Den Japanern wollte ich mein MG 445 nicht als Andenken hinterlassen. Mit dem Schutzschilde zerschlug ich es, soweit das möglich war. Wehmütig griff ich zu meinem Infanteriegewehr und kam mir sehr klein vor, als ich wieder Schuss um Schuss einzeln abgeben musste. Ich tröstete mich mit den Artilleristen, denen es nicht besser erging. Die meisten von ihnen hatten ihre Munition verschossen und ihre Geschütze gesprengt. Eine gute Viertelstunde mochte ich mit der Einzelschießerei zugebracht haben, als der Befehl kam, zurück in die Kaserne. Bald darauf, es war gegen 5 Uhr morgens, hörten wir die Japaner vor den Türen. Wir rechneten mit sofortiger Übergabe. Da plötzlich ein Befehl: »Die Gewehre schussbereit halten. Möglicherweise wird es in den Kasematten zum Nahkampfe kommen!« Die letzte Anforderung an unsere Nerven. Es kam nicht mehr dazu.

Nachdem unser Werk übergeben war, ging ich zum letzten Male zur Frontlinie, sah mir im Sonnenscheine an, wie der Feind gewütet hatte. Ein Neuling hätte glauben mögen, dass in einer solchen Szenerie von Zerstörung auch nicht ein Mann das Bombardement habe überleben können. Die Japaner gestatteten uns, unsere gefallenen Kameraden zu begraben. Meinen treuen Hoppe trugen wir MG-Schützen zur letzten Ruhestätte. Das war nicht weit. Gleich hinterm Werk wurde er mit den anderen beiden Braven, die während der beiden letzten Nächte in unserem Werk gefallen waren, zur letzten Ruhe gebettet. Während wir das Grab aushoben, brachten uns die Japaner die Meldung, dass im linken Zwischenstreiche ein toter deutscher Soldat liege. Zwei Mann von uns, unter Bedeckung hingeführt, brachten die Leiche eines Artilleristen, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, die einzelnen Gliedmaßen, soweit auffindbar, in einer Zeltbahn geborgen. Wir betteten ihn im gemeinsamen Grabe neben den Unseren. Vier schmucklose Holzkreuze geben Kunde davon, dass hier vier tapfere deutsche Soldaten ruhen. Unser Kamerad Wannags, Missionar aus Südchina, widmete ihnen die letzten Worte, und wohl keiner stand dabei, dem sich nicht eine Träne in die Augen stahl. »Ehre dem Andenken der gefallenen Kameraden!« So manchem von uns haben die letzten 14 Tage bös zugesetzt.

Als alles vorüber war, zog sich bei vielen so manche Falte durchs Gesicht, die von dem Durchlebten sprach, und mancher eher grau gewordene Kopf zeugte von vergangenen schweren Tagen. Mir tönte noch lange die wahnsinnige Schlachtenmusik in den Ohren nach. Unser Werk hatte sich gut gehalten. Das wurde uns von den Japanern unumwunden zugestanden und auch dadurch bestätigt, dass sie in unserem Werke eine Verteidigungsmannschaft von 1200 Mann vermuteten. Denn als wir nach Übergabe von den Japanern gezählt wurden, erkundigte sich der japanische Offizier, wo denn die übrigen 1000 Mann seien. Unseren Aussagen, dass die Besatzung nur 200 Mann betrüge, schenkte er keinen Glauben. In der letzten Nacht hatten wir zu unseren 140 Mann noch ca. 65 Mann Verstärkung bekommen, Leute von gesprengten Geschützen, die keine Munition mehr hatten. Erst als er das Werk allerwärts durchsucht hatte und uns wiederholt nachgezählt, fand er sich mit der bestehenden Tatsache ab.

Überrascht waren die Japaner über die geringen Menschenverluste, die sie uns durch ihre Artillerie beigebracht hatten. Nach dem Zählen traten wir zurück in die Kasematten, uns für den Abmarsch fertig zu machen. Zu unserem Erstaunen fanden wir verschiedene unserer Koffer aufgerissen und geplündert. Mehrere japanische Soldaten hatten die Gelegenheit benutzt, in unsere Räume einzudringen und über unsere Sachen herzufallen. Im Feldwebelbüro hatten sie die dort im Schreibtisch aufbewahrte goldene Uhr unseres gefallenen Kameraden Hagemann und andere Wertsachen gestohlen. Beschwerden und Reklamationen blieben erfolglos.
 

[4.] »Die letzten Tage auf chinesischem Boden bis zum Abtransport nach Japan«

Am 7. November nachmittags zogen wir mit dem Allernotwendigsten im Päckchen in die Gefangenschaft. Auf dem Wege längs der Zwischenstreiche 2-3 mussten wir sehen, wie entsetzlich auch hier das schwere Feuer gewütet hatte. Artillerie- und Infanterie-Unterstände, alles war zusammen geschossen. So mancher von den Unsern war hier geblieben. Davon zeugten die frischen Blutlachen zwischen den Trümmern und die abgerissenen Gliedmaßen, die hier und da herumlagen.

Wir waren wohl 1500 Mann, die wir gegen 8 Uhr abends in dem Chinesennest Taputung bei voller Dunkelheit anlangten. Hier fühlten wir, dass wir macht- und rechtlose Gefangene waren. Schlimmer als das Vieh wurden wir behandelt. Auf offenem Felde wurden wir in kleine, durch Stricke abgezäunte Plätze eingetrieben. Die Nacht war feuchtkalt, der Erdboden vom Regen durchweicht. Zu Essen gab es nichts. Vorhandenes Stroh, das wir hätten unterlegen können, gab man uns nicht, und so legten wir uns übermüdet in den Dreck. Um etwas Wärme zu finden, drängten wir uns dicht aneinander. Aber eingeschlafen ist kaum einer, denn bald wurden die erschlafften Körper vom Frost durchschüttelt, und ringsumher war ein leises Wimmern aus vieler Munde zu vernehmen. Gegen Mitternacht brannten wir Lagerfeuer, an denen sich knapp 100 Mann wärmen konnten, und wir waren 1500.

Am kommenden Tage wurde es etwas besser. Wir wurden in Chinesenhäusern einquartiert. Nachdem wir die Löcher ordentlich ausgemistet hatten und ordentlich Reisig hineingeschleppt, war es ganz wohnlich darin. Jedenfalls hatten wir endlich Ruhe zum Schlafen. Ganz ungestört war der Schlaf allerdings nicht, denn unter lautem »Achtung Schrapnell«, »da sind sie ja« und dergleichen wurden wir von Zeit zu Zeit aufgerüttelt. Das kurz Vorhergegangene beschäftigte die überreizten Nerven noch zu stark. Aus den wenigen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bereiteten wir uns die schmackhaftesten Gerichte. Ein Kamerad ging während der vier Tage, die wir hier zubrachten, jeden Morgen einkaufen. Er brachte Kartoffeln, Zwiebeln, Rüben usw., die mit dem uns von den Japanern gelieferten Hartbrot und Büchsenfleisch eine feine Suppe abgaben. Ich weiß sicher, dass unser Einkäufer kein Geld im Beutel trug. Er wusste offenbar, wie er's zu machen [hatte], er war schon 1900 dabeigewesen.

Hier in Taputung tauschten wir zuerst unsere jüngsten Erlebnisse aus, deren ich nur die folgenden erwähnen will. Mein alter Bekannter Weise, der in IW 3 die Kämpfe mitgemacht hatte, erzählte mir, wie es kam, dass der Gegner bei ihnen zuerst durchgebrochen war, erzählte, dass auch in seinem Werk die Gelben geplündert hatten und ihm selbst unter Drohung seine Armuhr abgenommen. Ich erfuhr, dass japanische Soldaten in der Stadt drinnen geräubert und in Privathäusern geplündert hatten und offenbar das Handwerk zu gut betrieben, denn 60 Mann wurden aus diesem Grunde erschossen.5

Hier traf ich auch mit Kamerad Janssen wieder zusammen, der während der letzten acht Tage als Beobachter beim großen Scheinwerfer (auf halber Höhe Bismarckberg) beschäftigt gewesen war. Er hatte von dieser Stellung aus Übersicht über das ganze Gelände gehabt und sein besonderes Augenmerk auf IW 2 geworfen. Er sagte mir, er sei erstaunt gewesen, so viele von uns wiederzusehen. Mit einem ganz gewaltigen Verluste unsererseits habe er gerechnet und nicht geglaubt, die Hälfte wieder zu finden. Das Feuer der letzten sieben Tage auf unser Werk sei ein ganz fürchterliches gewesen. Er erzählte mir ferner ein japanisches Stückchen, das uns Westeuropäer recht asiatisch anmutet. Nachdem er gefangengenommen war, beobachtete er, wie ein japanischer Soldat einem toten Chinesen, den eine Kugel auf seinem friedlichen Wege niedergerissen hatte, wiederholt das Bajonett in den Leib rannte und einen großen Fetzen Leintuch hineintrieb. Recht schnell wurde Janssen aufgeklärt: Der scheinbar Wahnsinnige färbte sich eine Kriegsflagge, die blutigrot aufgehende japanische Sonne, die er an seinem aufgepflanzten Bajonett befestigte.
 

[5.] »Ergebnis dieser drei Monate Krieg«

Das III. Seebataillon und die fünf Kompanien Matrosen-Artillerie waren von der japanischen Land- und Seemacht besiegt worden. Aber der Kampf um Tsingtau ist für die Japaner und Engländer sicher kein Ruhmesblatt, das sie als solches in ihrer Kriegsgeschichte vermerken können. Tsingtau war in erster Linie keine moderne Festung, sondern nur eine bessere Feldstellung. Es war ein so ungleicher Kampf, wie deren wohl nur wenige in der Kriegsgeschichte zu finden sind, sowohl was Artillerie wie nummerische Überlegenheit des Gegners anbetrifft. Wir hatten 114 Geschütze, von denen 6 alte waren. Sie setzten sich zusammen aus folgenden Kalibern: 12 schweren - 28 cm), 30 mittel (12 & 15 cm) und 72 leichten (4,7 - 10,5 cm). Denen standen gegenüber: 252 moderne Geschütze, die sich zusammensetzten aus 50 schweren (4 Stück 38er, 14 Stück 30,5er, 8 Stück 28er, 20 Stück 20-25,5 cm), 136 mittel und 66 leichten Kalibern.

Zu Ende der Beschießungstage wurde das Verhältnis noch ungünstiger, da ein großer Teil unserer Artillerie zusehen musste, wie die Japaner näher und näher kamen, ihre Munition war erschöpft. 4500 Mann, von denen nur 3000, durch Ausfall an Toten, Verwundeten und durchschnittlich 400 Kranken nur 2250, in der Feuerlinie waren, standen gegen 140000 Japaner, die der Mikado gegen Tsingtau mobil gemacht hatte. Hiervon lagen ca. 50000 Mann vor Tsingtau, 15000 hielten die Verbindungen in Schantung aufrecht, der Rest verteilte sich auf die Kriegsschiffe, Beamte und Kriegsarbeiter.

Drei Monate benötigten sie, um uns niederzukämpfen. Die Japaner haben nach Aussage ihres Oberbefehlshabers vor Tsingtau, Kamio, ca. 12000 Mann Verluste gehabt, ca. 4000 Tote, 4000 Verwundete und 4000-5000 Erkrankte.6 Dem gegenüber standen auf unserer Seite ca. 200 Tote, knapp 600 Verwundete und durchschnittlich 400-500 Erkrankte. Ferner haben die Japaner verloren: einen Küstenkreuzer, 2 Torpedobootzerstörer und 2 Truppentransportdampfer.7 Dem gegenüber haben sie in Tsingtau gewonnen: Kriegsmaterial, das fast alles vernichtet war, 6 kleine versenkte Kriegsschiffe; Kaiserin Elisabeth, Cormoran, Luchs, Jaguar, Iltis, Tiger, einige abgerüstet und nie im Kampfe gewesen, 3 kleine, am Hafeneingang und in der Bucht versenkte Handelsdampfer, das große versenkte Schwimmdock und den gesprengten 150-Tonnen-Kran, die Wasserwerke, die Signalstation, das Elektrizitätswerk zerstört, die Werke zusammengeschossen und in der Gouvernementskasse ein Minus von 2 Millionen Dollar.

Wie weit Japan in Schantung seine Interessen auszubreiten vermag, um dessen Willen es den Krieg mit uns angezettelt hat, muss die Zukunft lehren.8 Menschenverluste hätten wir den Japanern noch erheblich mehr beibringen können, falls wir uns auf Straßenkämpfe eingelassen hätten. Allerdings würden auch wir schwer gelitten haben. Unsere Leitung war vernünftig genug, es dazu nicht kommen zu lassen. Unsere Pflicht hatten wir getan. Die deutsche Ehre haben wir hochgehalten. Wir haben gekämpft, solange wir vernünftigerweise Widerstand leisten konnten. Jeder weitere Verlust auf unserer Seite wäre nur Mord an den Unseren gewesen.

Mit Eingreifen der Japaner war Tsingtau von Anbeginn für uns verloren. Von den Engländem haben wir von der Landseite keinen Einzigen zu Gesicht bekommen. Feige haben sie sich, nach Aussage der Japaner, weit hinter der Front herumgedrückt. Was wir zur See von ihnen gesehen haben, war auch sehr englisch. Ihr Torpedobootszerstörer Kennet hinkte gleich zu Anfang, von unserm S 90 beschädigt, nach Hongkong. Der große Panzerkreuzer Triumph, dem unsere Huitschienhuk-Batterie Anfang Oktober einen Volltreffer beibrachte, blieb in vorsichtiger Entfernung. Der Zahlmeister darauf, dem bei diesem Malheur beide Beine verloren gingen, erhielt von der Kaiserin von Japan ein paar Holzbeine zum Geschenk. Ja, ja, kleine Gaben erhalten die Freundschaft.

Die Schießresultate der japanischen Artillerie waren gut, wurden jedoch durch die häufigen Blindgänger ganz erheblich heruntergesetzt. Die Infanterie schoss durchweg schlecht. Die Kriegsausrüstung war, soviel wir nach der Erstürmung im Werke beobachten konnten, eine ausnahmslos recht gute. In ihrem lehmfarbenen Tuchanzuge passten sie sich ausgezeichnet dem Gelände an, so dass wir, besondere im Vorgelände, sehr oft nicht feststellen konnten, woher das Feuer kam. Ihr Sanitätsdienst arbeitete vorzüglich. Die einzelnen Leute zeigten sich nicht besonders tapfer. Aber in größeren Kolonnen wurden sie von ihren Führern, wie auch immer von den Umständen gefordert, stets in bester Ordnung vorwärts gebracht. Die Disziplin war, soweit ich gesehen, eine gute.

Zum Schlusse will ich für das Schicksal Tsingtaus noch unsern Flieger Plüschow sprechen lassen. In seinem »Abenteuer des Fliegers von Tsingtau« sagt er:9 »Bei diesem furchtbaren Feuer hätte nach menschlicher Berechnung kein Einziger von uns am Leben bleiben dürfen. Aber wie durch ein Wunder blieben unsere Menschenverluste gering. Die japanische Artillerie schoss vorzüglich, war auch nicht überraschte, da ein Teil ihrer Artillerie-Offiziere bei uns in Jüterbog auf Schießschule gewesen war. Aber ihre Munition war schauderhaft. Und das war unser Glück. Trotz des schweren Feuers und der schweren Steilfeuergeschütze ist es ihnen keinmal gelungen, eine Kasematte, eine der bombensicheren Räume oder ein Infanterie-Werk zu durchschlagen. Dieser und eine enorme Zahl von Blindgängern war der Grund unserer geringen Verluste. Und den Nörglern in Deutschland, die ich leider getroffen habe, die meinten, der geringen Verlustzahl wegen wäre Tsingtau nichts gewesen, möchte ich eines vor Augen halten. Wir hatten nur eine Verteidigungslinie mit fünf kleinen Infanterie-Werken, einer Brustwehr und einem kümmerlichen, schmalen Drahthindernis. Und diese Linie war 6000 m lang und wurde von 3000 Mann gehalten. Eine zweite Stellung, eine zweite Linie und vor allen Dingen Menschen, die diese hätten besetzen können, gab es nicht mehr, denn wir waren im Ganzen ja nur etwas über 4000 Mann. Und als daher nach diesem achttägigen, schwersten Artilleriefeuer das Drahthindernis weggeblasen war und die Brustwehr weggeschossen, da war es den 30000 Japanern, denen wir wochenlang standgehalten hatten, ein leichtes, durchzustoßen und Tsingtau zur Übergabe zu zwingen.«
 

Anmerkungen

1.  Hieraus könnte geschlossen werden, dass der Verfasser seine Militärzeit (oder einen Teil davon) in Tsingtau absolvierte; dazu ist aber nichts weiter bekannt.

2.  Die am 10.08. eingetroffene Warnung der Botschaft bewahrheitete sich nachträglich, nur wenige Tage später.

3.  Gemeint sind Geschütz-Attrappen, bei denen ein Ofenrohr den Lauf ersetzte.

4.  Wie weiter unten richtig angegeben, handelte es sich um ein älteres Linienschiff, das über Kanonen vom Kaliber 30,5 cm verfügte.

5.  Auch andere Augenzeugen berichten von 60 erschossenen Plünderern, es gibt jedoch keine japanischen Quellen, die das bestätigen.

6.  Eine entsprechende Aussage des Generals Kamio ist nirgendwo dokumentiert. Die hohen Verlustzahlen wurden auch vom Reichsmarineamt kolportiert, entsprangen aber, mindestens was die Gefallenen betrifft, reinem Wunschdenken.

7.  Zum Verlust zweier Truppentransporter gibt es keinen Nachweis.

8.  Der Verfasser starb, kurz bevor der Vertrag über die Rückgabe Kiautschous an China geschlossen wurde.

9.  Zitiert wird aus der Ausgabe von 1916 (501.-550.Tausend), S. 91/92.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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