Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Konzert- und Theaterveranstaltungen in Kurume am 3. und 19.–21. Dezember 1919

von Erich Fischer


Vorbemerkung

In seinem umfangreichen Tagebuch hat Erich Fischer von Höhen und Tiefen aus der Zeit in Kurume (1915–1919) berichtet. Als Offiziersanwärter stimmte er mit der Kritik vieler seiner Kameraden an den dortigen Verhältnissen überein, aber er war auch in der Lage, die positiven Erlebnisse zu würdigen. Zu diesen gehörten auch zwei Veranstaltungen, die kurze Zeit vor der Entlassung in der Stadt Kurume stattfanden und an denen Fischer als Pianist mitwirkte.

Eine Kopie des Tagebuchs, aus dem hier zitiert wird (Teil II, Seiten 56–64) , fand sich in der Sammlung Walter Jäckisch. Bei der Übertragung hat der Redakteur Orthografie und Interpunktion maßvoll verändert und Bemerkungen in [ ] oder als Fußnoten hinzugesetzt.

 

Kurume, den 4. Dezember 1919

Kurume Gestern [d.h. am 03.12.] hatte ich aber ein Erlebnis, über das ich ausführlich berichten muß; denn es war sehr eindrucksvoll. Schon lange war die Rede davon, daß wir in der Stadt [Kurume] ein Konzert geben sollten; aber – Division und der Militarismus, die beide Gott verdammen möge, setzten allen Anstrengungen von uns und den Zivilisten ein unbeugsames »Nein« entgegen. Schließlich scheint aber doch dem Direktor [der Mädchenschule] der Sturm auf den Divisionär1 geglückt zu sein, denn gestern nachmittags um 2 Uhr war in der dortigen Aula ein Konzert angesetzt worden. Um 11 Uhr zogen wir 40 Musiker (ich Klavier!) los.2 Klavier und Harmonium waren dort; die übrigen Instrumente wurden auf Wagen vorausgeschickt.

[Siehe das Konzertprogramm links!]

Gegen 12 Uhr kamen wir an und wurden vom Direktor in einen Schulraum geführt, der offenbar kurz vorher benützt worden war. Dort waren über die niedrigen, 50 cm hohen Tische weiße Tischtücher ausgebreitet und gar niedrige Sessel standen davor. Neugierig wie wir waren, hoben wir die Tücher auf und fanden darunter in den Buchfächern die Bücher, Rechenmaschinen und Tusche der kleinen Mädchen. – Der Direktor hielt eine Begrüßungsrede, die unser Dolmetscher Aoyama übersetzte: sprach vom schönen Wetter, vom Vorliebnehmen-Müssen mit dem einfachen Empfang, von Freude über unsere baldige Heimkehr und so weiter. Unterdessen hatten leichtbestrohschuhte Lehrerinnen Untertassen mit Löffeln, Kuchenteller, schließlich Tassen mit Kaffee, Milch und Zucker sowie Butter mit japanischen Kuchen ausgeteilt. Der Kaffee schmeckte zwar nach Sackleinen; aber er war eine besondere Höflichkeit uns gegenüber und wurde als solche gebührend geschätzt, da der Japaner nur Tee kennt! Inzwischen huschten auf dem Gang die 11- bis 14-jährigen Mädchen umher, kichernd und sich verbeugend, wenn sie an uns vorüberliefen. Überall in dem luftigen Holzgebäude herrschte peinliche Sauberkeit; alles machten die Mädchen selbst. Da wurde gefegt und gewischt, bis jede Fußspur auf dem Boden verschwunden war. Es war selbstverständlich, daß wir an der Eingangspforte die Schuhe auszogen!

Um 1 Uhr wurde uns in der Turnhalle von ungefähr 50 Mädchen japanisches Damenfechten vorgeführt;3 mit langen und kurzen Stäben, mit Holzäxten wurden Scheinkämpfe ausgeführt, die viel Sicherheit und Gewandtheit erforderten. Alles mit bloßen Füßen!

Der Fechtlehrer, den eine äußerst flinke Fechtlehrerin unterstützte, zeigte uns japanische Originalwaffen: lange Messer an langen Holzstangen und das kurze zweischneidige »Damenmesser«, das am Busen der früheren Samuraidame ruhte.4 Es war gefährlich, mit diesen Damen anzubändeln!

Inzwischen war es 2 Uhr geworden, und wir begaben uns in die Aula. Dort war bereits das Publikum versammelt: Auf niedrigen Bänken saßen 600-700 kleine Japanerinnen, alle artig die Händchen im Schoß, die großen Augen erwartungsvoll, ab und zu leise tuschelnd, wie eben Mädchen von 10-14 Jahren bei uns auch sind. An der Seite saßen die Lehrer mit ihren Frauen und Säuglingen und die Lehrerinnen.

Als sich der Dirigent – Leutnant Hertling! – verbeugte, machten die Mädchen ebenfalls eine Verbeugung. Wir begannen mit der Ouvertüre zu »Don Juan«. Wie seltsam es klang, als die Mädchen klatschten; wir waren nur den dumpfen, trägen Ton kräftiger Männerhände aus dem Lager gewöhnt – und vernahmen nun das frische, helle Patschen, es war rührend. Gleich in meiner Nähe saß so eine kleine 10-Jährige mit einem feinen Gesichtchen, während die meisten in dieser Gegend häßlich sind, mit einem süßen, roten Kirschenmund. Sie klatschte und patschte, daß es eine Freude war. Am liebsten hätte ich ihr einen Kuß gegeben.

Ich glaube, es kann niemand verstehen, der nicht wie wir fünf Jahre abgeschlossen war, wie rührend dankbar wir für alles waren, was außerhalb des Rahmens unseres alltäglichen Lebens stand und was uns an frühere Zeiten erinnerte.

Dann kamen zwei Sätze aus der 9. Sinfonie von Beethoven, die ebenso beklatscht wurden. Lehmann und ich spielten den 1. Satz aus der 1. Sonate von Beethoven: es wird mir ein ewiges Erlebnis sein, wenn ich die Sonate wieder spiele und höre.Pöbel sang das Liebeslied aus der »Walküre« [von Richard Wagner] mit Orchester, und auf Wunsch des Obersten,5 der offenbar dabei war und gern ein Lied mit Klavier hören wollte, begleitete ich aus dem Stegreif »Leise flehen meine Lieder" von Schubert« – Anhaltender Beifall!

Unser Dolmetscher übersetzte jeweils den deutschen Text auf einer Wandtafel ins Japanische.

Beim »Hochzeitsmarsch« und beim »Einzug der Gäste« hatte ich nichts zu tun, weshalb ich ins Empfangszimmer ging, um eine Zigarette zu rauchen. Dort richteten Lehrerinnen neuen Kaffee und Kuchen her. Eine Lehrerin kam auf mich zu und sagte mit ihrer feinen, zerbrechlichen Stimme: »I thank you for to-day. We have a very happy time!« Als ich aber versuchte, mich weiter mit ihr zu unterhalten, lief sie davon; denn sie fürchtete wohl den Schutzmann,6 der auch vor der Schule nicht Halt machte und uns auf Schritt und Tritt begleitete! Fürchterlich sind diese Kerls hier!

Inzwischen war in der Aula Schluß; der Beifall hörte nicht auf, bis ein Lehrer Ruhe gebot. Mit roten Backen zogen die Mädels von dannen; für uns aber gab es im Empfangszimmer nochmals Kuchen, eine Abschieds-Dankesrede und eine Ansichtskarte mit der Unterschrift eines Mädels und guten Wünschen für die Heimreise.

Um vier Uhr zogen wir nach Hause, von den Mädels mit Winken und »Sayonara« begrüßt. [...]
 

Kurume, den 19. Dezember 1919

Ich habe eine Menge Interessantes zu erzählen; denn gestern waren wir ja im Theater in der Stadt ! [...]

Es ist bedauerlich, daß wir erst jetzt, nach fünf Jahren, mit den Japanern in Berührung kommen. Wir empfinden es als unangenehm, daß wir meist nur ein paar Brocken der Landessprache können; aber es wäre natürlich eine sinnlose Belastung unseres Gehirns gewesen, wenn einer ohne Aussicht auf einen Zivil-Aufenthalt in Japan versucht hätte, die recht schwierigen Vokabeln sich einzuprägen. Die Japaner vom Büro, von der Kantine, von der Garküche, mit denen wir zu tun hatten, konnten bald »Doitzu« oder »English«!

Für die Benutzung unseres Klaviers mußten wir für die Stunde eine bescheidene Miete zahlen; nun ist es – es war recht gut – verkauft und zwar an die hiesige »Girl's Primary School«! Am letzten Sonntag nahmen Zeiss und ich mit der »Eroica« Abschied. Nun sollten wir am Theater Klavier spielen und mußten dazu proben! In Wirklichkeit konnten wir ja alles, aber wir wollten einen Extragang in die Stadt »herausschinden«!

Am Donnerstag um halb drei Uhr sollten wir in die Stadt gehen; als wir uns auf dem Büro die »nötige« militärische Begleitung holen wollten, war weder ein Offizier noch ein Sergeant noch ein Soldat zur Verfügung. Alles war so beschäftigt, daß der Hauptmann, der Englisch spricht, meinte: »I advice you to stop this trip!«

Gut, sagten wir, wir würden this trip stop; aber zum Klavierspielen im Theater fänden sie keinen – beleidigt zogen wir »am Draht«, wie man im Militär eben sagt. Das war den Herren doch nicht ganz recht, denn um 4 Uhr kam ein Bote und holte uns zum Büro: Die neue Wache sei gekommen und wir könnten sofort in die Stadt fahren; wir könnten bis zum Dunkelwerden üben und brauchten zum Appell nicht dazusein. Der Posten wurde instruiert, er habe uns keinerlei Vorschriften zu machen, solle uns nur in die Schule begleiten und so weiter. Alles war eitel Liebeswürdigkeit und Freundlichkeit!

So zogen wir los: Nack der Violinspieler, Pöbel der Sänger, der Posten und ich. Die Haltestelle der Elektrischen [Straßenbahn] war nicht weit entfernt vom Lager. Auf dem Wege dorthin merkten wir schon, daß unser Gefreiter, sicher in Zivil ein japanischer Bauer, keine Ahnung hatte, wohin wir zu gehen hatten; wir wußten den Weg auch nicht! Zum Glück trafen wir an der Haltestelle unseren Kantinier mit seiner sehr hübschen Frau, der Bescheid wußte und den Posten aufklärte. Wir fuhren also etwa 20 Minuten mit der Elektrischen, übrigens einem niedlichen Bähnchen, und bogen in eine kleine Seitenstraße ein, wo uns schon Mädels mit ihren in Tüchern eingeschlagenen Büchern entgegenkamen.

Als sie uns sahen, machten alle kehrt, sodaß wir einen ganzen Schwarm hinter uns hatten, als wir zur Schule kamen. Hier empfingen uns der Direktor, ein würdiger, feister Herr, und ein paar Lehrer und Lehrerinnen. Der Direktor geleitete uns in die nicht sehr große Aula, das Klavier – anderthalb Jahre lang »unser« Klavier! – wurde in die Mitte gezogen, und die Mädels knieten im Halbkreis darum herum. Lehrer und Lehrerinnen scharten sich um das Klavier und Herr Pöbel sang. Nach dem Stück Beifall! Wir fragten, ob es gefallen hätte, worauf ein einstimmiges »Hai!« ertönte und eine Verbeugung bis zum Boden erfolgte; es war zu niedlich!

Dann kam Nack, der ebenso beklatscht wurde, und nun brachten uns die Lehrer das von ihren Noten, was sie gerne hören wollten. So die Beethovensche Mondscheinsonate in japanischer Ausgabe. Ich spielte mit kalten Fingern schlecht und recht den 3. Satz und erntete viel Lob. Es folgten ein paar Lieder, und ein Lehrer spielte auf der Geige »Träumerei« von Schumann. Er war sehr schwer zu begleiten, denn er rannte wie ein Besessener davon und konnte durch keinerlei Überredungskünste bewogen werden, langsamer zu spielen. Vom Rhythmus hatte er keine Ahnung! Mittlerweile war es dunkel geworden, und unter vielen Verbeugungen und Sayonaras gingen wir weg. Wir kauften noch einige Kleinigkeiten und waren um halb 7 Uhr zurück.

Ich kam gerade noch zum 2. Akt des »Volksfeind« zurecht, über den ich eigentlich ein paar Worte niederlegen müßte, falls ich die Kritik in der Bordzeitung schreiben muß.7
 

Kurume, den 21. Dezember 1919

KurumeMeine Absicht, hier ein paar Gedanken über den »Volksfeind« niederzulegen, muß ich aufgeben, da es mir wichtiger erscheint, etwas von unseren drei Theateraufführungen zu erzählen.

Wir spielten drei Mal, und zwar vorgestern und gestern um 4 Uhr nachmittags und heute, sonntags, um 10 Uhr morgens.

[Siehe links die aus diesem Anlass gedruckte Postkarte.]

Als Gegenleistung erhielten wir: Deckung unserer sämtlichen Unkosten für Requisiten usw., außerdem bekamen wir 300 Yen, die zur Verbesserung unseres Weihnachtsessens dienen sollen. Wenn man bedenkt, daß ungefähr 2.500 Personen das Theater besuchten und jeder Platz 50 sen kostete, so kann man sich ungefähr ausrechnen, was für ein Geschäft die Stadt dabei machte.

Außerdem hatten wir uns ausbedungen, daß eine altjapanische Aufführung für das ganze Lager veranstaltet würde, was für Dienstag zugesagt wurde. Um zwei Uhr nachmittags zogen am Freitag wir Schauspieler und Kapelle vom Lager in die Stadt, ungefähr im ganzen 110 Mann. Es sah aus, als ob eine fahrende Truppe daher käme: Der eine hatte sein Päckchen im Papier, der andere im eleganten Lederkoffer; der eine hatte seine Geige im Kasten, der andere in Wachstuch untergebracht; der eine war mit Militärmantel, der andere mit feinem Zivil bekleidet; der eine hatte eine Mütze, der andere einen Hut auf. Alle schwereren Sachen waren auf Wagen vorausgeschickt worden; das technische Personal hatte tagelang fieberhaft gearbeitet.

Um 3 Uhr kamen wir am Theater an, wo die »Parterre-Sitze« schon seit 11 Uhr vormittags von Alten und Jungen, Schönen und Nichtschönen besetzt worden waren. Ins Theater geht nämlich immer die ganze Familie, vom Säugling an der Mutterbrust an. So hat jede Familie ihr logenähnliches Gehäuse, wo geplaudert, gegessen und getrunken wird. Die Preise sind überall gleich: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Besondere Platzkarten gibt es also nicht. Es ist rührend, welche Bewegungsfreiheit der Japaner den kleinen Kindern läßt; sie krabbeln überall herum, heben den Vorhang hoch, schau'n dem Kulissenumbau zu, und nie habe ich gesehen, daß die Kinder von den Alten verwarnt oder gar verhauen worden wären. Fängt ein Kleines an zu schreien, nestelt einfach die Mutter ihr Kleid auf und stopft dem Schreihals mit ihrer vollen Brust den Mund. Gar oft sind die »Kleinen« 2-3 Jahre! Gar keine Rücksicht nimmt natürlich der japanische Mann auf die Frauen. Es fällt einem Mann nie ein, einer Frau Platz zu machen oder gar aufzustehen.

Hinter der sehr geräumigen Bühne war für uns ein Teil der Schauspielerzimmer reserviert: entsprechend unserem Programm gab es ein »Toni«-, ein »Leander«-, ein Gaukler-, ein Kapelle- und ein Schminkzimmer.8 Da war eine Kälte! Brrr! Wenn ich daran denke, schüttelt es mich heute noch! Wo an den Seiten die Kulissen sind, war alles offen, aus dem Keller und durch die Löcher in der Bühne zog es, daß ich immer Angst hatte, es werde einer der »Damen« der duftige Rock in die Höhe geblasen; aber es passierte nichts!

Da ich im Frack aufzutreten hatte und zwar als Klavierspieler in der Gesellschaftsszene »Leander im Frack«, verfügte ich mich in den dazu bestimmten Raum. Mit Stiefeln und Schuhen gingen wir auf die sauberen Strohmatten, daß die umstehenden Japaner die Köpfe schüttelten. Aus dem bescheidenen japanischen Hibatschifeuer wurde ein richtiges, kräftiges, deutsches gemacht. Nur so war es uns möglich, einigermaßen auszuhalten.

Um vier Uhr ging es los: Zunächst sprach der Bürgermeister von Kurume; ich konnte den Inhalt, der nicht übersetzt wurde, nicht erfahren. Der Dolmetscher Aoyama sagte mir nur, er habe die Besucher gebeten, nicht zu rauchen, um uns Deutsche zu ehren. Aber das allein kann es nicht gewesen sein, da er lange sprach.

Anschließend folgte ein Marsch der Lagerkapelle vor dem die Bühne verhüllenden kleinen Vorhang. Dann trat der Dolmetscher auf und erzählte dem p.p. Publikum den Inhalt der 1. Szene des »Leander im Frack«. Es sollte nämlich eine Gesellschaftsszene aufgeführt werden, und so wählte man diesen Mist, weil das Stück einstudiert war und man dabei eine Menge Leute auf die Bühne bringen konnte. Es ist unglaublich, was für ein Unsinn von uns auf der Bühne verzapft wurde. Die Japaner verstanden doch nicht, weshalb die tollsten Witze gerissen wurden. Ich mußte während einer langen Erzählung Dr. Biebers eintreten und Interesse heucheln. Hinter mir rief der Souffleur andauernd: »Wenn der Bieber nur endlich das [Maul] halten wollte«, aber der redete immer weiter; wir grinsten.

Dann kamen die Einlagen: Bobers mit seiner Zupfgeige, Nack, den ich zu einem Bluff = Stück von Sarasate für Violine und Klavier begleitete, und Pöbel, der zwei Schumannlieder sang. Dieser Teil der Vorstellung schloß mit einem Walzer, an dem ich mich nicht beteiligte. Nun ging ich schnell ins Zimmer zurück und zog das lästige Frackzeug aus. Am Hibatschi wurde Sake gewärmt!

Inzwischen traten auf der Bühne die Gaukler auf mit Arthur Bieber als Conferencier. Zwei Boxer polierten sich gegenseitig die Kinnladen, und zum Zeichen ihrer Stärke trampelten sie sich zum Schluß gegenseitig auf dem Magen herum. Vier »Rosenstock-Holderblüh«-Sänger sangen hinter einer Wand,9 verschwanden und streckten falsche Beine in die Höhe. Endlich tanzten Sartori und Steinbacher einen wirklich feinen Schuhplattler, für den sie großen Beifall ernteten, wie übrigens alle Darbietungen.

Während des dann folgenden Konzerts machten wir es uns auf unserer Stube gemütlich, wohin man auf zwei Hühnerstiegen gelangte. Wir, d.h. Eggersh, Tidemann und ich, ließen uns japanisches Essen kommen, das 50 sen kostete und aus einer ordentlichen Portion Reis mit Zutaten bestand: Fisch, gebratenem Hühnerfleisch, Einmach-Erbsen, sauren Gurken, Eierfrüchten, Bohnen, Lotuswurzeln und allerlei Undefinierbarem. Von allem gab es nur ein Häppchen, das mit Stäbchen fein und zierlich gegessen werden mußte. Dazu gab es warmen Sake und – wenn es sinen zu sehr juckte – Bier, die Flasche zu 70 sen, was nach dem neuesten Siemens-Schuckert-Kurs von 17.40 in deutschen Reichsmark 12.18 bedeutete. Nett, unser Markwert! Bei alledem, auch bei dem neuen Kurswert, den wir bei dieser Gelegenheit erfuhren, wurde uns ordentlich warm; wir sahen daher das dem Konzertstück folgende Hauptstück »Toni« vom Zuschauerraum aus an. An den Seitengängen standen die Leute dicht gedrängt und von der Galerie aus konnten wir das Spiel verfolgen. Ein Japaner sprach mich mit einem englischen Wort an, das ich nach längeren Nachdenken als »Yesterday« deutete. Schließlich stellte sich heraus, daß er ein Lehrer war, der in der Girl's Primary School mit zugehört hatte; er machte mir viel Komplimente wegen meines Spiels. Dann stellte er Fragen, ob ich jeden Morgen kalt badete und jeden Abend warm. Schließlich meinte er, ob ich nicht den Mädchen in der Schule einmal etwas vorspielen wolle, was ich prompt zusagte!

Das Stück fand er »not very interesting because I don't understand German!«

Ich sprach noch mit mehreren Lehrern; heute mit einem aus Kurume, der in gutem Englisch vom philharmonischen Orchester in Fukuoka mit 35 Mann und einem sehr guten Geiger vorschwärmte. Die dortige Universität würde beantragen, daß die Kapelle hinführe!

Ja, wir würden es schon tun – wenn auch manche sinnlose Japsenfresser in unserem Lager, vor allem deutsche Offiziere darüber schimpfen10 –, aber es ist zu allem zu spät; damit hätten die Herren etwas früher kommen sollen! Es kam noch eine kleine, niedliche Lehrerin dazu und bat in gebrochenen Englisch, aber mit leuchtenden Augen – sie hatte wirklich sehr schöne, dunkelbraune Augen –, wir möchten doch »Oberon« und »Rosamunde« noch einmal spielen; es sei eine so herrliche Musik. Sie war Musiklehrerin an der hiesigen Mädchenschule, spielte Klavier und Geige und sang ein paar Takte aus Schumanns Märchenlied. Es war zu nett, wie sie mit den Händen um mehr deutsche Musik bettelte! Der Lehrer meinte, wir Deutsche hätten in der Musik soviel »Geschmack« – es war das einzige deutsche Wort, das er gebrauchte. – Wenn man bei allem Elend zuhause sieht, wie in einem so gottverlassenem Nest [wie Kurume] deutsche Musik verehrt und gepflegt wird, vielleicht nicht mit dem richtigen Verständnis, sicher aber mit viel Liebe, da kann man an uns doch nicht verzweifeln! Mag es uns jetzt auch dreckig gehen, es wird wieder anders werden; vielleicht ist es ganz gut, wenn wir lernen, uns ein wenig selbst zu beherrschen: Es tut not! – Ein kleines Bild: In eine Ecke gedrückt sitzt auf der Treppe ein Seesoldat, in Decken gehüllt ein einjähriges, schlafendes Mädchen; so hockte er unbeweglich zwei Stunden, der deutsche Barbar. Wenn man ihn fragte, so antwortete er, es sei das Kind unseres Zahlmeisters, dessen Frau unwohl geworden sei. Sie müsse sich schonen, da sie noch zwölf Kinder zur Welt bringen solle – meinte er.

Gestern Abend war viel feine Gesellschaft da, auch viele Geishas, heute morgen viel Leute vom Lande.

Am Freitag und Samstag fuhren wir um halb zehn Uhr auf Stadtkosten mit vier Elektrischen ins Lager, heute nachmittag um halb vier Uhr.

Drei Tage fern dem Lager, man hatte es schon fast vergessen! [...]
 

Anmerkungen

1.  Mit Divisionär ist der Kommandeur der örtlichen (18.) Armeedivision gemeint (vermutlich zugleich Standortältester).

2.  Es handelt sich also um das »Sinfonie-Orchester«.

3.  Möglicherweise handelt es sich um Kendo, das 1911 in den Schulen eingeführt wurde.

4.  Möglicherweise ein dolchartiges Schwert von etwa 22,5 cm Länge.

5.  Hier dürfte Lagerkommandant Watanabe gemeint sein.

6.  Nicht anders als in Deutschland war in Japan der Schutzmann für »Sitte und Ordnung« im weitesten Sinne zuständig.

7.  Nachdem der Abfahrtstermin feststand, fing man bereits an, die Bordzeitung zu planen. Die erste Ausgabe von »Der Heimatswimpel« erschien noch in Japan!

8.  »Toni« ist ein Drama von Theodor Körner, »Leander im Frack« ein Schwank von Wilhelm Wolters.

9.  Traditionelles Volkslied »Rose[n]stock, Holderblüh / Wenn i mei Dirnderl sieh« usw.

10.  Das ist eine Anspielung auf den »harten Kern« um den zeitweiligen Lagerältesten Major Anders.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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