Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Zurück in die Heimat

von Ernst Kluge (Teil 4 des Tagebuchs)
 

Über die Erlebnisse des Berliner Einjährig-Freiwilligen Ernst Kluge hat sein Sohn Christian bereits einen zusammenfassenden Bericht gegeben und gleichzeitig eine Abschrift der Tagebücher seines Vaters zur Verfügung gestellt.

Die mit vielen Fotos versehenen Aufzeichnungen beginnen mit den letzten Julitagen 1914 und enden mit der Ankunft in der Heimat 1920. Sie sind so lebendig und interessant geschrieben, dass es sich lohnt, sie in voller Länge hier wiederzugeben. Wegen des Umfangs hat der Redakteur vier Teile gebildet; dieser ist der vierte.
 

Übersicht Teil 4

  1. Endlich heraus aus Kurume
  2. In Moji und Shimonoseki
  3. In Kobe
  4. Reise nach Singapur
  5. Über Sabang und Suez nach Hause

Der Redakteur hat Schreibfehler (in Original oder Abschrift) korrigiert, Abkürzungen ausgeschrieben, Anmerkungen in [...] oder als Fußnoten hinzugesetzt sowie Kapitelüberschriften (nebst Nummerierung) eingefügt; Überschriften in »« stammen vom Verfasser selbst.
 

[1. Endlich heraus aus Kurume]

In der Nacht vom 25. zum 26.[12.1919] fuhren die Kifuku Maru-Leute ab. Wir haben davon nichts gemerkt, da die meisten von uns zu Bett gegangen waren. Am 27. abends sollte unser Himalaya Maru-Transport abgehen. Marr hatte insofern Dusel gehabt, als er von der Liste der Himalaya-Leute gestrichen und für einen späteren Dampfer zurückgestellt worden war. Dies kam daher, dass er früher ein Urlaubsgesuch eingereicht hatte, um seine Verwandten noch einmal sehen zu können, und dass er, als ihm die Urlaubssache zweifelhaft erschien, ein neues Gesuch einreichte, worin er bat, von der Urlaubsliste gestrichen zu werden, damit er mit uns fahren könnte. Dieses Gesuch wurde nicht mehr berücksichtigt, und er wurde infolgedessen als Urlaubskandidat vorläufig zurückgestellt. Jetzt kam ihm das sehr zustatten, da er nun Zeit hatte, seine Engagements-Angelegenheit in Ordnung zu bringen, anderenfalls wäre es wohl zu spät gewesen.

Wir hatten also nur noch zwei Tage bis zu unserer Trennung und wollten uns diese noch recht gemütlich machen. Am 26. morgens ging auch unser Bordgepäck ab, und wir hatten jetzt nur noch das allernötigste Handgepäck wie Waschzeug etc. Wir fingen schon an, etwas in »endgültige Abschiedsstimmung« zu geraten, da ging’s plötzlich wie ein Lauffeuer durchs Lager: Abreise verschoben! Zuerst wollte es keiner glauben, aber nach einer Stunde Ungewißheit hing das Telegramm aus. Übernahme in Moji kann nicht vor dem 31. erfolgen – Hilfsausschuß. Alles ist in heller Wut. Wir fragen auf dem Büro nach. Das Büro weiß von nichts. Um 12 Uhr wird der Befehl gegeben: »Morgen Abend um 20 Uhr antreten auf dem Sportplatz, 20:30 Uhr Abmarsch, morgens 8 Uhr Abgabe der Decken.« Das will nun auch keiner mehr recht glauben, und richtig, am Abend erhält das Büro vom Kriegsministerium ein Telegramm: Abreise Kurume 30. abends, ab Moji 31. früh. Im Lager herrscht furchtbare Niedergeschlagenheit. Die drei Tage, die es nun später losgehen soll, das ist das Wenigste, aber das Bewußtsein, dass nichts sicher ist, dass genau so leicht noch so und so oft eine Verzögerung eintreten kann. In Kurume wütet die Grippe wieder, alle Posten, die ins Lager kommen, tragen Gasmasken. Was nun, wann in den drei Tagen oder denen, die noch dazu kommen, die Grippe ins Lager kommt? Dann kann der ganze Transport auffliegen. Die drei Tage schleichen langsam dahin. Ich borge mir Decken und Kopfkissen, da alles schon fort ist. Dabei schneit es Tag und Nacht, am dritten Tage fängt es an zu tauen, es gibt einen grundlosen Dreck. Feines Wetter für den einstündigen Marsch zum Bahnhof.

29. Dezember. Morgen Abend fahren wir ab. Marr und ich wollen noch einmal allein zusammen sein und Abschied feiern. Wir essen in der Bibliothek Abendbrot und trinken hinterher Bier. Eine gemütliche, herzliche Stimmung. »Morgen Abend, alter Junge, dann ist es so weit?« Wir sitzen am Hibachi-Feuer, die Beine ausgestreckt und rauchen. Sonderbares Gefühl. Heute Nacht schlafe ich zum letzten Mal in diesem verfluchten Gefangenenlager – es tut mir doch nicht etwa leid, dass es endlich so weit ist? »Und wenn Du dann zu meiner Mutter nach Hamburg kommst, dann rede ihr nur gut zu, es ist nicht leicht für sie, beide Kinder seit zehn Jahren in Japan, und mit dem Wiedersehen ist’s nun wohl für lange nichts.« – Was ist das? Rufe auf dem Gang! Höre ich recht? »Abreise – Abreise!« »Hörst Du was? Da ist wieder was los!« – Ich laufe raus. »Abreise um 24 Stunden verschoben.« Erst wollte ich mich besaufen, aber dann ließ ich’s und ging zu Bett.

Als wir am nächsten Morgen halb wütend, halb niedergeschlagen herumlungerten, fing es an zu tauen. Alles wurde zu einem Sumpf von Dreck und Schnee, wir konnten die Holzveranda nicht verlassen, weil wir ja nichts zum Umziehen hatten. Was nun, wenn es morgen wieder nichts wurde? Dann kam Neujahr, und wir wußten aus Erfahrung: Vom 1. bis zum 7. Januar ist überhaupt nichts zu wollen, da wird gefeiert, und wenn wir nicht am 31. fortkommen, dann müssen wir uns auf eine weitere Woche gefasst machen. Nun, dann hatte die Grippe Zeit genug, ins Lager zu kommen, und was dann wurde, das mochten die Götter wissen. Von unserem Dampfer war nur das Zwischendeck gechartert, im übrigen hatte er Fracht für London. Ob er unseretwegen warten würde, bezweifelten wir sehr. Und was konnte in der Zwischenzeit nicht sonst noch alles passieren! Das Gespenst des Protokolls [?] tauchte wieder auf.

Am Abend wurde wieder der alte Befehl ausgegeben: »Morgen früh Abgabe der Bettdecken und Laken, morgen Abend 8 Uhr Abmarsch zum Bahnhof.« – Es machte keinen Eindruck mehr – es würde ja doch wieder umgestoßen werden. Sollte man heute Abend wieder Abschied feiern? Das konnte doch nicht ad infinitum so weitergehen, zumal wir uns mit unseren Geldern auf Ende Dezember eingerichtet hatten und bei weiterer Verzögerung der Abreise in Schwierigkeiten geraten wären.

Marr und ich tranken nach dem Abendessen Bier, und bald holten wir uns noch den Knaben Karl [?]. Als wir bis acht einige Flaschen getrunken hatten und immer noch kein Gegenbefehl da war, fassten wir etwas mehr Zutrauen zur Lage, und es entwickelte sich doch noch eine Art Abschiedsfeier. Ja, der Karlchen wurde schließlich so weich, dass ihm plötzlich lange Tränen über die Backen kullerten, als ich auf der Fiedel den Heimatsmarsch spielte. Da packte ich die Geige schleunigst ein und gab ihm was zu trinken, so daß wir bei Zapfenstreich alle ganz lustig waren. Der nächste Tag wurde sehr lebhaft. Morgens wurden tatsächlich die Decken abgegeben. So weit waren wir noch nie gewesen! Sonst war der Gegenbefehl immer früher gekommen. Ob er heute wohl auch noch kommen würde? Nach unserer Abreise sollten die zurückbleibenden Unteroffiziere die leer gewordenen Offiziersstuben beziehen und die Mannschaften in Baracke 1 und 2 zusammengelegt werden. Da die meisten Offiziere schon mit der Kifuku Maru gefahren waren, zogen die Unteroffiziere schon heute um, und ich hatte Beschäftigung, indem ich Marr half. Am frühen Nachmittag war die Hauptarbeit getan, und ich machte Abschiedsbesuche bei den Zurückbleibenden. Als auch das erledigt war, ging ich auf Marrs neues Zimmer und fand ihn dort mit Wulff und Helbig bei der ersten Flasche Bier. Wir beschlossen, in unsere gute, alte Bibliothek zu gehen, weil dort geheizt war, und dort den Abend abzuwarten. Wir taten das auch und tranken etliche Flaschen Bier dazu. Im Lager wurde es lebhafter. Man fing allmählich doch an, an die Abreise zu glauben, und die Stimmung stieg rasend schnell, zumal jetzt, am letzten Abend, mit Bier nicht sparsam umgegangen wurde. Bald sah man Gruppen von Soldaten Arm in Arm über die Veranda ziehen, manchmal im dröhnenden Exerziermarsch aus alten Zeiten, und bald hörte man den Heimatsmarsch in allen nur möglichen Darstellungsformen: gesungen, gepfiffen, gegeigt, gegröhlt, getrampelt, auf der Ziehharmonika und allen sonst noch vorhandenen Instrumenten bis zum Kamm.

Bei uns war es ziemlich ruhig. Es entstand eine freudige, doch ruhige, manchmal innige Stimmung, denn unsere Gesellschaft bestand aus zwei Zurückbleibenden (Marr und Wulff ) und zwei Abreisenden (Helbig und mir). Den Zurückbleibenden mag es wohl etwas wehmütig zumute geworden sein, obgleich beide freiwillig blieben, bei uns Abreisenden überwog zunächst die Freude, endlich, endlich fortzukommen; ein leises Wehgefühl, von guten, lieben Kameraden geschieden zu sein, stellte sich erst an Bord ein, wo einem der Verlust erst richtig zum Bewusstsein kam.

Zum Abendessen brieten wir uns zum letzten Mal – verbotenerweise – auf dem Hibachi ein Kotelett mit Bratkartoffeln, und bald danach kam das Reisefieber zum Ausbruch. Die Tür stand keine fünf Minuten still, alle Augenblicke kam jemand, um Lebewohl zu sagen, oder mir fiel jemand ein, von dem ich noch Abschied nehmen musste, und immer häufiger sah ich nach der Uhr. Um 19:30 Uhr ging ich noch zum alten Herrn Hermann, der den großartigen Einfall gehabt hatte, für alle von ihm Abschied Nehmenden eine Tasse Kaffee bereit zu halten, die letzten 20 Minuten saßen wir noch alle zusammen in der Bibliothek, bis um 8 Uhr das altbekannte Signal zum Antreten ertönte. Wulff blieb sitzen, er sollte für Marr, der sich zum Bahnhof mitmogeln wollte, einen warmen Neujahrstrunk zurechtmachen. Und so verließen wir die Bibliothek, wie wir sie jahrelang jeden Abend um 21 Uhr verlassen hatten, und es war doch anders.

Auf dem gedeckten Gang war großer Trubel. Da der Sportplatz zu nass war, mussten wir hier antreten, und zwar nach dem Alphabet. Wir wurden gleich wagenweise eingeteilt, so dass jeder im Voraus wusste, in welchem von den 21 Wagen des Extrazuges er zu fahren hatte.

Wir Unteroffiziere standen am rechten Flügel und waren zuerst fertig. Nun ging es hinunter in den Dreck und gleich zum Lager hinaus. Auf der Straße vor dem Lager sollten wir antreten, und es sollte wieder einmal abgezählt werden. Vergebliche Mühe. Kein Mensch ging auf Vordermann, weil jeder sein relativ trockenes Fleckchen ausnutzte, um das Durchweichen der Schuhe möglichst lange hinauszuschieben. Außerdem hatte sich eine ganze Anzahl der zurückbleibenden Kameraden dazwischen gemogelt, um uns das Geleit zum Bahnhof zu geben.

Bild 46: Abmarsch

Wir standen wohl fast eine Stunde auf der nassen, dunklen Straße, denn das Aufrufen der Namen im Lager dauerte sehr lange, weil es sehr geräuschvoll dabei zuging, und draußen dauerte es auch eine ganze Weile, ehe die Begleitoffiziere zu der Überzeugung kamen, dass sie ein Abzählen doch nicht zustande bringen würden. Während wir so draußen standen und warteten, ertönte plötzlich aus dem Lager der Heimatmarsch. Der alte Herr Hermann blies ihn auf seiner Trompete uns zum Abschied, und wir fielen alle ein und sangen, was die Kehlen hergeben wollten. Die japanischen Offiziere liefen verzweifelt hin und her, bis sie einsahen, dass sie mit uns nichts mehr anfangen konnten und das Zeichen zum Abmarsch gaben. Ich hatte inzwischen Marr gefunden, und wir marschierten nun zusammen in der Kolonne. Als wir in die Stadt kamen, traten die Bewohner überall aus ihren Häusern, winkten und riefen uns »Sayonara« zu, und wir erwiderten es und sangen. Am Bahnhof gab’s an der Sperre eine große Stockung und das übliche ratlose Warten. Endlich wurden wir durchgelassen, suchten unser Handgepäck zusammen und wollten in den bereitstehenden Zug einsteigen. Da hieß es auf einmal: Noch nicht einsteigen! Warum? Das wußte niemand, wahrscheinlich sollte gezählt werden. Wir standen also neben dem Zug und warteten. Es war sehr ungemütlich, weil unser Schuhwerk vollkommen durchnässt war und wir infolgedessen bald Eisbeine bekamen. Als wir eine halbe Stunde gestanden hatten, hieß es zur Abwechselung: Einsteigen! Wir taten es, verstauten unser Gepäck und stiegen dann wieder aus, um noch mit den Zurückbleibenden zu plaudern. Jetzt wurde es Ernst mit dem Abschied; die Worte flossen schwer von Lippen, und manches Auge wurde feucht, und der Augenblick, der von uns seit fünf Jahren herbeigesehnt war, an dem wir geglaubt hatten, vor Freude verrückt werden zu müssen, war nun da und war viel ernster, als wir uns gedacht hatten und wäre es selbst dann gewesen, wenn wir nicht hätten Abschied nehmen müssen. Ein Stückchen Herz bleibt auch an dem Ort zurück, an dem man viel gelitten hat.

Die Lokomotive fuhr vor, der Zug ruckte, und wir mussten einsteigen, aber wir blieben auf den Plattformen der Wagen stehen, und erst, als die Lokomotive pfiff und der Zug anfuhr, tauschten wir den letzten Händedruck! Aus 21 Wagen scholl es nun: »Holdrioh! Jetzt geht’s zur Heimat!« und langsam, langsam wälzte sich die lange Schlange aus dem Bahnhof – blieb stehen und – fuhr wieder in den Bahnhof zurück. »Aha! Telegramm vom Kriegsministerium! Abreise verschoben!« Nein, diesmal ging’s wirklich los, wir wurden nur aufs Hauptgleis rangiert und konnten noch einmal unsere Kameraden sehen, ihnen zuwinken und singen. Dann fuhren wir wirklich ab. Es war am 31. XII. gegen 23 Uhr nachts. Ein guter Abschluß des bösen Jahres 1919. Bald verstummten die Sänger, und es wurde ziemlich prosaisch. Stiefel und Strümpfe wurden gewechselt und nach den großen Aufregungen der letzten Tage trat bald eine erlösende Stille und Entspannung ein. Jedes Holpern des schlechten, alten Wagens bestätigte uns ja das noch immer Unfassbare: Es geht nach Hause. Um 24 Uhr wurde es etwas lebhafter, wir wünschten uns ein frohes Neues Jahr, dann dämmerten wir weiter. Unser Zug fuhr sehr langsam und lag alle Augenblicke still. Mit dem Schlafen war es nichts. Das fortwährende Halten und Wiederanfahren hielt uns trotz aller Müdigkeit wach, und außerdem war es viel zu eng für uns große Leute in dem kleinen japanischen Wagen. Gegen 1 Uhr waren wir in Hakata (Fukuoka), wo wir zehn Minuten Aufenthalt hatten und uns auf dem Bahnsteig die Beine vertraten. Karlchen kam nach vorne und wünschte mir frohes Neujahr. An der Bahnsteigsperre standen eine ganze Menge Japaner, um sich den Zug anzusehen, und sie mögen wohl ziemlich erstaunt gewesen sein, als plötzlich dröhnender Gesang durch die nächtliche Bahnhofshalle schallte.

Von Hakata ab wurde es immer ruhiger in den Wagen. Man versuchte zu schlafen. Der »arme, alte, kranke Herr Dreyer« bekam sechs Krankheiten nacheinander, aber niemand hatte Mitleid mit ihm und trat ihm seinen Platz ab, so daß er sich hätte ausstrecken können. Trotzdem ist er nicht gestorben. – Gegen 3 Uhr kamen wir in das Industriegebiet. Wir fuhren jetzt fortdauernd zwischen großen Stahlwerken, Hochöfen, Fabriken dahin, drückten die Nasen gegen die Fensterscheiben und ließen die Bilder an uns vorüber gleiten. Wir reisten! – Um 5:30 Uhr sah ich draußen etwas glitzern. Das waren keine Pfützen mehr, das war Wasser, das Meer, das große Meer, nach dem wir uns krank gesehnt hatten. Kurz vor 6 Uhr liefen wir in Moji ein. Wir sollten noch eine letzte Probe vom japanischen Kommissbetrieb bekommen.
 

[2. In Moji und Shimonoseki]

Der Zug hält. Die riesige, von Bogenlampen erhellte Bahnhofshalle ist leer. Wir steigen aus, bleiben vor unseren Wagen stehen und sehen uns um. Da ist ja schon wieder dieses Mistvieh von Oberst und die »Wildsau« nebst dem üblen Aoyama, dem Dolmetscher, da ist Goto, der Ober-Idiot, die Leutnants, Sergeanten, die unvermeidlichen lieben Posten. Wir stehen also, und kein Mensch weiss, was los ist, die Japaner auch nicht. Aber das macht gar nichts, es wird schon etwas kommen – und richtig: Von irgendwoher kommt der Ruf: »Antreten!« Und nach einer Weile heißt es weiter: »Zu fünfen! Mit Handgepäck!« Wir treten also zu fünfen mit Handgepäck an. Das scheint aber noch nicht das Richtige zu sein, denn jetzt heißt es wieder: »Handgepäck beiseite stellen!« Wir stellen also das Handgepäck beiseite und treten wieder an. Und gerade will der Oberleutnant anfangen zu zählen, da geht das Licht aus, und zwar gleich in ganz Moji. Allgemeines »Ah«! Die Japaner ärgern sich, wir freuen uns. Im Lager war das Licht so oft ausgegangen, weil die Leitungen unglaublich nachlässig angelegt waren, warum sollte es nicht auch mal in Moji ausgehen? Alles muss seine Ordnung haben bis zum letzten Tag, und in Japan gehört es zur Ordnung, dass das Licht ausgeht. Zunächst warten wir also, denn es ist stockfinster. Allmählich tauchen einige Petroleumfunzeln auf und Oberleutnant Seiffert gibt bekannt, es hätte den Anschein, als ob wir jetzt in einen Saal geführt werden würden, wo die Übergabe stattfinden sollte.

Wir setzen uns auch wirklich in Bewegung und ziehen durch die Bahnsteigssperre und den dunklen Wartesaal. Hier ist schon wieder Halt. Es wird bekannt gegeben, wer sein »großes Handgepäck« nicht tragen wolle, könne es hier vorläufig stehen lassen. Das war ziemlich unklar. Wir hatten keine Ahnung, wohin und wieviel wir zu gehen haben würden, und ich ließ vorsichtshalber meine ziemlich schwere Handtasche zurück. Die meisten aber behielten alles bei sich, obgleich sie wie die Lastesel bepackt waren. Der große Platz vor dem Bahnhof war dunkel und ebenso von Schlammwasser bedeckt wie die Straßen Kurumes, so dass man kein Gepäck aus der Hand geben konnte. Unsere notdürftig getrockneten Schuhe waren waren bald wieder vollkommen durchgeweicht, und so standen wir wohl dreiviertel Stunden in »Nacht und Eis«. Es wurden verschiedene Versuche gemacht, uns antreten zu lassen, aber leider war man sich über die Front nicht im klaren, und so wurde nichts daraus. Erst als kurz vor 7 unter dem üblichen Ah! das Licht wieder anging, wurde eine Art von Gruppenkolonne zusammengestellt und dann abmarschiert. Wir waren sehr neugierig, wohin es wohl gehen sollte und fingen bald an, uns zu wundern, dass es so weit war. Was sollte denn diese nächtliche Landpartie, noch dazu mit dem vielen Gepäck. Immer noch kein Ende? Das war ja beinahe eine Felddienstübung. Wir kamen an den Rand der Stadt, was wollten die Kerls bloß mit uns: Doch da – eine Querstraße – und wir standen vor dem prunkvollen, erleuchteten Gebäude der Y.M.C.A. (Young Men’s Christian Association). Wir gingen geradewegs in den hell erleuchteten großen Saal, griffen uns die in einer Ecke liegenden Klappstühle und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Vorn war eine Art Bühne, darauf ein Tisch und sechs Stühle. Aha! Die Übergabe! Wir warteten geduldig, und nach einer erfolglosen halben Stunde bald ungeduldig, doch nichts erfolgte. Unsere jungen Männer benahmen sich nicht sehr christlich, sie waren z.T. noch – oder schon wieder – blau, und es wurde immer lauter.

Plötzlich erschien »Huyo« (Schöning) auf der Galerie und rief in den Saal: »Bitte mal einen Augenblick herhören! Kann mir vielleicht einer der Herren sagen, was wir hier sollen?« – Großes Halloh. – Aber niemand wusste es; auch die Japaner nicht, denn jetzt hieß es wieder: »Draußen antreten!« Die meisten blieben erst noch ein Weilchen sitzen, weil sie glaubten, dass sie doch wieder reinkommen würden, aber es ging tatsächlich weiter und in einem wenig kriegerischen Aufzug wälzten wir uns durch die Straßen Mojis und kamen auf einem freien Platz an, der augenblicklich eine Planschwiese war. In der Mitte des Platzes standen japanische Offiziere, und nach einigem Herumlungern stellte sich heraus, daß wir nach dem Alphabet antreten sollten, und zwar im großen Kreis um den Platz, wo die Offiziere standen. Das war gar nicht so einfach, denn erstens waren da viele Pfützen, und zweitens wurde uns die Sache allmählich zu dumm, und wir ließen alles mit der Ruhe des »steinalten Mannes« an uns herankommen. Trotzdem waren wir nach etwa einer halben Stunde so weit, dass ein geschultes Auge deutlich erkennen konnte: Hier soll etwas wie eine Aufstellung gemacht werden. Wir kamen aber damit nicht zu Ende, denn über die Wiese kamen ein paar Herren in Zivil und von der anderen Seite der Oberst mit seinem Stab. In der Mitte des Kreises gab es eine feierliche Begrüßung. Dokumente wurden ausgewechselt und dann ergriff Herr Kestner vom Hilfsausschuss Tokyo das Wort. (Kiek, dat’s den Schwiezer Gesandten.) Er sagte uns, dass er die Ehre und die Freude hätte .... 5 lange Jahre ... vergeblich gewartet ... aber heute usw. und dann weiter: »Ich verlese jetzt die einzelnen Namen und bitte mit ›Hier!‹ zu antworten. Herr Baurat Langenbach, Herr Stabsveterinär Pfeiffer, Herr Leutnant sowieso, Obersteuermann Graumann, Feldwebel Schlieter ... ich verlese jetzt, um Zeit zu sparen, nur noch die Namen – naja, schon gut, wir wissen Bescheid«, und dann ging’s los von Albermann bis Zielaskiowitz, es hat keiner gefehlt. Anschließend sprach er noch ein paar Worte und schloß mit einem dreifachen Hurrah auf das Vaterland und die Freiheit, das donnernd aufgenommen wurde. Es war am 1. Januar 1920 8:20 Uhr morgens. – Japanische Kommandos. Ein Offizier ließ die Begleitposten antreten und im Hintergrund verschwinden. Wir waren frei. Jetzt sprach der Transportführer, Fregattenkapitän Boethke noch einige Worte. Er sagte uns, dass die Himalaya Maru ihr Laden in Kobe hätte unterbrechen müssen, um uns abzuholen, offenbar hatte das Kriegsministerium auf Übernahme am 1. Januar bestanden, und dass wir infolgedessen nicht, wie beabsichtigt, Shanghai anlaufen würden, sondern nach Kobe zurück und von dort direkt nach Singapore fahren würden.

Bild 47: Himalaya Maru

Als er geendet hatte, marschierten wir zum Hafen. Wir gerieten fast in Laufschritt, alles drängelte nach vorn, jeder wollte so schnell wie möglich an Bord. Am Quai gab es eine neue Stockung: »Wer heute morgen Handgepäck abgegeben hat, gleich abholen.« Und durch die festgekeilte Menge der Wartenden drängten die Gepäckholer rechts raus und kämpften wie die Löwen um ihr Gepäck, als ob der Dampfer hätte ohne sie abfahren können.

Das Einholen und Übersetzen dauerte ziemlich lange, weil – wir hatten Neujahr – alle Zampanleute besoffen waren. Um 11 Uhr war ich aber an Bord und sah mich zuerst nach meiner Koje um. Ich war von der Einrichtung angenehm enttäuscht. Es war natürlich alles sehr eng, aber nicht so schlimm, wie wir gefürchtet hatten. Das Mittagessen, das es um 12 Uhr gab, war ganz hervorragend – möchte es immer so bleiben!

Da unter Deck eine furchtbare Kramerei war, ging ich bald nach oben, um mir das Schiff anzusehen. Zu meinem Erstaunen sah ich, dass ein ganz reger Verkehr mit dem Lande bestand und dass Soldaten nach Belieben an Land fuhren und zurück kamen. Ich stand gerade am Fallreep, als mir ein paar Kameraden zuriefen, ob ich nicht Lust hätte, mit an Land zu gehen. Ich wollte eigentlich erst nicht, zu groß war noch die Freude, Japans Boden verlassen zu haben, aber schließlich dachte ich: Warum nicht, und stieg mit hinunter. Die gesamte Besatzung des Dampfbootes war stinkehagelduhn [sturzbetrunken]. Als wir abfahren wollten, vergnügte sich der Kapitän damit, das Boot immer 10 bis 20 Meter volle Kraft vorwärts und rückwärts laufen zu lassen und hatte schließlich den Erfolg, dass er mit voller Kraft gegen das Fallreep rannte, dessen unteren Teil zerschmetterte und ein Stück mitriß. Oben an der Reeling brüllten die Himalaya-Matrosen empört ihr »Bakka«, während der Dampfbootführer sich totlachen wollte und vor Freude über seine Navigationskünste erst ein paar Mal im Kreise herumjagte, ehe er sich entschloß, einen etwas zackigen Kurs nach Moji einzuschlagen, wo wir wunderbarerweise, ohne einen Zusammenstoß gehabt zu haben, nach einigem vergeblichen Anrempeln der Landungsbrücke heil ankamen.

Burberg, Konapacki und ich gingen auf einen kurzen Bummel durch die Stadt. Wir sahen uns immer wieder ganz erstaunt um, ob kein wütender Posten hinter uns her kam oder ein Sergeanto oder ein Schutzmann; die Freiheit schien uns zu unfassbar, hatten wir doch fest geglaubt, dass jedes eigenmächtige Betreten von Dai Nippons Boden vollkommen ausgeschlossen sein würde. Doch man gewöhnt sich schnell an die Freiheit, schneller als an die Gefangenschaft, und bald zogen wir mit der größten Selbstverständlichkeit herum. Da wir nun so ganz wider Erwarten Gelegenheit hatten, frei in Japan zu sein, entschlossen wir uns, ein gutes, vornehmes Teehaus zu besuchen, um wenigstens einmal ein Stück japanisches Leben mit zu erleben. Wir mussten lange suchen und uns auf unser Glück verlassen, denn sowie wir nach einem Teehaus fragten, wurden wir selbstverständlich zum nächsten Puff geführt. Das Glück war uns aber hold. Wir kamen vor ein sehr vornehm aussehendes, schön gelegenes japanisches Haus, das sich als Teehaus entpuppte.

Man empfing uns sehr höflich, doch sichtlich verlegen, wahrscheinlich, weil wir in Uniform waren, und wir waren schon im Zweifel, ob unser Plan gelingen würde, als zwei sehr vornehm aussehende Japaner das Haus betraten. Beide Herren sprachen gut englisch, und nun klappte alles. Sie interessierten sich für den Fall und leiteten alles in die Wege. Man führte uns in ein wundervolles Zimmer. Blitzsaubere Matten, herrliche, altjapanische Schnitzereien und Bronzen, an einer Seite eine ganz kleine, hübsche Bühne. Für jeden von uns wurde zunächst ein Kissen und ein Hibachi gebracht. Dann kamen kostbare Lacktischchen, und nach kurzer Zeit fing das Essen an und hörte für uns überhaupt nicht auf. Neben jedem von uns hockte eine niedliche Nesan [Kellnerin] zur Bedienung, und Schälchen auf Schälchen, köstliches Porzellan, mit den ausgesuchtesten Delikatessen wurde gebracht. Oh, wie eintönig ist ein europäisches Essen, verglichen mit solch großartigem Phantasiestück von Speisekarte, nein Speisealbum. Der Sake machte bald alle munter: Ich packte meine längst beiseite gelegten japanischen Vokabeln wieder aus, schoss natürlich einen Bock nach dem anderen, und die Nesans, die artigen, waren reizend in ihrer schüchternen Freude. Dann wurden Musikinstrumente gebracht und Geishas erschienen. Kleine, feine, zierliche, bunte Schmetterlinge. Solch ein Püppchen trägt auf ihrem kleinen, zierlichen Körper oft für Tausende von Yen köstlichster Seide. Sie tanzten. Jeder Tanz ein ungesprochenes Gedicht oder vielleicht eher noch ein Lied. Es erzählt etwas ganz Besonderes, das man, genau so wenig wie Musik, mit Worten genau treffen und erschöpfen kann, aber es entzückt. Auf einem Saiteninstrument wird dazu Musik gemacht, für uns schwer deutbar, doch voller Stimmung, auch für unsere Empfindungen deutlich verknüpft mit dem Tanz und Gesang.

Die Stunden vergingen wie im Fluge, und es war schon dunkel, als wir aufbrachen. Wir wollten wieder an Bord, doch stellte es sich im Hafen heraus, dass kein Dampfboot mehr an Bord ging; und da die Zampan-Kulis samt und sonders besoffen waren und wir uns ihnen nicht anvertrauen wollten, so beschlossen wir, an Land zu übernachten. Ein guter Einfall. Selbstverständlich, das wird gemacht. In unserer engen Koje an Bord schlafen wir noch oft genug! Aber warum gerade in Moji? Hier ist nichts los, und drüben liegt im Lichterglanz Shimonoseki! Warum sollten wir, als freie Deutsche, nicht nach Shimonoseki fahren, wenn wir Lust dazu haben? Kurz entschlossen gehen wir zur Dampffähre und fahren in 20 Minuten rüber nach Shimonoseki.

Dort fanden wir reges Leben, und wir gingen eine Weile spazieren, hauptsächlich, um uns unserer Freiheit zu freuen und noch ein bißchen von der Stadt zu sehen. Zu größeren Unternehmungen hatten wir keine Lust mehr, da wir nach der letzten durchwachten Nacht ziemlich müde waren. Wir beschlossen daher, ein japanisches Hotel aufzusuchen, und Burberg hatte den vernünftigen Einfall, sich dieserhalb an das am Bahnhof befindliche Auskunftsbüro zu wenden. Der Beamte schrieb uns auf unsere Bitte einige Adressen auf, und wir waren gerade fortgegangen, um uns auf die Suche zu machen, als er hinter uns hergelaufen kam, um uns persönlich dabei behilflich zu sein. Die zwei ersten Hotels, in die er uns führte, waren besetzt. Nun fing er an zu telefonieren, und bald hatte er ein Zimmer für uns ausfindig gemacht. Er brachte uns selbst zu dem Hotel und machte auch alles Nötige mit der Wirtin ab, da direkte Verhandlungen bei meinen japanischen Kenntnissen wohl ziemlich lange gedauert hätten. Als alles geregelt war, wollten wir ihn zu einem Glase Bier einladen, weil er für ein Trinkgeld zu anständig aussah. Er bedauerte lebhaft, da er sofort in sein Büro zurück musste, gab uns aber noch den Rat, der Nesan ein Trinkgeld von etwa 2 Yen zu geben. Ich sagte ihm, daß ich das gern morgen früh tun würde, wogegen er einwandte, es dürfte ratsamer sein, das Geld schon jetzt zu geben, da dann die dankbaren Nesans uns mit womöglich noch größerem Wohlwollen bedenken würden. Das war natürlich sehr einleuchtend, und ich drückte ihm die zwei Yen in die Hand, ihn bittend, sie der Nesan auszuhändigen. Kurz darauf kam er zurück und übermittelte uns den Dank der Nesan, die über unsere reichliche Gabe tief gerührt war.

Inzwischen hatten uns die Nesans die üblichen Kissen und den Hibachi gebracht und das Wasser aufgesetzt. Wir bestellten dann unser Abendbrot und traten noch etwas auf die Veranda, um uns die festlich erleuchtete Stadt anzusehen. Bald kamen die Nesans, drei an der Zahl, mit dem Essen und dem Fremdenbuch und hockten sich artig neben uns, füllten die Schüsseln, machten Tee und lächelten. Eine Unterhaltung war gerade etwas in Gang gekommen, als zwei Japaner in Europäer-Zivil das Zimmer betraten und sich zu uns setzten. Dies fiel uns zunächst gar nicht auf, denn die Japaner sind naiv-neugierig, und wir waren so etwas gewohnt. Wenn man z.B. in Kurume beim Zahnarzt war, dann stand bald ein halbes Dutzend Japaner beiderlei Geschlechtes und verschiedensten Alters um uns herum und besah sich den Rachen und den Bau unserer europäischen Esswerkzeuge. Die Herren fingen, sehr höflich übrigens, eine ganz unverfängliche Unterhaltung an, wir blieben uns aber über den Zweck des Besuches nicht lange im unklaren: Die schwarzen Hosen kannten wir zur Genüge – Polizei!

Uns wurde bei dieser Entdeckung etwas schwül zumute, wussten wir doch gar nicht, ob wir überhaupt nach Shimonoseki fahren durften! Wir ließen uns aber nichts merken, sondern unterhielten uns ruhig weiter. Schließlich zog der eine von ihnen ein harmloses, kleines Notizbuch und bat uns, Name und Beruf einzutragen. (Auch diese Aufforderung musste durchaus unverfänglich scheinen, denn die Japaner haben eine wahre Sucht, Visitenkarten auszutauschen und Adressen zu sammeln.) Wir taten es und baten nun die Herren, für uns die nötigen Eintragungen in das Fremdenbuch zu pinseln, das für uns natürlich ein Buch mit sieben Siegeln war. Bereitwilligst willfahrten sie unserem Wunsche. So ganz nebenbei erkundigten sie sich auch, ob wir Germans wären. Ja, das waren wir. Ferner wollten sie noch wissen, wann wir abführen, brachten dann das Gespräch wieder auf unverfängliche Dinge und empfahlen sich schließlich sehr höflich.

Nach dem Essen brachten uns die Nesans Schlafkimonos. Für den Winter ist das ein wattierter Kimono mit einem Leinen-Unterkimono. Wir zogen uns um und gingen dann ins Bad. Die Japaner seifen sich vor dem Bad nur ein, spülen dann die Seife ab und steigen in einen Kübel mit heißem Wasser (bis 40° C und mehr), wo sie eine Weile sitzen bleiben. Solch ein Bad ist sowohl im Winter wie im Sommer eine große Wohltat, nur muß man danach ruhen können, weil man nach dieser Abbrüherei furchtbar müde wird.

Im Zimmer hatten inzwischen die Nesans unsere »Betten« zurecht gemacht. Eine Bettstelle gibt es im japanischen Haus nicht. Auf der Matte wird ein Futon, eine dicke, doch leichte Wattedecke, ausgebreitet. Auf diesen Futon legt man sich in den Schlafkimono gehüllt und deckt sich mit einem ebensolchen Futon zu. Unter den Kopf kommt eine Kopfrolle. Diese Schlafeinrichtung ist außerordentlich angenehm. Da die Schultern durch den warmen Kimono geschützt sind, braucht man sich nicht ängstlich in seine Decken zu wickeln, sondern kann sich behaglich unter dem warmen, doch leichten Futon nach allen Seiten ausstrecken. (Der Futon ist ziemlich quadratisch, so daß man sich in seinem »Bett« nach allen Himmelsrichtungen drehen kann, ohne sich bloßzustrampeln. Wir taten dieser nützlichen japanischen Einrichtung alle Ehre an und schliefen wie die Toten.

Am nächsten Morgen um sechs standen wir auf, und während wir uns wuschen und anzogen, räumten die Nesans die Futons weg, fegten die Matten, und das Wohnzimmer war wieder fertig. Der Hibachi wurde angezündet, Wasser aufgesetzt und auf das Frühstück gewartet. Es bestand aus einer gewaltigen Portion Curry mit Reis. Danach stiegen wir hinunter, zogen die Stiefel an, das ganze Personal des Hotels versammelte sich, allgemeines Verbeugen, Sayonara, Sayonara.

Um acht Uhr fuhren wir wieder nach Moji. Wir glaubten, dort eine Menge Kameraden zu finden, die dort übernachtet hätten, sahen aber niemanden und nahmen daher an, dass eine frühere Abfahrtszeit festgesetzt worden wäre. Als wir uns nach einem Boot umsahen, mit dem wir hätten an Bord zurückfahren können, kam ein Zampan mit Offizieren von der Himalaya an, die uns sagten, dass wir vor 16 Uhr nicht in See gehen würden. Unter diesen Umständen blieben wir natürlich noch vormittags an Land und machten dort einige Besorgungen.
 

[3. In Kobe]

Nachmittags um 17 Uhr war der große Augenblick gekommen, da der Anker gelichtet wurde. Langsam setzte sich die Himalaya Maru in Bewegung und dampfte in die Inlandsee.

Die Fahrt durch die Inlandsee ist sehr schön und berühmt. Sie erinnerte mich vielfach an die Reise durch die norwegischen Schären; die Ähnlichkeit ist jedoch nach meinem Empfinden nur eine äußerliche. Gerade dieser Vergleich zeigt sehr deutlich, wie verschieden der Strukturen nach ähnliche Landschaften auf das Gemüt wirken können. Hier die subtropische, strahlende Sonne, fremde phantastische Formen, malerische Segel, geschwungene Tempel auf den Inseln, die dem japanischen Klima eigentümliche klare Luft mit den schwachen, strichartigen und fast durchsichtigen Dunstschleiern, die sich längs der Berge hinziehen und Fuß und Gipfel freilassen, alles heitere, selbstverständliche Schönheit, und oben im Norden die schwache, tiefstehende Sonne, die langen, wunderzarten Dämmerungen, die kalten Nächte, in denen man wie verzaubert an Deck wacht und ahnungsvoll die Unendlichkeiten der ewigen Eiswüsten empfindet, alles geheimnisvoll, ahnungsreich und doch vertraut als Ur-Boden unserer Rasse, der zu unserem Blut spricht.1

An diesem Abend wurden wir noch zweimal daran erinnert, dass am japanischen Neujahrsfest nicht alles nüchtern ist. Kurz vor der Abreise stieß uns ein Dampfer mit stark angefeierter Besatzung eine tüchtige Beule ins Heck, und am Abend wären wir in der Inlandsee um ein Haar gerammt worden. Ein Dampfer versuchte, unseren Kurs vor unserem Bug zu kreuzen, und erst als unser Dampfer tutete: »Ich steuere hart Backbord«, kam der andere zur Besinnung und steuerte hart Steuerbord, so dass noch gerade alles klar ging.

Sonst ereignete sich bis Kobe nichts Bemerkenswertes, wo wir um 13 Uhr vor Wadapoint ankerten. Nachdem Arzt und Hafenbehörden an Bord gewesen waren, fuhren wir weiter bis zur Boje. Ich hatte mich schon gegen 13:30 Uhr am Fallreep aufgestellt, um gleich mit dem ersten Leichter an Land zu kommen. Andere taten das gleiche, und von 14 Uhr ab war das Aufbaudeck am Fallreep gerammelt voll. Wir lagen schon über eine Stunde an der Boje, ohne dass sich etwas ereignet hätte, und warteten, dass nun endlich das Fallreep heruntergelassen würde. Als endlich das erste Dampfboot längsseits kam, wurde zu unserer unangenehmen Überraschung wegen der Beschädigung in Moje das Fallreep überhaupt nicht herunter gelassen, sondern alles mußte über die Jakobsleiter hinuntersteigen. Da diese etwa 20 m weiter achtern hing, standen wir, die wir am längsten gewartet hatten, nun ganz hinten. Das Ausbooten ging unter diesen Umständen natürlich sehr langsam, trotzdem noch eine zweite Jakobsleiter angebracht wurde und alle möglichen Stricke herunterhingen, an denen sich die Leute in schnell herbeikommende Zampans hinabließen. Es gab ein fürchterliches Gedrängel, und erst um 16:30 Uhr gelang es mir, mit Karlchen zusammen in einen Zampan zu kommen, so dass wir erst um 17 Uhr endlich an Land waren.

Ich wollte zunächst ein bißchen mit ihm herumbummeln und dann zu Griebels2 gehen. An der Landungsstelle trafen wir aber gleich Hagen3, der aber sehr beschäftigt war und mir (oder uns beiden?) zurief: »Kommen Sie zu mir zum Dinner!« »Wann?« »Any time, na sagen wir 19 Uhr, bin noch sehr busy«, und damit lief er weiter. Da Griebels mich sicher erwarteten, mußte ich nun vor 19 dort noch Besuch machen. Eine dumme Geschichte war es aber mit Karlchen. Hatte Hagen mit der Einladung uns beide oder nur mich gemeint? Wir knobelten uns schließlich aus, dass Karlchen sich zur verabredeten Zeit bei Hagens Haus einfinden sollte. Ich wollte dann allein reingehen, und wenn Hagen uns beide gemeint hatte, würde ich nach ihm fragen und ihn dann holen, anderenfalls war eben nur ich gemeint gewesen. Wir trennten uns dann; Karlchen ging ins Café Orient, wo von der Kobe'er Frauenhilfe für jeden Passagier der Himalaya Maru zwei Tassen Kaffee und drei Stück Kuchen gestiftet worden waren. Dies war bereits durch Anschlag an Bord bekannt gegeben worden. Ich nahm mir eine Rikschah und fuhr zu Griebels. Jetzt fühlte ich mich zum ersten Mal wirklich frei, fünf Jahre lang war ich ein Kuli gewesen, jetzt zog mich der Kuli den Berg zur Kitano-cho rauf. Auch äußerlich hatte ich den Kriegsgefangenen abgestreift, ich hatte Zivil angezogen, zum ersten Mal seit Oktober 1913, und fühlte mich ganz unbeschreiblich wohl.

Das Auffinden der Wohnungen ist gar nicht einfach wegen der systemlosen Adressenbezeichnung. Die großen Hauptstraßen haben Namen, Griebels z.B. wohnen Kitano-cho. Diese Straße ist wieder in Blöcke geteilt, die nummeriert sind, 1 chome, 2 chome, 3 chome, usw. Solch ein Block reicht von einer größeren Straße bis zur nächsten parallelen größeren Straße und enthält ein Gewirr von Gassen und Gäßchen. Innerhalb eines solchen Blockes, chome, sind nun die Häuser nummeriert, aber nicht etwa nach ihrer Lage, sondern wie es gerade kommt, so dass z.B. die No. 3 neben No. 7 und diese etwa neben No. 23 liegen kann. Ein Suchen nach einem unbekannten Hause ist daher ganz aussichtlos; man muss sich durchfragen bei Leuten, die in dem betreffenden chome wohnen, und wenn man Glück hat, findet man jemand, der es weiß und der einem dann eine lange japanische Rede hält, die man nicht versteht.

Die Rikschah-Kulis wissen gewöhnlich nur in dem chome Bescheid, in dem sie ihren Stand haben, und da man meistens aus einem anderen chome kommt, so muss auch der Rikschah-Kuli oft erst auf Entdeckungsreisen gehen, ehe er sein Ziel findet.

Nach einigem Hin- und herfragen kam ich aber an und trat in Griebels europäisches Haus! Treppen, Läufer, Garderobenständer, weiße Türen mit Klinken! So etwas gab es also doch noch auf der Welt! Und ein gemütliches, geheiztes Zimmer, Gebäck, Zigaretten, Wein! Ich war im siebenten Himmel und ganz benommen vor Glück. War denn das alles wahr? War ich das wirklich, dem Elly Griebel Tee reichte, war ich das, der Frau Griebel von Kurume und ihrem Bruder erzählen musste? Ich hatte das Gefühl, dass dies alles zu viel auf einmal wäre, dass ich es gar nicht ganz in mich aufnehmen konnte, und dass ich es erst nach einiger Zeit ganz begreifen würde, wie glücklich ich mich damals gefühlt hatte.

Griebels wollten mich gleich zum Abendessen und zur Nacht dabehalten, und da dies wegen der Einladung von Hagen nicht ging, so sagten sie mir, ich sollte wenigstens bei ihnen übernachten, falls ich bei Hagen kein Unterkommen finden würde. Als ich um eine Beschreibung von der Lage des Hagen’schen Hauses bat, sagten sie mir, das könne man doch nicht beschreiben, Elly würde mich hinbringen. Alle Proteste halfen nichts, ich alter Krieger musste mich von einem jungen Mädchen begleiten lassen. Hagen war noch nicht zu Hause, ich ging daher noch ein Weilchen spazieren und traf bald mit Karlchen zusammen, der in einer Rikschah fuhr und sich vergebens bemühte, Hagens Haus zu finden. Als wir gerade vor Hagens Haus standen, kam Hagen an und lotste uns in sein Haus, so dass die Einladungsfrage für Karlchen zur Zufriedenheit gelöst war.

Hagen ist ein alter Junggeselle und ostasiatisches Original ersten Ranges. Alter Hamburger, aber schon so lange draußen, dass man gar nicht recht weiß, wie lange. Grob, bullerig, dabei eine Seele von Mensch. Er war lange in der Südsee, dann in Japan, spricht ein Gemisch von Hamburger Dialekt, Englisch, Japanisch und Hochdeutsch, das dem Nichteingeweihten nur schwer verständlich ist, zumal er sich kurz ausdrückt. Marr hatte früher zusammen mit ihm gemesst, und Hagen war sein Stiefpapa gewesen, wie er sich nannte. Er hatte ihn 1915 einmal in Kurume besucht, und außerdem hatte ich ihn durch Briefe an Marr und später, gelegentlich einiger Besorgungen, auch an mich, noch näher kennen gelernt. Mit vielen seiner Eigentümlichkeiten war ich schon durch Marrs und Wulffs Erzählungen vertraut gemacht worden; denn sobald die beiden anfingen, in ihren Japan-Erinnerungen zu kramen, kam auch Hagen »auf die Back«; meistens endete dann der Abend mit einer versoffenen Karte an Hagen, die prompt mit einem sacksiedegroben Brief beantwortet wurde. Ich erinnere mich noch einer Karte, die wir drei mal an ihn losließen und die wegen ihrer Karikierung der Hagen’schen Schreibweise hier folgen mag. Vorweg sei noch erwähnt, dass Wulff auch ein »Sohn« von Hagen war.

Stiefsohn, Sohn und Enkelkind
in dunkler Baracke beisammen sind
und wundern sich; nicht etwa über das Bier,
welches sie getrunken haben, sondern über Dir
und Deinen Benimm. Reports
kommen überhaupt nicht mehr über.
Verachtungsvoll .........
Paul Hagen Exquiere
Service des prisonniers de bière.4

Auch Karlchen wusste schon manches über seine kleinen Eigenheiten. Er kaufte z.B. jeden Mist an billigen Porzellanfiguren, Aschenbechern, Scherzartikein, und seine Zimmer stehen voll davon. Mit diesen »10-Pfennigs-Artikeln« wurde er von Marr stets geneckt. Ein besonders beliebter Scherz von Marr war es gewesen, die »10-Pfennigs-Artikel« als Aschenbecher zu benutzen, und in den Mäulern von Porzellanfröschen, auf den Hüten von Porzellanmädchen, überall fand Hagen hinterher Aschenreste und war darüber sehr empört, zumal er selber kein Raucher ist, und der Satz »Die Raucher sind die rücksichtslosesten Leute, sie stänkern einem die Bude voll und benutzen nicht einmal die Aschenbecher« ist seitdem eine der Hauptstützen seines Vokabulariums. »Ja, ja, S-tank für Dank.«

Wir wußten aber schon allerhand über ihn, und besonders Karlchen war nun sehr gespannt, was wohl alles kommen würde. Wir legten ab und traten in sein Zimmer. Überall die 10-Pfennigs-Artikel, ein richtiges kleines Museum. Karlchen freut sich diebisch. Vor jedem Platz am Tisch ein großer Aschenbecher. Karlchen grient mich von der Seite an, aha, die rücksichtslosen Raucher!

Hagen wirft einen Blick in die Zeitung, und wir sehen uns um. Dann geht Hagen ins Nebenzimmer und macht einen köstlichen Cocktail zurecht, den »Appetiser«. Appetit haben wir bald genug, und Hagen führt uns ins Eßzimmer. Großartiges Essen – »pot luck«, sagt Hagen. So haben wir seit Jahren, oder, wie man hier sagt, »seit Jahrenden« nicht mehr geschlemmt, Butter, Käse, Früchte, Schnaps, »sweets«, nichts fehlte. Und nun sollten wir »einen nehmen«; und im Wohnzimmer wurde wieder »einer genommen«. Hagen hat zwei Grammophons, mit denen er seine Gäste unterhält. »Döhntjes oder hohe Kunst?« fragt er, und ich kenne seine Vokabeln durch Marr schon genug, um ohne langes Zögern und ohne beschämende Rückfrage sagen zu können: »Döhntjes«, und zu wissen, dass nunmehr wohl Wilhelmine mit dem Fettfleck am Knie oder Ähnliches auf dem Grammophon ertönen würde. Und so kam es auch. Hagen spielte »Döhntjes« und manchmal auch hohe Kunst, und zwar abwechselnd auf zwei Apparaten, damit die Pausen nicht zu lang würden. So pendelte er stundenlang zwischen seinen beiden Apparaten hin und her, und dazwischen wurde einer genommen. Zuerst Whisky-Soda, dann Bier, auch ein paar Schnäpse und dann weiter Whisky, so dass die Stimmung bedeutend stieg und besonders Karlchen bald ziemlich glücklich war.

Um 11 gedachte ich die Nachtquartierfrage anzuschneiden und markierte Aufbruch. Hagen schnitt die Erörterungen mit der lakonischen Bemerkung ab: »Einen nehmen!« Um 12 Uhr fange ich nochmal an, Hagen sagt: »Einen nehmen!« Um 1 Uhr mache ich wieder einen Versuch, Hagen will »einen nehmen«. Nun, dachte ich, dann will er uns eben zur Nacht hierbehalten, und alles ist in schönster Ordnung. Wir nahmen also einen. Gegen 3 Uhr fing Hagen an, schläfrig zu werden. Er rutschte im Stuhl, gähnte, so daß ich anfing, etwas von seiner Nachtruhe etc. zu erzählen. Er war jetzt für das Thema empfänglicher, stand auf, und geleitete uns zur Haustür, schloß auf und sagte, es hätte ihn sehr gefreut, und wir beide standen etwas überrascht auf der nächtlich dunklen Straße. Offenbar war er der Ansicht gewesen, dass wir an Bord schlafen müßten oder dass wir sonstwo wohnten, vielleicht war er auch so blau, dass er gar nichts gedacht hat; kurz und gut, wir standen draußen und lachten aus vollem Halse. Aber was nun tun? In Kobe ist nachts nichts los. Wir bummelten auf gut Glück los, hofften, vielleicht noch irgendwo Anschluss zu finden. In einem Lokal sangen sie, dass lieb Vaterland ruhig sei könnte, aber die Sache klang so wackelig, dass wir vorzogen weiter zu gehen, und sonst fanden wir nichts. Die Straßen sind nachts alle hell erleuchtet, alle Ladenbeleuchtungen brennen hell, außerdem schlafen die Japaner in erleuchteten Zimmern, weil sie vor Gespenstern Angst haben, so dass man immer glaubte, alles wäre noch in Betrieb, und dann erstaunt war, alles geschlossen zu finden. So bummelten wir durch die Straßen, sahen uns an, was wir am Morgen kaufen wollten, und als uns das zu langweilig wurde, stiegen wir auf die Berge hinter Kobe, um uns den Sonnenaufgang anzusehen. Dieser Gedanke war sehr glücklich gewesen. Als wir oben ankamen, war es noch Nacht. Da es ziemlich warm war, setzten wir uns ins Gras und sahen zu, wie allmählich die Sterne verblassten, der Himmel sich rötete und dann die Sonne über dem herrlichen Panorama aufging. Als es ganz hell geworden war, gingen wir wieder in die Stadt. Bei einem Barbier ließen wir uns etwas menschlich machen; ich kaufte mir einen reinen Kragen und dann gingen wir ins Café Paulista.

Zum Essen war ich bei Griebels. Ihr Haus war seit Wochen ein Taubenschlag. Solange wir in Kriegsgefangenschaft waren, hatten sie für viele von uns alle möglichen Besorgungen gemacht, und aus dem in den ersten Jahren naturgemäß ziemlich beschäftigungslosen Herrn Griebel war allmählich ein vielbeschäftigter Kriegsgefangenenvater geworden, der mit Frau und Tochter unermüdlich tätig war, alten und neuen, zum Teil gar nicht persönlich bekannten Freunden ihre Wünsche und Wünschchen zu erfüllen, besonders seit »Bestellungen« verboten waren und man sich in rätselreichen Briefen Sachen bestellte, die dann als »Liebesgaben« kamen. Im Laufe der Zeit hatten alle gangbaren Sachen und auch Personen irgendwelche Decknamen bekommen, und unter der Hülle einer harmlosen Familiengeschichte von Tante Voss und Onkel Anton wurden die schönsten Bestellungen gemacht und verstanden. Auch über Lagerverhältnisse korrespondierten wir in dieser Weise, um die Zensur zu täuschen.

Als nun die einzelnen Lager entlassen wurden, wurden Griebels und alle anderen deutschen Familien von Besuchern überschwemmt. Griebels Rekord waren 18 Personen zum Mittagessen. An diesem Mittag waren wir »nur« acht, darunter auch Oberbaurat Hartmann, der die Ausrüstung der Schiffe leitete und dauernd dort wohnte.

Nachmittags kam noch Fregattenkapitän Boethke, unser Transportführer, und Griebels; Steinmetz und ich sowie ein Teil der Dackel machten einen größeren Spaziergang in die sehr schönen, hinter Kobe gelegenen Berge. Beim Abendessen waren wieder eine Menge Gäste da, z.T. die alten, und abends saßen wir alle beim Bier gemütlich zusammen. Griebels waren in den meisten Kriegsgefangenenlagern gewesen, auch bei uns in Kurume. Wir Gäste waren Vertreter verschiedener Lager, und nun wurde alles besprochen, Erfahrungen ausgetauscht, manche Einzelheit erzählt, die Griebels trotz aller Anspielungen in Briefen noch nicht wussten.

Und auch Griebels wußten viel zu erzählen: Wie man mit allen Mitteln versucht hätte, die deutschen Firmen kaputt zu machen; von Haussuchungen, Enteignungsgesetzen, von immer neu entdeckten Hintertüren, die die »wohlwollenden« Gesetzgeber im Eifer das Gefechtes zu schließen vergessen hatten, von Fallen, die man sich gegenseitig stellte, englischer Handelsspionage, japanischen Humanitätsphrasen, mit denen man der Welt und besonders Deutschland Sand in die Augen streute. Übrigens hoben sie wiederholt hervor, dass diese Vorwürfe nur das amtliche Japan träfen, das im englischen Fahrwasser segelte. Gebildete Japaner haben wiederholt schöne Beweise anständiger Gesinnung gegeben. So erzählte z.B. Herr Griebel, dass er, wie die meisten Deutschen, nach Abreise bzw. Ausweisung der deutschen Ärzte sich bei japanischen Ärzten hätte behandeln lassen, und dass zu Neujahr, dem im Osten üblichen Zahltag, die Ärzte nicht zu bewegen gewesen waren, von den Deutschen einen Pfennig anzunehmen. Sie sagten, wenn jetzt alles Deutschland plünderte, dann wollten wenigsten sie, die sie Deutschland ihre wissenschaftliche Bildung verdanken, hiermit ihre Mißbilligung der amtlichen Straßenräuber-Gepflogenheiten und ihre Dankbarkeit gegen Deutschland zum Ausdruck bringen.

Ähnliche Stimmungen scheinen auch in weiten japanischen Kreisen geherrscht zu haben, wenn man dies aus der Haltung der Bevölkerung uns gegenüber schließen darf. Man begegnete uns durchweg mit Höflichkeit und Freundlichkeit. Unsere Leute wurden zu Dutzenden von Japanern auf der Straße angesprochen, eingeladen und in der anständigsten Weise bewirtet. Die Wirte sorgten dafür, dass unsere Leute in ihren Wirtschaften nicht von Engländern belästigt wurden, z.T. wurden sogar Engländer vom japanischen Wirt an die Luft gesetzt. Einmal ereignete sich übrigens sogar ein deutsch-englischer Zwischenfall. Eine Gruppe englischer Seeleute suchte in einer Kneipe mit dort anwesenden Deutschen Händel. Sie waren aber zum Glück an die Unrechten gekommen, denn die Anwesenden waren Mitglieder des »Stemm-Klubs« (aus Bando, glaube ich), verprügelten die Engländer fürchterlich und warfen sie zum Fenster hinaus, zum großen Jubel der Japaner und einiger Chilenen, die uns gerade zu Hilfe eilen wollten.

Ihren Hass gegen die Engländer und die Amerikaner zeigten die Japaner übrigens ziemlich unverhohlen. Eine sehr niedliche Geschichte passierte uns da in Singapore. Als ein englischer Beamter an Bord kam, empfing ihn ein japanischer Schiffsoffizier am Fallreep und geleitete ihn zum Kapitän. Wir standen in Gruppen unten, da drehte sich der Japaner mit einem bedeutsamen Blick zu uns um und ballte hinter dem Rücken des Engländers die Faust. Der Engländer musste das aber bemerkt haben, denn nun drehte auch er sich um und sagte mit gelassenem Lächeln: »O.K., I know it.«

Der Abend bei Griebels ging schnell herum; ich wurde ziemlich müde nach den beiden ereignisreichen Tagen und freute mich schon sehr auf mein Zimmer, wo ich zum ersten Mal endlich allein schlief, und das gleich so gründlich, dass ich am nächsten Morgen fast zum Frühstück zu spät gekommen wäre.

Im Laufe des Vormittags fuhr ich an Bord, und bald kamen auch noch eine ganze Menge Kobe-Deutsche, darunter auch Griebels, um uns Lebewohl zu sagen. Um 14 Uhr war es schließlich so weit, noch ein letztes Händeschütteln, dann gingen sie von Bord, und wir winkten an der Reeling, die Kobe'er von der Dampfpinass, bis wir uns aus den Augen verloren.

Leider hatten wir noch im letzten Augenblick zwei Kameraden zurück lassen müssen, die erkrankt waren, und von denen der eine inzwischen gestorben sein soll. Dafür bekamen wir einen Mann von der Kifuku Maru an Bord, der den Anschluss verpasst hatte, und einen k. u. k. Fähnrich, der aus Sibirien ausgerückt war.5 Er ist für uns bald ein angenehmer Reisegefährte geworden und ein „ssähr lieber Kärl“, der viel zu erzählen hatte. Er hatte seit Winter 1915 in Sibirien gesessen und sehr viel mitgemacht, war Gefangener unter allen möglichen und unmöglichen Regimen und bestätigte unsere hier oft gehörte Ansicht (vom Japan-Chronicle nachdrücklich vertreten), dass von den augenblicklichen Machthabern im ehemaligen Zarenreiche die Bolschewisten bei weitem die Anständigsten sind und dass die deutschen Kriegsgefangenen in Sibirien – unbeschadet ihrer sonstigen politischen Anschauungen – nichts sehnlicher herbeiwünschen als die Bolschewisten, weil das allein für sie die Erlösung bedeutet.
 

[4. Reise nach Singapur]

Bild 48: Blick aufs Vorschiff

Mit der Abfahrt von Kobe begann nun erst eigentlich die Heimreise. Montag, der 5. Januar war der große Tag. Bei herrlichem Wetter dampften wir durch die Inlandsse nach Süden und sahen noch bis Dienstagnachmittag die japanische Küste. Trotzdem die letzten Tage so versöhnend gewesen waren, konnten wir es gar nicht abwarten, bis die letzten japanischen Inseln am Horizont verschwunden waren. Aber auch dieser Augenblick kam und mit ihm das Gefühl einer großen, großen Ruhe. Stundenlang konnte man an der Reeling stehen und über das Wasser sehen. Kein Bretterzaun hemmte mehr den Blick, kein Posten konnte uns noch herumjagen, und die leise zitternden Schiffswände ließen uns die Schraube fühlen, die uns mit jeder Umdrehung der Heimat näher brachte.

Die schöne Ruhe dauerte aber nicht lange. Mittwochmorgen fing der Himmel an grau zu werden, und mittags hatten wir schon starken Seegang. Der Wind kam schräg von vorn, und aus dem Raunen in der Takelage wurde bald ein schneidendes Pfeifen. Da wir unsere Hauptladung erst in Singapore bekommen sollten, so war der Kasten ziemlich leer und tanzte dementsprechend. Bald wurden längs des Decks Seile gespannt, um einen ungefährdeten Verkehr zu ermöglichen, und die geschützten Stellen, an denen man vor überkommendem Wasser sicher war, wurden immer kleiner. In den Räumen war eine schlimme Luft, und alles, was noch auf den Beinen stehen konnte, drückte sich auf dem herum. Aus den dort stehenden Gruppen lösten sich immer mehr Opfer los und stürzten sich, eine Hand vor dem Mund, an die Reeling. Das Halloh war dann immer groß und die meisten lachten, solange sie noch lachen konnten. Denn wer konnte wissen, wann er selbst dran kam?

Aber auch für die Gesunden, zu denen ich auch gehörte, wurde die Sache allmählich ungemütlich. Alles triefte an Deck. Trat man mal aus seiner schützenden Ecke hervor, so schmetterte einem der Wind ins Gesicht wie ein schlagendes Laken, die Hände waren immer dreckig, weil man sich bei jedem Schritt festhalten mußte, und die Seekranken hatten oft nicht die Überlegung und die Zeit, auf die Windrichtung zu achten – und der Wind trägt’s weit.

Der Abend kam heran, und der Seegang nahm immer noch zu. In unserem Raum sah es aus wie nach einem Spartakistenputsch. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, lag herum. Bänke und Tische lagen längst auf der Erde, ein Aufstellen zum Abendessen war ausgeschlossen. Nur das Abendessen selbst war ein Fest für die wenigen, die es noch genießen konnten, es gab Schweinebraten in unbeschränkten Mengen.

Gerüchteweise hieß es, dass es noch besser kommen würde, und das tat es auch. Als ich nachts in der Koje lag und meinen beiden Nachbarn immer abwechselnd ins Bett trudelten, wenn ich gerade eingeschlafen war, hörte ich einen neuen Ton in dem Konzert. Bis dahin hatte man ein ununterbrochenes Rauschen gehört, bald stärker, bald schwächer, je nachdem, ob die Bordwand hoch herausragte oder in der Welt versank. Jetzt kamen kurze Pausen, und dann gab's einen fürchterlichen Krach: Brecher schlugen gegen die Schiffswände und auf Deck.

Nach dem, »was der Kapitän gesagt hatte«, erreichte der Sturm um 21 Uhr seinen Höhepunkt, aber vielleicht hatte er es gar nicht gesagt, oder er sah das nur an seinen Instrumenten. Als wir am nächsten Morgen aufstanden, merkten wir jedenfalls nichts davon. Unseren Kaffee tranken wir wenigen Überlebenden an der Erde, auf umgekippten Bänken hockend, und erst gegen Mittag hatte der Wind soweit nachgelassen, daß wir einen erfolgreichen Versuch machten, die Backen und Banken aufzustellen. Der Wind ließ jetzt nach, und unsere Kranken krochen allmählich wieder ans Tageslicht. Manch einer, der gestern noch tüchtig gelästert hatte, wurde jetzt – noch feldmarschallmäßig – in seiner Koje gefunden und herzlose Leute fragten wohl, warum er sich eigentlich nicht ausgezogen hätte und warum er eigentlich so spät aufstünde, oder wie der Schweinebraten gestern geschmeckt hätte.

Auch unter der japanischen Besatzung hatte die Seekrankheit ziemlich gewütet, und der Kapitän hatte bei uns nach freiwilligen Heizern gefragt, die sich auch meldeten und den ziemlich erstaunten Japanern zeigten, wie deutsche Fäuste die Kohlenschaufel schwingen. Sie scheinen jedenfalls großen Eindruck gemacht zu haben, denn seitdem haben ständig einige deutsche Heizer unten gearbeitet.

Bild 49: Wäschetrocknen an Bord

Nach diesem unruhigen Tag bekamen wir beständiges, schönes Wetter. Ein schneller Übergang brachte uns bald warme Tage und wundervolle, sternenklare Tropennächte, die wir nach dem großen Frieren in Kurume doppelt wohltuend empfanden. Wir hatten noch alles Mögliche einzurichten, so dass die Zeit wie im Fluge verging, und eines Tages hieß es: Morgen früh um 4 sind wir in Singapore. In der Nacht hörten wir die Ankerkette rasseln, und als wir am Morgen an Deck gingen, sahen wir die wohlbekannten Inseln an der Einfahrt. Um 7 Uhr gingen wir Anker auf und fuhren dem Lotsen entgegen, und um 8 Uhr morgens lagen wir auf unserem Ankerplatz, vor uns das wundervolle Panorama von Singapore.

Man schien sehr viel Zeit mit uns zu haben, denn zunächst ereignete sich überhaupt nichts. Nach einer Weile kam ein englisches Polizeiboot, das uns ständig umkreiste und uns bis zu unserer Abfahrt Tag und Nacht nicht aus den Augen ließ. Wieder verging einige Zeit, bis ein Motorboot mit Vertretern der Osaka-Shosen-Kaisha längsseits kam und uns die niederschmetternde Nachricht brachte, dass wir mindestens 4 Tage laden würden. Das waren ja nette Aussichten! 4 Tage am Äquator, ohne Sonnensegel, ohne benutzbare Wohnräume – die Wohnräume lagen auf den Luken, die natürlich geöffnet waren –, Scharen von Kulis an Bord, die wie die Raben stehlen, Dreck, Gestank, Geschrei, von morgens bis abends das Rasseln der Winschen, und in all dem Betrieb 1000 Menschen an Bord, die in dem Getümmel sich herumdrückten, aßen, schliefen, über die Reeling mit eingeborenen Händlern feilschten, auf dem öligen Eisendeck herumschlidderten, über Tampen und Kabel stolperten, Zeugwäsche und Sich-Waschen, Kartoffelschälen, Essenausgabe machen mußten.

Bild 50: Bordküche der Himalaya Maru

Es wurde 15 Uhr, ehe der erste Leichter mit Kopra längsseits kam und es wurde 16:30 Uhr, ehe die Kulis mit Laden anfingen. Was war in den sechs Jahren aus diesen Kulis geworden! Früher eine willenlose Herde, die zu gehorchen hatte, jetzt ein klassenbewusstes Proletariat mit festen Arbeitsstunden und scheinbar recht starkem Selbstbewusstsein. Der japanische Bootsmann schnauzte die Gesellschaft an, weil sie zu faul arbeiteten, und als Antwort packten die Kulis ihre Sachen, machten die Luken dicht und gingen von Bord. »Makee chow chow, come back tomorrow morning.« Als Tagesergebnis konnten wir buchen: Einen Tag gewartet, 16 Säcke geladen!

Die Kulis waren von Bord, und es wurde etwas ruhiger. Drüben in Singapore gingen die Lichter an, die Schiffe setzten ihre Lichter, von oben schienen in tropischer Pracht die Sterne. Ein leiser, kühlender Wind machte sich auf, und mit wehem Herzen betrachteten wir das unvergleichlich schöne Bild. Dort drüben auf dem Keppel-Road huschten Hunderte von Lichtern, Rikschahs, die auch uns vor fünf Jahren in diese ostasiatische Wunderstadt gebracht hatten, die man uns jetzt wie Aussätzigen verschloss. Dort lag die P&W-Werft, auf stolzen deutschen Schiffen hatten wir dort gelegen, jetzt ankerte dort ein halbes Dutzend Schiffe, die die Völkerbundsflagge trugen, deutsche Schiffe, geraubt, gestohlen. Ein schwaches Licht gleitet an uns vorbei: das Polizeiboot. Ein schwacher Trost ist es, dass sie auch jetzt noch vor uns Angst haben. Und trotz aller trüben Gedanken wird das Herz weit und sehnsuchtsvoll. Singapore! Das Tor zum fernen Osten mit allen seinen Wundern. In stummer Pracht liegt die Stadt da und ruft und wirbt. Nie habe ich den Ruf des Ostens so in allen Fasern gespürt wie in diesen Nächten. Ich möchte wieder hinaus, trotz allem, mit empfangenden Sinnen den Zauber der asiatischen Stadt aufnehmen, mich in dem bunten und doch leisen Gewirr mal verlieren, in schwankender Rikschah durch das Meer gedämpfter Papierlaternen, phantastischer Inschriften, fremdartiger Menschen irren, die unerklärliche Nähe von Jahrtausenden spüren.

Oh, sie waren schön, die Nächte in Singapore, das ich vielleicht nie wiedersehen werde, und man konnte schon einige Tage voll Plage dafür in Kauf nehmen.

Bild 51: Kulis und Passagiere an Bord der Himalaya Maru

Die Tage waren wirklich übel. Die Engländer schikanierten die Japaner; durch tausend kleine Stiche zeigten sie den lieben Bundesgenossen, dass jetzt sie, die Engländer, das große Wort hier draußen hatten. Die Japaner spielten die großen Herren gegen die Chinesenkulis, und diese erweckten durch Bockbeinigkeit und unverhüllte Verachtung den Eindruck, als ob sie sagen wollten: Geduld, unsere Stunde kommt. Das Laden ging unter diesen Umständen sehr langsam, besonders da am 3. und am 4. Tag fortgesetzt Regenschauer niedergingen, so dass das Laden jedesmal unterbrochen werden mußte, und freudig wurde endlich am Mittwoch, dem 21.[01.] der »blaue Peter« begrüßt. Abends um 19 Uhr gingen wir Anker auf und steuerten in die Malakka-Straße hinaus. Langsam verschwanden die Lichter von Singapore.
 


[5. Über Sabang und Suez nach Hause]

Nach zwei Tagen kam mit der Morgendämmerung Sumatra in Sicht. Schön geformte Berge hoben sich aus dem Meer und aufsteigendem Dunst, und bald nach Sonnenaufgang lag Sumatra strahlend hell neben uns, während vor uns allmählich Pole Weh, auf dem Sabang liegt, in Sicht kam. Eine kleine, hügelige Insel, die vom Strande bis zu den Gipfeln mit Urwald bestanden ist.

Bild 52: Himalaya Maru in Sabang, Indonesien

Allmählich erkannte man die Einfahrt, das Lotsenboot kam uns entgegen, und langsam fuhren wir in den wunderschönen Hafen. Er liegt ganz versteckt zwischen bewaldeten, leuchtend grünen Hügeln, und wir kamen fast auf Gegenkurs, ehe wir die Pier zu sehen bekamen. Nie habe ich den Eindruck einer solchen Weltabgeschiedenheit gehabt wie bei der Einfahrt in diesen stillen, kleinen Hafen; das fernste Südsee-Eiland kann ich mir nicht verwunschener denken als diese kleine holländische Perle. Mir schien das Ganze eher eine hübsche Badeanstalt als ein wichtiger Kohlenhafen, und dieser Eindruck hielt auch noch an, als die modernen Quais und Kohlenanlagen deutlich erkennbar wurden. Man vergaß sie fast über den urwaldbestandenen Hügeln, den Palmen, zwischen denen hier und da ein Dach schimmerte.

Über Sabang wußte niemand etwas Genaues. Die Einen behaupteten, der Hafenmeister wäre der einzige Europäer am Platze, Andere fabelten von großartiger Entwicklung während des Krieges, Straßenbahnen, Automobilen. Unsere Spannung war daher eine große. Ehe wir an Land gingen, bekamen wir noch einige Ermahnungen, und uns Musikern wurde mitgeteilt, daß der »Club« die Offiziere abends eingeladen hätte, dass wegen Raummangels andere Transportteilnehmer nicht in den Club könnten, dass aber die Kapelle gebeten würde, abends zu spielen, wofür sie Gast des Clubs sein würde. Wir gingen darauf mit Freuden ein, weil wir den Holländern gern die dem Transport erwiesene Gastfreundschaft danken wollten und weil wir außerdem froh waren, für den Abend angenehm untergebracht zu sein.

Zunächst ging ich mit Becker, Burberg, Konopacki und Stefan [?] los. Eine wohlgepflegte, schattige Straße führte hügelan. Weiter oben ging sie in eine wundervolle Palmenallee über, an der zu beiden Seiten in schönen, schattigen Gärten blitzsaubere, hübsche Häuschen im tiefsten Frieden lagen. Eine wohltuende Ruhe kam über uns, zum ersten Mal ein wirkliches Vergessen der Gefangenschaft. Wie uns alles anheimelte: die Namen an den Häusern, die meist eben so gut hätten deutsche sein können, Wegweiser in holländischer Sprache, die man Wort für Wort lesen konnte. An den offenen Fenstern weiße Frauen bei der Handarbeit, beim Frühstücktisch, und über allem tiefer Frieden. Kein lautes Wort, keine schnelle Bewegung. Bedächtig kehrt ein eingeborener Gärtner ein paar welke Blätter zusammen, mit unendlicher Gelassenheit kommt ein Malaie mit seinem Zebu-Karren die Palmenallee herauf, bleibt stehen, sieht uns an, sein Tier zupft ein paar Blätter, dann zieht er seines Weges. Wir gehen planlos, langsam, Schritt für Schritt, sind dankbar und glücklich. Welch ein Aufatmen! Im großen Bogen gelangen wir auf eine Promenade mit prachtvollem Ausblick auf die Bay. Im »Sabang-Hotel« machen wir halt und nehmen einen Whisky-Soda auf der Veranda. Ein Unterkommen für die Nacht konnten wir leider nicht bekommen und begnügten uns daher damit, uns für den Abend zum Dinner anzumelden.

Da wir gern an Land übernachten wollten wegen der an Bord im Hafen besonders schlimmen Hitze, beschlossen wir, in die Stadt zu gehen und uns dort nach etwas umzusehen. Unterwegs fragten wir einen holländischen Soldaten um Auskunft. Er schloß sich uns gleich an, wollte uns alles zeigen und war uns den ganzen Tag ein nützlicher, interessanter Führer. Die Stadt besteht aus einer unten gelegenen Geschäftsstraße mit überwiegend chinesischem Gepräge. Unser Führer brachte uns in ein von Chinesen geführtes (Kimi-Hong & Co.) Restaurant, wo wir ganz leidlich aßen und wo Becker und ich auch je ein Zimmer für die Nacht bekamen. Die anderen drei wollten bei dem Soldaten übernachten, der ein Haus hatte und sich erbot, sie unterzubringen.

Ehe ich mit der Erzählung fortfahre, möchte ich noch einige allgemeine Beobachtungen zusammenfassen.6 Es war uns schon auf der Straße aufgefallen, wie vertraut Weiße mit Farbigen verkehrten. Weiße Damen schlenderten untergehakt mit Malaienmädchen umher, neckten sich, tuschelten wie vertraute Freundinnen. Mischlinge liefen in erstaunlicher Anzahl herum. Aus eigener Beobachtung und den Erzählungen unseres Führers bekamen wir ein recht merkwürdiges Bild von der Art, wie die Holländer sich zur Rassenfrage stellen. Unser Führer, wie auch alle anderen holländischen Soldaten, benahmen sich sehr nett gegen uns; man merkte ihnen ordentlich an, wie wohl ihnen die Abwechslung tat, mal mit anderen Menschen zusammen zu sein, denn das holländische Zivil nimmt keine Notiz von ihnen; es verachtet sie. Gegen uns waren sie daher die Zuvorkommenheit selbst; sie rissen sich beide Beine aus, um uns gefällig zu sein. Trotzdem waren wir uns bald darüber einig, dass sie eine gänzlich verkommene, verlodderte Gesellschaft sind.

Und das ist kein Wunder. Früher erhielten Verbrecher ihre Strafe geschenkt, wenn sie sich für so und soviele Jahre verpflichteten, in den Kolonien zu dienen. Ob und wieviel dies heute noch der Fall ist, weiß ich nicht, jedenfalls ist es auf Geist und Ansehen der Truppe von Einfluss gewesen, auch gaben einige Soldaten ganz offen zu, dass die meisten von ihnen etwas auf dem Kerbholz hätten. Den schlimmsten Einfluss scheint aber ihre uns unverständliche Stellung zu den Eingeborenen zu haben. In Sabang liegen etwa 300 Mann, davon etwa 30 Weiße. Diese haben den Farbigen gegenüber keine Vorzugsstellung. Ein weißer Mann kann farbige Vorgesetzte haben und muss diese grüßen wie weiße Vorgesetzte. Es ist sogar von unseren Leuten beobachtet worden, dass ein farbiger Unteroffizier einen betrunkenen weißen Soldaten auf dem Kasernenhof verprügelt hat. Weiße und Farbige liegen in derselben Kaserne. Die Weißen haben Betten, die Farbigen zweischläfrige Pritschen. Soweit sie Weiber haben, hausen diese in der Kaserne, und zwar mit den Leuten in den großen Sälen. Ein mir gut bekannter Matrose (Fritz Pabst) kam nachmittags mit einigen Kameraden in die Kaserne. Als sie eine Stube betraten, bemerkten sie ein Pärchen bei der Ausübung ihrer ehelichen – oder vielmehr außerehelichen – Freuden und wollten [sich] zurückziehen. Die Holländer fragten ganz erstaunt, warum, das wäre doch ganz selbstverständlich, und niemand ließe sich dadurch stören.

Unter solchen Umständen müssen die Leute natürlich alle Selbstachtung verlieren und verkommen. Auf die Eingeborenen scheint dieses System dagegen eine günstige Wirkung zu haben, die Gleichstellung mit den Weißen hebt ihr Selbstbewusstsein, sie halten sehr auf sich, gehen tadellos im Zeug und machen einen vorzüglichen Eindruck.

Ein weiterer Verderb für die Weißen ist ihr Müßiggang. Von 7 bis 10 Uhr morgens haben sie Dienst. Was sollen sie mit der übrigen Zeit anfangen? In Sabang ist gar nichts los. Die wenigen Straßen endigen bald in undurchdringlichem Urwald, Geld haben sie auch nicht (4 Gulden 70 Wochenlohn), so dass ihnen als einzige Zerstreuung bleibt, sich ein Weib zu halten, bei dem sie ihre freie Zeit verschlafen. Dem Staat ist das ganz recht, er zieht die Mischlinge auf und macht sie zu Soldaten.

Einen bedeutend besseren Eindruck macht die Polizei. Es ist mir erzählt worden, dass die holländische Regierung dem alten Schlendrian ein Ende machen will und mit der Neuorganisation der Polizei den Anfang gemacht hat. Bezeichnend ist die Tatsache, dass die holländischen Soldaten nicht zur Polizei übertreten dürfen, man hat offenbar Furcht, dass sie ihre Gepflogenheiten zum Schaden der Polizei auf diese übertragen könnten und sieht sich lieber nach fremden Kräften um; daher auch die starke Nachfrage nach deutschen Kriegsgefangenen.

Bei all diesen Ausführungen muss ich betonen, dass sie zum Teil nur auf Gehörtem beruhen; wenn aber auch die eine oder andre Einzelheit nicht zutreffen sollte – im Wesentlichen ist das Bild leider so traurig, und selbst unter uns, die wir doch auch nicht gerade gute Zeiten hinter uns haben, ist wohl niemand gewesen, auf den das menschenunwürdige Dasein dieser armen Kerle nicht einen tiefen Eindruck gemacht hat.

Ein paar von unseren Leuten brachten einen holländischen Soldaten zum Mittagessen an Bord. Es gab Pellkartoffeln. Das war für den Mann ein ganz ungewohnter Genuß; seit Jahren hatte er nur Reis und Fleisch, Fleisch und Reis gegessen und jetzt aß er, nein, er fraß wie ein wildes Tier, Teller auf Teller. Dann ging er an die Reeling und mußte alles wieder von sich geben. Das sind die Menschen, mit denen das reiche Holland seine Kolonien beherrscht.

Doch nun zurück zu uns. Nach dem Essen führte uns unser Soldat auf einen schönen Weg längs der Küste zu einem Süßwasser-Schwimmbad. Es ist ein gemauertes Becken mit Quellenzufluß, liegt mitten im Walde unter einem dichten Laubdach von großen Gummibäumen. Wer auf einem Truppentransport durch die Tropen gefahren ist und sich wochenlang mit einer kleinen Waschschüssel Süßwasser pro Tag hat begnügen müssen, der mag ermessen, was das für eine Wohltat war.

Nach dem Bade trennten wir uns. Burberg, Konopacki und Stefan gingen mit dem Soldaten zu dessen Wohnung, Becker und ich machten einige Einkäufe und bummelten dann einiges herum. Unter anderem sahen wir uns ein Fußballspiel an, zu dem die Holländer unsere Leute herausgefordert hatten. Die »holländische« Mannschaft bestand aus 2 Holländern und 9 Malaien und wurde 6:0 geschlagen. Die Malaien spielten z.T. barfuß, sie waren sehr flink, konnten aber gegen unsere großen, schweren Leute nichts ausrichten.

Bild 53: Wohnhütte in Sabang

Um 19 Uhr trafen wir uns alle im Sabang-Hotel. Die drei bei dem Soldaten untergebrachten Kameraden machten sehr süßsaure Gesichter. Das »Haus« war eine Lehmbude ohne Fenster. Das einzige bemerkenswerte Möbel war ein riesiges Bett, wo der Holländer mit seiner braunen Dame hauste, die ihn übrigens ziemlich unter dem Pantoffel hatte. Der Soldat wollte in der Kaserne schlafen, und die drei unglücklichen Gäste sollten das »Bett« haben. Sie haben schließlich doch die Nacht dort zugebracht, einer auf der Erde, zwei im Bett, um den sehr freundlichen Holländer nicht vor den Kopf zu stoßen.

Das Essen war nicht gerade erstklassig, aber alles in allem war es doch recht nett. So ein Tropenhotel, besonders nachts, hat seinen eigenen Reiz. Hohe, luftige Räume, große Stille, hohe, weit geöffnete Fenster, an den Wänden allerhand Getier, Gekkos und anders Nachteidechsen, die an den Wänden auf Spinnenjagd gehen, und draußen die malerischen Gestalten der Eingeborenen, die alle Kerzen oder Laternen tragen, ich weiß nicht, ob nur zu Beleuchtungszwecken oder um sich vor Schlangen etc. zu schützen, und deren flackernder Schein die zackigen Palmwedel auf Augenblicke in immer wechselnden Bildern dem Dunkel entreißt.

Um 20:30 Uhr fanden wir uns im Club ein. Das Clubgebäude ist nur ein größerer Holzpavillon. Die Holländer und ihre Gäste saßen draußen auf einer luftigen Terrasse, und wir Musikanten fiedelten in der Vorhalle des Pavillons, so dass die Musik geschlossen und mit guter Klangwirkung hinaustönte. Wir wurden von holländischen Offizieren sehr freundlich begrüßt und freigiebig bewirtet. Wir konnten trinken und rauchen, was und soviel wir wollten und wurden von dem Offizier gebeten, ihn nicht durch unsere Bescheidenheit in Verlegenheit zu setzen. Wir bemühten uns, ihm diesen Kummer zu ersparen, ohne jedoch aus der Rolle zu fallen, und spielten eine Nummer immer schwungvoller als die andere. Im Laufe des Abends erhielten wir die Aufforderung, am nächsten Vormittag noch etwas für die holländischen Soldaten in deren Kantine zu spielen und sagten auch dies zu. Als wir um Mitternacht mit unserem Konzert fertig waren, ging ich langsam in mein Hotel und schlief dort in meinem kühlen, luftigen Zimmer so schön wie lange nicht. An Bord hatten wir in dieser Nacht die Rekordtemperatur von 33 Grad.

Den nächsten Morgen benutzte ich zu einem photographischen Streifzug und fand mich dann um 10 Uhr in der »Militär-Societeit« ein, einem recht netten Kantinenlokal. Wir gaben hier einem dankbaren deutsch-holländischen Publikum unser Konzert, während dessen die Stimmung bei den Zuhörern rasch stieg. Bald jagte ein Solo-Vortrag den anderen, Schorsch Bleistein ließ seine knarrige Varieté-Stimme ertönen, Boberg wirkte auf einem Bierfass, die Holländer schickten ihre Solisten ins Treffen, und um 12 Uhr amüsierte man sich in allgemeiner Seligkeit auch ohne Musik, so dass wir um 12 [?] Uhr beruhigt nach Hause gehen konnten.

Ich aß mit Heck in meinem Hotel und ging dann an Bord, um zu sehen, ob ich nicht »unser Karlchen« noch erwischen könnte. Ich traf ihn auch und ging mit ihm noch einmal an Land, führte ihn zuerst in die Badeanstalt und machte dann mit ihm noch einige Einkäufe. Da wir dann noch etwas Zeit hatten, setzten wir uns bei Alberti an die Ecke und nahmen noch einen. Um 16:30 Uhr, zur festgesetzten Zeit, gingen wir an Bord. Der Dampfer erhob ein gewaltiges Getute, und schon um 17 Uhr wurden die Trossen losgeworfen. Verschiedene Kameraden hatten während der beiden Tage noch Stellungen gefunden. Ein Konsulatsbeamter war extra von Batavia herüber gekommen, um Stellungssuchenden behilflich zu sein, und hatte noch etwa 10 Mann untergebracht. Diese standen nun auf dem Quai und winkten, als der Dampfer langsam drehte und hinausfuhr. Aber niemand hat so gewinkt wie ein Häuflein holländische Soldaten. Sie liefen bis zur äußersten Landzunge, und es war, als ob sie den Dampfer noch mit den Augen und winkenden Armen festhalten wollten. Nun kam der »lange Tampen«, die Reise durch den indischen Ozean und das rote Meer. Sie verlief ruhig und einförmig, und es läßt sich wenig darüber sagen. Im roten Meer bekamen wir ziemlich kräftigen Nordwind, der die Temperaturen stark herabdrückte, so dass wir statt der erwarteten »Bullenhitze« Wärmegrade bekamen, die uns nötigten, blaues Zeug und abends sogar Mäntel anzuziehen. Am 11.02. morgens waren wir in Suez.

Bild 54: Im Suezkanal

Da die Himalaya Maru zum ersten Mal durch den Suez-Kanal ging, musste sie erst vermessen werden, was den Kanalbehörden eine schöne Gelegenheit bot, die Japaner wieder ein bißchen zu ärgern. Man kümmerte sich überhaupt nicht um uns, und es wurde 14:30 Uhr nachmittags, ehe die Vermessungskommission geruhte, an Bord zu kommen. Gegen Abend fuhren wir endlich in den Kanal ein und waren am nächsten Morgen um 9 Uhr in Port Said. Hier sollten Kohlen genommen werden, und bald kamen auch einige Leichter längsseits. Im Suez-Kanal und in Port Said merkte man noch, dass Krieg gewesen war. Überall Drahtverhaue, Infanteriestellungen, Truppenlager. Als wir vor Anker lagen, kam sofort das Polizeiboot, das verhindern sollte, dass irgend ein Hunne an Land gelange.

Sehr interessant war für uns der Verkehr mit den farbigen Polizisten und Händlern. Man merkte sehr deutlich, wie es überall in Ägypten gärt. Alles schimpfte auf die Engländer, und wo man ihnen ein Schnippchen schlagen konnte, da tat man es gerne. Die Polizisten, die uns hindern sollten, von Bord zu gehen, ließen sehr deutlich durchblicken, dass sie uns in höchsteigener Person an Land bringen würden, wenn wir uns zu einer kleinen Ausgabe entschließen könnten, und die Händler sprachen ganz offen vom Bolschewismus, den man in Ägypten sehnsüchtig erwartete.

Auch von anderer Seite kam uns eine Bestätigung dieser Verhältnisse. Anfang Januar hatte der Dampfer Main, der von Bombay mit Zivil-Internierten und Kriegsgefangenen aus Deutsch-Ostafrika hier durchkam, 700 Mann – angeblich wegen Grippe – ausgeladen. Als wir abends an Deck standen, gab es plötzlich eine große Bewegung. Ein Ruderboot erschien an der Boje, und ein Mann versuchte, an der Ankerkette hochzuklettern. Er wurde aber von dem Polizeiboot bemerkt und flüchtete in seinem Boot in die Dunkelheit. Er war aber an Bord bemerkt worden und musste sich wohl schon mit unseren Leuten verständigt haben, denn was nun folgte, sah wie eine gut vorbereitete Sache aus. Nach einer Weile erschien das Boot wieder am Fallreep, und der Mann lief hinauf. In diesem Augenblick ging an Bord das elektrische Licht aus und »zufällig« erschien auch der japanische Quartermaster am Fallreep, erklärte den Polizisten, dass sie an Bord eines japanischen Dampfers nichts zu suchen hätten, und warf sie hinaus.

Der Mann war inzwischen an Bord längst verschwunden. Man hatte ihn ausgezogen und in eine Koje gesteckt, und er erzählte nun, daß er zu den Main-Leuten gehörte und schon seit 8 Tagen auf der Suche nach einem passenden Dampfer wäre. Aus dem Lager hatte er jederzeit heraus gekonnt. Den bewachenden Engländern war die Sache schon lange langweilig, und für drei Shilling gab der wachhabende Unteroffizier auf eigene Faust Urlaub. Dieser Mann bestätigte auch die Gerüchte von der Gärung in Ägypten. Sogar die weißen Truppen würden unsicher. Der Krieg wäre aus, und sie wollten nach Hause. Gerade am Tage vorher wäre Streik gewesen, und der Oberst hätte sich schließlich nach langem Hin und Her auf 10 weitere Tage mit seinen Leuten geeinigt.

Wir fürchteten natürlich, dass die Engländer die Flucht merken und den Mann zurückholen würden. Es geschah aber nichts, und später habe ich eine Erklärung dafür gefunden. Auf der Kifuku Maru war nämlich genau dieselbe Geschichte passiert. Der englische Befehlshaber hatte darauf an die Kifuku gefunkt, er habe Grund anzunehmen, dass sich an Bord einige aus Port Said geflohene deutsche Kriegsgefangene befänden und ersuchte den Kapitän, Malta anzulaufen und die Leute dort auszuliefern. Hierauf hatte der Japaner geantwortet, er habe überhaupt keine Kriegsgefangenen an Bord, sondern nur freie Deutsche, und er dächte gar nicht daran, Malta anzulaufen. Eine solche Antwort wollten sich die Engländer wohl nicht zum zweiten Mal holen und ließen daher unseren Mann unbehelligt.

Als wir Port Said verließen, bekamen wir wieder schlechtes Wetter. Diesmal waren aber die meisten schon so an die Schaukelei gewöhnt, dass die Beteiligung am Essen trotzdem noch eine ziemlich starke war. Es wurde auch bald wieder schön, und ohne Zwischenfall erreichten wir am 22. Februar Gibraltar. Hier mußten wieder Kohlen genommen werden, da wir in Port Said nicht genug bekommen hatten.

An Land durfte natürlich niemand, nicht einmal die Japaner. Wir lagen ziemlich weit draußen neben einem Kohlendampfer, von dem wir die Kohlen direkt übernahmen, und freuten uns einen Tag und eine Nacht über das wunderbare Bild, das Gibraltar von See aus bietet.

Unsere Unruhe wuchs. Der nächste Hafen sollte ja Wilhelmshaven sein. Bis jetzt hatte man kaum recht empfunden, dass man der Heimat näher kam, wir lebten noch zu sehr in den Erinnerungen der letzten ereignisreichen Wochen, aber jetzt, nach Gibraltar, schien uns die Heimat stündlich näher gerückt.

Die gefürchtete Biskaya meinte es gut mit uns; wir hatten das denkbar schönste Wetter und passierten Donnerstag, den 26.02. die Insel Quessant. In der Nacht bekamen wir Nebel, und der Kapitän, der noch nicht in diesen Gewässern gewesen war und ziemlich ängstlich war, kehrte mitten in der Nacht um und fuhr wieder 30 Meilen zurück, weil er nicht mehr wußte, wo er war und weil er wohl fürchtete, dem Festland zu nahe gekommen zu sein.

Den ganzen nächsten Tag über hatten wir mehr oder weniger dichten Nebel und tasteten uns mit Loten und Tuten langsam bis Dover durch, das wir um Mitternacht erreichten und wo wir einen Lotsen bekamen. Dieser verließ das Schiff am nächsten Morgen, und wir fuhren allein weiter nach Haaks Feuerschiff (bei Terschelling), wohin wir uns funkentelegraphisch einen deutschen Lotsen bestellt hatten. Tagsüber kamen wir einigermaßen vorwärts, aber gegen Abend wurde der Nebel wieder dichter. Wir ankerten mehrmals, loteten fortgesetzt und fanden Haaks Feuerschiff nicht, so daß der Kapitän umkehrte und nach Ijmuiden zurückging, wo wir einen holländischen Lotsen an Bord nahmen, der uns auch glücklich bis Haaks Feuerschiff brachte.

Bild 55: Feuerschiff

Der sehnlich erwartete deutsche Lotse war aber nicht dort, und Antwort auf unsere Funksprüche bekamen wir auch nicht. Wir gingen daher zunächst vor Anker, und es wurde Kriegsrat abgehalten. Der Kapitän wollte scheinbar ohne Lotsen nicht fahren, der holländische Lotse konnte oder durfte nicht fahren, und unnütz herumliegen wollten wir auch nicht. Schließlich entschloß man sich, ohne Lotsen weiterzufahren, und wir gingen Anker auf. Gegen Abend wurde der Nebel wieder so dicht, dass wir ankern mußten und stundenlang festlagen. Wir fragten fortgesetzt in Wilhelmshaven an, was mit dem Lotsen los wäre, bekamen aber keine Antwort. Stattdessen schickte man uns die überflüssigsten Instruktionen. Wir sollten das Backsgeschirr einsammeln und die Decken zusammenlegen und Ähnliches.

Abends um 23 Uhr wieder ein Funkspruch. Kommt der Lotse? Kommt er nicht? O nein, etwas viel Wichtigeres! Fregattenkapitän Boethke war zum Kapitän zur See befördert worden und Oberleutnant Sowieso zum Kapitänleutnant. – Wie schön, daß wir das nun wußten.

Nachts verzog sich der Nebel wieder etwas, so dass wir weiter fahren konten, und am nächsten Morgen sahen wir das Feuer von Borkum. Deutschland! Es war Dienstag, der 2. März 1920, 6 Uhr morgens.

Beim Hellerwerden erkannte man allmählich deutsches Land. Im grauen Dämmerlicht tauchten die friesischen Inseln auf, still und grau lagen sie weit hinten am Horizont. Es pfiff zum Frühstück und wir gingen alle in unseren Raum. Als wir gerade fertig waren, brach an Deck ein ungeheures Jubelgeschrei los. Aus der grauen Morgendämmerung löste sich ein Schiff, ging in rasender Fahrt auf uns los und jagte dicht an uns vorbei. Ein deutsches Torpedoboot, das uns zur Begrüßung entgegen gefahren war. Es dippte zum Gruß dreimal die deutsche Kriegsflagge, schwenkte um unser Heck herum und blieb dann immer dicht neben uns. Stundenlang standen wir nun an der Reeling und freuten uns, dass wir wieder die deutsche Kriegsflagge wehen sahen – zum ersten Mal seit dem Spätherbst von 1914.

Plötzlich ertönte der Ruf: ein Flugzeug! Und richtig, dicht über dem Wasser kam es herangesaust, gerade auf den Bug unseres Schiffes los. O ihr armseligen japanischen Luftdroschken, hättet ihr diesen Eisenvogel sehen können! Er flog in etwas über Schiffshöhe auf uns zu, ging ungefähr mit drei Meter lichtem Zwischenraum am Bug des Schiffes vorbei, so dass die Japaner, die gerade an den Ankerwinschen auf der Back arbeiteten, entsetzt zurückwichen, weil sie glaubten, er würde die ganze Back in Stücke fahren, und flog log dann in einer Kurve um das Schiff herum, dass man die Flügel von oben sehen konnte. Immer wieder und wieder umkreiste er das Schiff und immer wieder tosende Jubelrufe von 1000 Menschen.

Auf Schillings Reede bekamen wir Post an Bord. Ich erfuhr auf diese Weise, dass Dorchen [?] mich in Wilhelmshaven erwartete und sicherte mir beizeiten einen guten Platz an der Reeling. Als die Schleuse in Sicht kam, sahen wir schon, dass alles schwarz voller Menschen war, und langsam wurde eine Einzelheit nach der anderen erkennbar. Brausende Hurrahs tönten herüber und hinüber, und langsam glitt der Dampfer in die Schleuse.

Bilder 56 und 57: Ankunft in Wilhelmshaven-Schleuse, 02.03.1920
 

Anmerkungen

1.  Der Autor verwendet »Rasse« und »Blut« ganz unbefangen, so wie es viele Deutsche zu jener Zeit taten.

2.  Es müsste sich um die Familie Paul Griebel handeln (siehe Lepach), die sich sehr für die Gefangenen-Betreuung engagiert hatte.

3.  Gemeint ist vermutlich der seit 1896 in Japan lebende Paul Hagen (siehe Lepach).

4.  Christian Kluge ergänzt hier: »Vater schreibt nun: ›Probebrief von Hagen einschieben‹. (Leider fehlt dieser Brief). ›Dieser Brief zeigt wohl am deutlichsten, was für ein Original der gute Hagen ist.‹«

5.  Die Identität dieser vier Personen ist unklar.

6.  Einige der folgenden Bemerkungen beziehen sich auf die »Rassen-« bzw. »Mischlingsfrage«; siehe hierzu nur Fußnote 1.
 

©  Familie Kluge; für diese Fassung auch Hans-Joachim Schmidt
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