Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 2: Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau (1914)
 

Vorbemerkungen des Redakteurs (H.-J. Schmidt)

Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden zweiten Teil berichtet der Autor aus seiner Tsingtauer Zeit im Frühjahr/Sommer 1914.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau (1914)
    1. Letzte Friedensmonate
    2. Kriegsgefahr und Mobilmachung
    3. Im Kriegszustand
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)

 

a) Letzte Friedensmonate1

Es war das schicksalschwere Jahr 1914. Im Januar waren wir mit dem Truppentransport, dem Hapagdampfer Patricia, von Cuxhaven abgefahren, hatten in La Valetta auf Malta die Schädelkapelle besichtigt und in Port Said zu mitternächtlicher Stunde dem berühmten Kaufhaus Simon Arzt einen Besuch abgestattet. Im Roten Meer hatten wir Seesoldaten die graue Winteruniform mit dem Khakizeug vertauscht und in Singapore nach einem Essen mit unzähligen Gängen im »Hotel de l'Europe« den Botanischen Garten besichtigt. Auf den Peak in Hongkong waren wir gestiegen und Ende Februar bei kaltem, regnerischem Wetter in Tsingtau angekommen. Das Wohnen in der Kaserne passte uns Einjährigen gar nicht, und straffer Dienst hinterließ keine schöne Erinnerung an die ersten Wochen.

Aber dann kam das Frühjahr. Wir konnten in eine eigene Messe im »Hotel zur Eiche« ziehen und uns bei gutem Essen und in einem herrlichen breiten Bett von den Strapazen des Tages erholen. Ein Boy sorgte für des Leibes Wohl, weckte pünktlich am Morgen und Frühstück, das jetzt nicht mehr, wie in der Kaserne, aus Kaffee, Brot, Jam, Butter bestand, sondern nach Wunsch gebratenes Fleisch, Eier, Langusten in wechselnder Fülle neben Toast, besten englischen Marmeladen und einen ausgezeichneten Tee bot.

Tsingtau – die »Grüne Insel« ist es einmal gewesen, denn schon vor Jahrhunderten sind die Wälder von den Chinesen abgeholzt worden, und unbarmherzig hatte das Regenwasser den durch keine Wurzeln mehr gehaltenen Humus in zu fruchtbarem Ackerland werdende Senken [verwandelt] oder oder ins Meer geschwemmt. Mit Fleiß und Ausdauer hatte die deutsche Verwaltung begonnen, das Gebiet wieder aufzuforsten und an Straßen und Wegen, auf Hügeln und in Gärten schnell wachsende Akazien angepflanzt. Zu Füßen des Iltisberges aber hatte man einen Forstgarten von großer Ausdehnung angelegt, wo europäische und exotische Bäume auf ihre Eignung für das Tsingtauer Klima geprüft wurden, wo man vor allem die Zehntausenden von Kiefern heranzog, die im Landgebiet von Tsingtau angepflanzt wurden und dort, gleichzeitig Humus bildend, die Erde festhalten sollten. Wir Soldaten nannten sie Kusseln und schätzten sie sehr, weil sie die einzige Tarnung in dem steinigen Gelände waren; in ihrem spärlichen Schatten lagen wir oft, erschöpft von den Anstrengungen der Felddienstübung, während die Sonne vom wolkenlosen Himmel herniederbrannte und das Harz in den Kiefern verdunstend duftete.

So wurde es also doch grün im Frühjahr in Tsingtau, und die Bäumchen blühten, als müssten sie sich besonders anstrengen, um ihre Daseinsberechtigung zu erweisen. Wie unter einem schneeigen Himmel marschierten wir durch den Forstgarten zum Exerzierplatz auf der Straße, die mit den zur ewigen Unfruchtbarkeit verdammten japanischen Kirschbäumen bepflanzt war, und bei der morgendlichen Rikshafahrt zur Kaserne grüßten im Gouvernementsgarten die blühenden Sträucher in üppiger, subtropischer Pracht. Draußen im fruchtbaren Litsuntal aber blühten die Obstbäume, die Pflaumen, Pfirsiche, Birnen und Persimonen, grünten die Reben und waren die Felder bestellt mit Gerste, Hirse, Kauliang und Süßkartoffeln.

Auf der Rennbahn machten die kleinen, aber zähen und flinken sibirischen Pferdchen ihren Morgengalopp, wurden zum großen Frühjahrsrennen trainiert, bei dem sich nicht nur alles einfand, was die weiße Farbe trug, sondern auch die Chinesen am Totalisator ihrer Wettleidenschaft frönen konnten.

Unvergesslich sind die Nächte, in denen ich unter dem glitzernden Sternenhimmel auf Posten stand: droben am Gouverneurswohnhaus, wo bei einer Abendgesellschaft die Männer in Galauniform und Frack und die Frauen in Balltoilette im Garten promenierten und der Gouverneur selbst ein paar freundliche Worte für mich fand; am Meer; in der Huitschienhuk-Batterie, wo sechs schwere Geschütze die Seefront sicherten und ihre mächtigen Rohre gespenstisch in die Nacht reckten; oder draußen im einsamen Infanteriewerk, wohin die Geräusche der umliegenden, ewig unruhigen Dörfer, das Geheul der Hunde und das Gequietsche der nie geölten Karrenräder drangen.

In Erinnerung sind die Abendbummel durch die Chinesenstadt Tapautau, wo Handel und Wandel sich auf den Straßen abspielten, der Barbier seinem Kunden den Vorderschädel abrasierte, der Garkoch undefinierbare Dinge in undefinierbarem Fett briet, der Kupferschmied unablässig an metallenen Geräten hämmerte und in den Läden mehr oder minder wertvolle Kuriositäten und der Trödel aller Kontinente zum Kauf reizten, wo jener Geruch in der Luft lag, an den sich der Europäer nie gewöhnen kann, jene Mischung aus menschlichen Ausdünstungen, Straßenunrat und verwesenden Abfällen, jener Geruch, den auch die Sauberkeit erheischenden Vorschriften der deutschen Polizei in Tapautau nicht verhindern konnten. Gerne denke ich auch zurück an die netten russischen Mädchen, bei denen man für einen Dollar eine Flasche Bier trinken konnte, wenn man es nicht vorzog, zuhause durch etliche Whisky-Sodas die Flüssigkeit zu ersetzen, die man beim anstrengenden Dienst am Tage verlor.

Es kam der Sommer, mit ihm die Regenzeit. Bei strahlendem Sonnenschein schoben sich plötzlich dichte Nebelwolken vom Meer her über das Land und hüllten alles in treibhauswarme Feuchtigkeit. Schuhe, Riemen, alles was von Leder war, überzog sich über Nacht mit einer weißen Schimmelschicht und gab Anlass zu manchem Kummer bei den Kleider-Appellen und Stubenrevisionen. Von Zeit zu Zeit aber entluden sich diese Wolken in Kaskaden von Wasser, das erbarmungslos alles wegschwemmte, was nicht niet- und nagelfest war und das in immer tiefer werdenden Rinnen, Ravinen genannt, von den Bergen und Hügeln in die Täler stürzte, wo reißende Flüsse die trockenen Betten füllten.

Es war eine schöne und abwechslungsreiche Zeit, die wir in Tsingtau verlebten, und wenn es auch das Kriegshandwerk war, das uns Einjährige zum III. Seebataillon nach Tsingtau gebracht hatte, so dachten wir doch nicht an den Krieg, sondern suchten zu lernen aus der Kenntnis fremder Länder und dem Umgang mit fremden Völkern.

Auch dachten wir noch nicht an den Krieg, als am 28. Juni 1914 die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares in Serajevo eintraf. Niemand konnte wissen, dass die Schüsse in Serajevo das Signal zu einem Kriege bedeuteten, wie ihn die Erde noch nicht gesehen hatte, dass schwerste politische und wirtschaftliche Erschütterungen auf Jahrzehnte sie bewegen und ihr Antlitz völlig verändern würden, dass althergebrachte Anschauungen von Anstand, Sitte und Moral über Nacht verschwinden und dass neue Gesetze an ihre Stelle treten würden.

Ich erinnere mich noch genau, dass wir am Nachmittag auf dem Kasernenhof mit Zielübungen »Front Mathildenstein« beschäftigt waren, als der Kompaniefeldwebel, der sich sonst nur am Beginn und am Schluss des Dienstes sehen ließ, die Übungen abbrach, die Kompanie zusammenrief und die folgenschwere Meldung bekanntgab. Da herrschte einen Augenblick jenes Schweigen, das in der Menge umso verhaltener wirkt, als man die Masse mit dem Begriff der Bewegung verbindet, ein Schweigen, das mehr dem Gefühl drohender Gefahr entsprang als politischer Voraussicht, denn wir kannten zu wenig von unserer Bündnispolitik, die sich so verhängnisvoll auswirken sollte, wussten zwar, dass man unserem temperamentvollen Kaiser den Mund verboten hatte, weil er unserer Diplomatie manchmal in die Parade gefahren war, und sahen aus eigener Anschauung, dass wir im Ausland als fleißige Emporkömmlinge nicht gerade beliebt waren. Aber noch immer war jeder politische Zwischenfall friedlich beigelegt worden, so oft auch die Entscheidung in den letzten Jahren auf des Messers Schneide gestanden hatte.

Erst als am 23. Juli 1914 Österreich an Serbien das bekannte Ultimatum überreichte und Russland Serbien den Rücken steifte, kam uns zum Bewusstsein, dass unserm Vaterlande infolge der Bündnisverpflichtung gegenüber Österreich die Gefahr eines Krieges drohte.
Am gleichen Tage lief in Tsingtau der österreichische Kreuzer Kaiserin Elisabeth ein, ein mit oliv-brauner Farbe angestrichener, ziemlich alter Kasten, den wir schon bei unserem Aufenthalt in Hongkong getroffen hatten; aber als er in die blaue Kiautschoubucht hineinglitt, sah er ganz majestätisch aus. Ich war zufällig in einer Dienstpause auf den mit spärlichen Akazien bewachsenen Mathildenstein am Rande des Exerzierplatzes hinaufgestiegen. Man hatte von hier aus einen weiten Blick auf das Meer, die Hafeneinfahrt, die Silhouetten des Perlgebirges mit dem Kap Jäschke und die Bucht selbst, in die, von der Abendsonne beschienen, der Kreuzer langsam hineinfuhr. Er hatte nur einen geringen Gefechtswert und sollte die Tsingtauer Bucht nicht mehr verlassen.

Mit besonderer Spannung erwarteten wir in den nächsten Tagen die Zeitung, die »Tsingtauer [Neueste] Nachrichten«, und immer lautete die Frage: »Ist der Krieg erklärt?« Aber noch ehe die Zeitung die entscheidende Meldung brachte, wurden wir, die aktive Truppe, mobilisiert.
Dies bedeutete zunächst nur, dass die Verteidigungswerke stärker besetzt und hergerichtet werden mussten und dass gewisse, für den Ernstfall vorgesehene und im Frieden vorbereitete Maßnahmen in Kraft gesetzt wurden. Die Verteidigungswerke: Es war nicht sehr viel, was man mit 2-3000 Mann verteidigen konnte, und [es war] niemals die Absicht gewesen, aus Tsingtau eine Festung zu machen, die dem Ansturm einer großen See- oder Landmacht gewachsen gewesen wäre. Lediglich gegen einen plötzlichen Überfall von See oder Land her sollte Tsingtau gesichert sein, und für diesen Zweck waren die Verteidigungswerke eingerichtet. Schon bei der Wahl Tsingtaus als Flotten-und Wirtschaftsstützpunkt in Ostasien war die günstige Verteidigungsmöglichkeit mit maßgebend gewesen, denn durch eine verhältnismäßig schmale Einfahrt war die Bucht mit den Hafenanlagen von der See getrennt, und die Stadt selbst war durch einen Kranz von Hügeln als natürliche Verteidigungswerke vom Festland abgesperrt.

So ergab sich die Anlage der Verteidigungswerke von selbst: Gegen das Meer zu sicherten die Seebatterien, vor allem die erwähnte von Huitschienhuk mit ihren sechs schweren Geschützen, die von Iltishuk und die Yunuisan-Batterie, wo neben der Salutbatterie ein paar Panzerturmkanonen aufgestellt waren, die man bei den Kämpfen im Jahre 1900 den Chinesen abgenommen hatte. Sehr viel Staat war mit diesen Batterien nicht zu machen; aber sie alle taten während der Belagerung ihre Schuldigkeit und schossen, bis sie entweder außer Gefecht gesetzt worden waren oder bis ihnen die Munition ausging.

Man hat natürlich versucht, im Kriege die Verteidigungsmittel zu verstärken, aber schwere, gegen See wirksame Geschütze standen nicht zur Verfügung, hätten auch bei der Kürze der Zeit kaum eingebaut werden können.2 Eine solche Verstärkung war nur möglich bei den Landbatterien. Hier war der Kern der Artillerieverteidigung die Bismarck-Batterie, die über die einzigen modernen Geschütze, nämlich zwei 28-cm-Haubitzen, verfügte und deren Abwehrmittel man sowohl gegen Land als auch gegen See einsetzen konnte. An dieses moderne Werk schloss sich die Moltkebatterie an, während auf dem davor liegenden Iltisberg Maschinenkanonen aufgestellt waren.3 Eine Verstärkung erfuhr die Landfront durch die vom Kreuzer Kaiserin Elisabeth abmontierten Geschütze und durch den Einsatz der Batterien der Feldartillerie.

Es war klar, dass ein solch unmodernes artilleristisches Verteidigungswerk von einer Macht, die wirksamere Angriffsmittel in beliebiger Menge einsetzen konnte, in verhältnismäßig kurzer Zeit niedergekämpft werden konnte. Zwar hatte man sich von Tsingtau aus redliche Mühe gegeben, im Etat für Kiautschou größere Mittel für den Ausbau der Befestigungen zu bewirken, aber obwohl wir damals noch ein reiches Volk waren, wurde im Reichstag um jeden Pfennig gehandelt und jede Ausgabe zum Gegenstand politischen Streites gemacht. Darum war es auch nicht zu der geplanten Vorverschiebung der Verteidigungsanlagen auf die Prinz-Heinrich-Berge und Waldersee-Höhen gekommen, sondern die vorderste Linie bildeten die vor dem Iltisberg liegenden Infanteriewerke. Sie zogen sich auf einer niedrigen Hügelkette vom Meer zur Bucht und hatten eine Strecke von etwa fünf Kilometern zu verteidigen. Ihre Lage konnte nicht geheim sein, da der geübte Blick von den dahinter liegenden Bergen die fünf Infanteriewerke (I bis V) ohne Schwierigkeit erkennen konnte; sie wurden aber, ebenso wie die Batterien, im Frieden streng bewacht.

Der Wachdienst spielte überhaupt eine große Rolle im Leben des Seesoldaten, denn jeden fünften Tag musste die Kompagnie 50 bis 60 Mann zu diesem Zweck abstellen. Für den Kompanieführer war dies eine stete Quelle des Ärgers, da er mit der Ausbildung seiner Truppe in Zeitdruck geriet, und der Feldwebel hatte seine besondere Last, weil er bei der Aufstellung der Wachlisten auf die zahlreichen Abkommandierungen zu Sonderdiensten Rücksicht zu nehmen hatte. Der Seesoldat aber freute sich, wenn »des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr« durch einen Tag des Wachdienstes unterbrochen wurde. Das bedeutete ja, dass man für 24 Stunden der Kaserne und damit den Augen der unmittelbaren Vorgesetzten ferne war; man musste nicht wie auf der Stube jeden Augenblick damit rechnen, vom Unteroffizier oder Feldwebel mit irgendeinem mehr oder weniger angenehmen Dienst belästigt zu werden, sondern hatte in den vierstündigen Pausen zwischen dem Postenstehen Zeit und Gelegenheit zum Schlafen, Lesen oder Schreiben in die Heimat.
Selbstverständlich schwankte der Grad der Beliebtheit der einzelnen Wachen sowohl vom Standpunkt des Kompaniefeldwebels als auch von dem des Seesoldaten aus beträchtlich. Solche Wachen, die weit vom Wachtlokal entfernt waren, schätzten wir sehr und wurden vor allem solchen Kameraden zugeteilt, die sich an höchster Stelle keiner besonderen Gunst erfreuten. Wo es vor allem auf Repräsentation ankam, wie vor dem Gouverneurwohnhaus, wurden solche Männer hingestellt, die einigermaßen Gewähr dafür boten, dass sie die Kompagnie beim Präsentiergriff nicht blamierten. Der Feldwebel hatte also schon seine Sorgen!

Wir Einjährigen mussten natürlich alles kennenlernen und waren bei der Wacheinteilung für den Feldwebel dankbare Objekte, wenn nicht der Offiziersunterricht unsere Anwesenheit in der Kaserne verlangte. Mit fortschreitender Ausbildung verwendete man uns vorzugsweise als Wachhabende in den Infanteriewerken, wo jeden Tag ein Gefreiter und drei Mann auf Posten zu ziehen hatten. Der Tradition in der Heimat zufolge fand der Wachwechsel um 1 Uhr mittags statt, und niemand war jemals auf den Gedanken gekommen, dass man während der Sommerzeit in der subtropischen Gegend Kiautschous diesen militärischen Vorgang auch in die kühleren Abendstunden hätte verlegen können. Denn es gehörte in Tsingtau sicher nicht zu den Annehmlichkeiten des Soldatenlebens, um die Mittagstunde mit gepacktem Tornister – feldmarschmäßig! – auf dem glutheißen Kasernenhof antreten und dann mit demselben eine dreiviertel Stunde zum Infanteriewerk hinausmarschieren zu müssen.

So hatte also auch ich schon manchmal meine drei Männer zum Infanteriewerk geführt, in gemächlichem Schritt nach dem Motto »Ein alter Mann ist kein Torpedoboot«, mit geöffnetem Kragen und abgeschlagenem Gewehr, sobald die um Tsingtau liegende Sperrzone überschritten war, in der man sich reglementmäßig zu benehmen hatte. Aber trotz dieser Erleichterungen waren unsere Khakiuniformen nach dem dreiviertelstündigen Marsch durchgeweicht, weil die Sommersonne oder der feuchtwarme Nebel den Schweiß aus allen Poren trieben. Kein Wunder, dass wir bei den Formalitäten der Wach-Übergabe großzügig verfuhren und auf das Nachzählen des Inventars verzichteten, um so schnell als möglich aus der Uniform zu kommen und die im Tornister mitgebrachte Wäsche anzuziehen.
Das verschwitzte Zeug – wer Wert auf besondere Sauberkeit legte, zog es einmal durchs Wasser – war in der Sonne bald wieder trocken und gebrauchsfertig. Wir Einjährigen aber gaben es am Abend unserm Boy mit, der stolz und vornehm in der Rikscha angefahren kam und Abendessen und Frühstück brachte. Nicht aber, dass der Boy das Zeug gewaschen hätte, beileibe nicht, das wäre unter seiner Würde gewesen – er hätte sein Gesicht verloren; er hatte lediglich dafür zu sorgen, dass der »Waschermann« die Wäsche schnellstens erhielt, damit wir sie am nächsten Tag, nach der Rückkehr in die Kaserne, frisch gewaschen, gebügelt und geflickt auf unserm Platz vorfanden. Es gibt kaum zuverlässigere und sauberere Waschleute als die Chinesen; nie habe ich es erlebt, dass Wäsche verwechselt oder unpünktlich abgeliefert wurde. Dass allerdings die dunklen Strümpfe mit hellem Faden und helle Socken mit dunklem Garn gestopft wurden, war eine Gepflogenheit, die auch wiederholtes Mahnen nicht abändern konnte und die sich vielleicht aus dem in vieler Hinsicht dem unsrigen entgegengesetzten Schönheitssinn der Chinesen erklären lässt.

Über die Erlebnisse der Wachen in den Infanteriewerken gingen allerlei Erzählungen um von versuchter Spionage, von Schießereien und dergleichen, aber während meiner Tsingtauer Zeit ist im Frieden nichts passiert, und auch die Wachtbücher der letzten Monate vermeldeten nur ab und zu blinden Alarm, bei dem wahrscheinlich ein Hase oder ein Hund im Drahthindernis die Ursache für die Abgabe eines Schusses war. Die Posten gingen nämlich nachts mit scharf geladenem Gewehr, und über jede abgeschossene Patrone musste genau Buch geführt und ein Protokoll verfasst werden. Weshalb jeder Wachthabende seinen Männern einschärfte, ja nicht zu schießen und sich mit ihnen gut stellen musste, damit sie – nicht schossen, denn solch ein Protokoll bedeutete nicht nur dem Soldaten fremde Kopfarbeit, sondern zog auch unter Umständen unangenehme »Weiterungen« nach sich.

Wahrscheinlich gab es auch zu meiner Zeit nicht mehr viel auszuspionieren; was die Japaner wissen wollten, wussten sie schon aus eigener Kenntnis oder über die Chinesen. Chinesische Kulis hatten ja die Werke gebaut und wurden beim Ausbau dauernd verwendet. Unter ihnen soll – so ging das Gerücht! – einmal ein japanischer Offizier als Spion entdeckt worden sein. In der Tat ist es außerordentlich schwer, einen Chinesen mittlerer Größe von einem Japaner zu unterscheiden. Es gibt aber ein sicheres Merkmal, und zwar ist es beim Japaner jener Zwischenraum zwischen der großen Zehe und den übrigen Zehen, der dadurch entsteht, dass zwischen ihnen durchgezogene Bastschnüre die Getas (und anderes Schuhwerk der Japaner) zu halten haben. Von frühester Jugend an wird die große Zehe merkwürdig weit nach innen gebogen und so eine »Verunstaltung« herbeigeführt, die immer ein besonderes Kennzeichen und verräterisches Merkmal für den Japaner bleibt.
Spezialisten auf dem Gebiete der Spionage im Fernen Osten waren übrigens die japanischen Fotografen, deren es in jedem Hafen mindestens einen gab. In Tsingtau war es Herr Takahashi, von dem man munkelte, dass er im Hauptberuf japanischer Generalstabsoffizier gewesen sei und der stets bereit war, Heimatbilder erinnerungssüchtiger Seesoldaten auf dem Kasernenhof oder sinnig um ihre Kanonen sich gruppierender Matrosen im Fort zu schaffen, wo sonst kein Fremder Zutritt hatte.

Die Infanteriewerke waren im Grundriss alle gleich angelegt und unterschieden sich im Wesentlichen nur durch die Größe; die beiden Randbefestigungen, Infanteriewerke I und V, hatten den größten Umfang, während der Kern der Befestigungslinie, Infanteriewerk III, am kleinsten war. In die Mitte eines Hügels war in den teilweise sehr stark verwitterten Granitfels der Kasernenbau eingesprengt worden, dessen meterdicke Betonmauern und -decken schon einem heftigen Bombardement standhielten. Diese Kasematten sollten den Aufenthalts- und Schutzraum für die Besatzung bilden und enthielten im Erdgeschoss Küche, Vorrats- und Nebenräume sowie eine Wachstube, im oberen Stockwerk drei Schlafräume, Offiziers- und Telefonzimmer.
Von dieser Kaserne aus führten tief eingeschnittene Laufgräben nach den Stellungen an der Frontlinie, an den Flanken und an der dieses Viereck schließenden Kehllinie. Nur an der Frontlinie war die Stellung ausbetoniert und mit Rücken- und Schulterwehren versehen; an den beiden Flanken und an der Kehllinie waren die Gräben einfach mit Steinen ausgemauert oder nur von Erde aufgeworfen. Kleine Beton-Unterschlupfe in jedem Schützenstand sollten Schutz gegen Granatsplitter und Shrapnells bieten. Sogenannte Maschinengewehrstände erwiesen sich bald als vollkommen unpraktisch und mussten umgebaut werden, wie sich [auch] in vielen Fällen zeigte, dass die Festungsbaukunst den Fortschritten der damals modernen Angriffsmittel nicht nachgekommen war.
Bombensichere Räume in der Frontlinie und an der Kehllinie sollten im Ernstfall Wachen aufnehmen, und eine ebenso angelegte Kraftstation hatte für die Beleuchtung der Kaserne und der Scheinwerfer zu sorgen.
Umgeben war jedes Werk von einem 3 Meter Drahtverhau, dem sogenannten Werkshindernis. Vor sämtlichen Werken zog sich außerdem ein 4 bis 5 Meter breites Drahthindernis vom Meer zur Bucht hin, dass im Kriegfalle elektrisch geladen werden konnte.

Die Besatzungen der Artillerie- und Infanteriewerke wurden von der Matrosenartillerie-Abteilung Kiautschou und vom III. Seebataillon gestellt. Jenes setzte sich zusammen aus vier Kompagnien mit je 215 Mann, der berittenen [5.] Kompagnie mit 150 Mann, aus der Marine-Feldbatterie mit 150 Mann, der Pionierkompagnie mit 125 Mann und der Maschinengewehrkompagnie mit 90 Mann.
Die friedensmäßige Besatzung belief sich also auf 2325 Mann,4 wobei zu berücksichtigen ist, dass hieraus das gesamte Lazarett- und das nicht geringe Schreiberpersonal des Gouvernements gestellt werden mussten. Man hätte also die Zahl der Besatzungsmitglieder wesentlich vermehren müssen, wenn nach dem Vorschlag der Gouvernementsverwaltung die Verteidigungswerke ausgebaut worden wären. Aber da Tsingtau lediglich als Repräsentation des Deutschtums in China und als Stützpunkt des Ostasiengeschwaders im Frieden ausersehen war, konnte man darüber streiten, ob es sich rentierte, ein paar Kanonen mehr aufzustellen, nur um den Ansturm einer Großmacht ein paar Wochen länger aufhalten zu können.
 

b) Kriegsgefahr und Mobilmachung

So ungefähr war das Bild der Tsingtauer Verteidigungsmittel, wie wir es aus dem Einjährigen-Unterricht und aus eigener Anschauung kennengelernt hatten, als am 31. Juli 1914 der Belagerungszustand über das Schutzgebiet verhängt wurde. Es war an einem Freitag, und für den frühen Morgen war großes Kasernenreinigen angesagt, eine Angelegenheit, die uns Einjährige wenig interessierte und bei der wir nur im Weg standen. Wir mussten aber dabei sein und taten nichts anderes als zuschauen und aufpassen, dass wir nicht irgendeinem Vorgesetzten ob unseres Müßigganges in die Augen fielen; denn die Herren Feldwebel oder Unteroffiziere bewiesen immer eine große Findigkeit, wenn es galt, einem Einjährigen irgend einen Sonderauftrag zuzuschanzen, der hart an der Grenze seiner gerade von ihnen viel beneideten und belästerten Würde lag.
Es hatte seinen besonderen Sinn, dass man die frühen Morgenstunden des Freitag zum Kasernenreinigen gewählt hatte, das üblicherweise an den Sonnabenden nachmittags stattfand, denn im Laufe des Freitag sollte eine japanische Kommission unter Führung des Gouverneurs von Fort Arthur die militärischen und kommunalen Anlagen Tsingtaus besichtigen. Es handelte sich um einen jener häufigen freundschaftlichen Besuche, die aus diplomatischer Höflichkeit gewechselt wurden und die gewöhnlich in einem Festessen endeten, bei dem man die gegenseitige Hochachtung beteuerte und ewige Freundschaft schwur.

In der Tat stand ja auch der Deutsche von politisch durchschnittlicher Intelligenz dem Japaner nicht unfreundlich gegenüber. Wir wussten, dass japanische Offiziere im deutschen Heer ausgebildet wurden und dass Deutsche als Lehrmeister bei der japanischen Wehrmacht tätig waren; wir hatten uns über die Siege des kleinen Japan über den russischen Koloss begeistert und den Japanern bereitwillig die Tore zu unsern Fabriken und Laboratorien geöffnet.
Was wir aber nicht bemerkt hatten, sondern erst später erfuhren, war die Tatsache, dass unsere offizielle deutsche Politik den Japanern Steine in den Weg legte, wo sie nur konnte. Uns wurde es zugeschoben, dass Japan im chinesisch-japanischen Krieg Port Arthur nicht erhielt, uns zur Last gelegt, dass aufgrund unseres Einspruches Japan auf eine Entschädigung im russisch-japanischen Krieg verzichten musste, und unsere Diplomaten in Tokyo sollen sich nach Berichten von Ohrenzeugen so brüsk und ungeschickt benommen haben, dass Japan an die Seite Englands gedrängt wurde und mit ihm [1902] den bekannten Bündnisvertrag abschloss.5 Auch ist in Japan das Wort des Kaisers [Wilhelm II.] von den Völkern Europas, die ihre heiligsten Güter wahren sollten, und die stete Betonung der »gelben Gefahr« nicht vergessen worden.
Niemand von uns war aber damals politisch so geschult, dass er die Lage von diesen Gesichtspunkten aus betrachtet hätte. Daher hätten wir die Japaner, die durch unsere Kasernen geführt wurden, während wir auf dem Kasernenhof standen, wohl kaum mit einem andern Gefühl als dem der Neugier angesehen, wenn nicht unser Zugoffizier die zu erwartende Spannung mit Japan angedeutet und sich in wenig schönen Worten über die Kommission ergangen hätte. Wer hätte damals, als wir uns über die Rangabzeichen der vorübergehenden japanischen Militärs die Köpfe zerbrachen, geglaubt, dass wir mehr als fünf Jahre Zeit haben würden, uns mit diesen Dingen zu beschäftigen?

Noch hatte sich der Kommiss am Morgen des 31. Juli 1914 nicht auf den Krieg eingestellt. Ein bunt bewegtes – zu Ehren der Kommission gestelltes – Bild zeigte das von den Kasernenbauten auf drei Seiten, auf der vierten vom Mathildenstein überragte Viereck. Jede der vier Kompanien hatte ihre Leute mit etwas anderem zu beschäftigen, um die Vielseitigkeit der militärischen Erziehungsmöglichkeiten darzutun, und wir, die vierte Kompanie, hatten Offiziersunterricht, wie schon erwähnt. Es war meist nichts Erschütterndes, was vorgebracht wurde, wenn die Vorgesetzten vom militärischen Thema abwichen und Fragen der Politik oder des Wirtschaftslebens zu behandeln versuchten. Besonders wir »studierte« Einjährige pflegten solche Erörterungen mit überheblicher Kritik abzutun und betrachteten den geistigen Drill nur vom Gesichtspunkt der Abwechslung aus gegenüber dem körperlichen Training.

Auch was uns an jenem Morgen über Japan erzählt wurde, war nichts Wichtiges, sondern diente vor allem der Hebung der Moral der Truppe durch »Verkleinerung« des Gegners, wie es die Lehrbücher vorschrieben. Immerhin wussten wir nun, dass nicht nur die aus den Heimatberichten bekannten Ententestaaten, sondern auch Japan als unsere Feinde zu betrachten waren.
Mit besonderer Ungeduld erwartete ich das Ende des militärischen Schauspiels, das wir den Japanern zu bieten hatten, denn nach dem Dienstplan hatte ich um 12 Uhr als Wachthabender für den Minenhof aufzuziehen, und ich wollte vorher noch nach Hause, um mich umzuziehen und zu Mittag zu essen. Es war eine Gluthitze an diesem Tage, die Regenzeit war vorbei, und unbarmherzig brannte die Sonne vom blauen Himmel. Um 10 Uhr kam endlich das Signal zum Wegtreten, und schnell wurden Schuhe, Koppel und Helm gewechselt, denn außerhalb der Kaserne taten wir es nur mit den vom Chinesen geschusterten eleganten braunen Halbschuhen, dem ebenfalls braunen Lackkoppel und dem Extratropenhelm. Mit der Extrauniform mussten wir aus Reinlichkeitsgründen sparsamer umgehen; sie wurde erst am Abend getragen, wenn es kühler wurde, oder bei sonstigen festlichen Anlässen.

Der Rikshakuli pustete nicht wenig, als er mich den langen Weg den Hügel hinaufzog, gegenüber dem Gouvernementsgebäude, wo unsere Messe lag, die ich mit vier Einjährigen-Kameraden teilte. Im ersten Stock des »Hotels zur Eiche« hatte jeder sein geräumiges, luftiges Schlafzimmer, und im Parterre war unsere gemütliche, gemeinschaftliche Messe. Während am Tage der Dienst den einzelnen in Anspruch nahm, haben wir abends dort manche frohe Stunde in jugendlicher Sorglosigkeit verbracht.
Der peinlich sauber gekleidete Boy hatte alles vorbereitet: Frische Wäsche lag da, das Bad hatte die richtige Temperatur, und der kühlende Ventilator lief. Pünktlich war auch das Mittagessen zur Stelle, und aus dem Restaurant wurde ein Glas frischen Tsingtau-Bieres mit einem Magenbitter gebracht.
So hatte alles gut geklappt, aber trotzdem musste der Rikshakuli, der mich in die Kaserne brachte, mit stetem »kwai, kwai« (schnell, schnell) angefeuert werden, damit ich pünktlich um 12 Uhr dort antreten konnte. Der Putzer [Bursche] hatte den Tornister gepackt, das Lederzeug ordentlich gewienert, das Signal zum Antreten konnte jederzeit gegeben werden.

Da – kurz vor 12 Uhr – verkündete der Unteroffizier vom Dienst in den Gängen: »Alles antreten – Wache ohne Tornister – bleibt zu Hause!« Diese plötzliche Änderung des Dienstplans musste welterschütternde Gründe haben, die zu erfahren wir umso gespannter waren, als von einer Offiziers-Versammlung nach der Abfahrt der Japaner erzählt wurde und unser Kompaniehauptmann [Perschmann] persönlich in der Kaserne herumgeisterte, was wir von ihm in den heißen Mittagsstunden nicht gewohnt waren.
In der Tat teilte er uns in einer kurzen Ansprache mit, dass nach dem zwischen Österreich und Serbien ausgebrochenen Krieg der Konflikt zwischen Österreich und Deutschland einerseits und Russland andererseits in ein akutes Stadium getreten sei; schwere kriegerische Verwicklungen in Europa seien zu befürchten. Um jedem Überfall und der Zerstörung für Tsingtau lebenswichtiger Anlagen vorzubeugen, habe man daher beschlossen, den Ausnahmezustand zu verhängen und zunächst jedes Infanteriewerk mit einer verstärkten Wache von 25 Mann zu belegen.

Darauf gab der Kompaniefeldwebel den neuen Verteilungsplan bekannt, der vorsah, dass ich mit 25 Männern zum Infanteriewerk II hinaus sollte; auf 2 Uhr war der Abmarsch festgesetzt, und auf einen 14-tägigen Aufenthalt sollten wir uns einrichten. Das waren keine erfreulichen Aussichten, denn wir kannten von den Wachen her die Hitze in den Kasematten und die Moskitoplage, gegen die es als Abwehr des Nachts nur das dumpfe Moskitonetz gab. Die Zeit war zu kurz, um noch das eine oder andere von der Stadtwohnung zu holen; darum besorgte ich beim Chinesenkaufmann noch einige dem zivilisierten Menschen unentbehrlich erscheinende Toilette- und sonstige Gebrauchsgegenstände.
Bei jeder Kompanie nämlich unterhielt ein Chinese ein kleines Warenhaus mit all den Dingen, die der Soldat für sich persönlich oder für seine Braut in der Heimat gebrauchen konnte. Der Einkauf dort war umso verlockender, als Kredit gegeben wurde, dessen Höhe sich nach dem persönlichen Eindruck des Kunden richtete und der im Notfall durch Sperrung des Soldes beim Feldwebel abgedeckt wurde. Es ist ohne weiteres einzusehen, dass trotz des risikofreien Geschäftes die auf Pump gekaufte Ware recht teuer war, denn feste Preise gab es nicht, und beim Handeln war der Kredit heischende Seesoldat von vornherein im Nachteil. Auch ich musste an diesem Tage einige Dollars schuldig bleiben, da ich kaum Bargeld bei mir trug, weil man draußen mit Bankscheck oder Chit, einem formlosen Schuldschein, zu bezahlen pflegte. Als ich das nächste Mal in die Kaserne kam, war das »Warenhaus« geschlossen und der Sohn des Himmels bereits verschwunden; so belastet diese Schuld also noch heute mein Gewissen.

Schnell verging unter solchen Vorbereitungen die Zeit, und wir hatten kaum Muße zu Reflexionen über die politische Lage: Wie werden sich Frankreich und England in dem Krieg verhalten, in den wir mit Russland wohl schon verwickelt waren? Schwer lastete aber auch die Sorge um die nächsten Angehörigen auf uns: Der Vater war Soldat aus Liebhaberei und Begeisterung und musste als Hauptmann der Landwehr sicherlich gleich einrücken, während der eine Bruder als Student im wehrpflichtigen Alter stand. Auch wartete auf mich in der Heimat E., ein kleines blondes Mädel – Wann würden wir uns wiedersehen? Was auch immer geschehen mochte: Es war klar, dass aus dem beabsichtigten Abstecher nach Japan und der Rückreise mit der Eisenbahn über Sibirien im Herbst nichts werden würde. Schließlich beschäftigten uns die Gedanken über das eigene Schicksal: Würde Russland es wagen, Tsingtau von Wladiwostok aus anzugreifen? Würde Japan die Gelegenheit benutzen, um einen weiteren Stützpunkt auf dem Festland zu gewinnen?

Als wir dann um 2 Uhr, mit schwer gepacktem Tornister und mit den nötigen Patronen versehen, ins Werk abmarschierten, verging uns bald das Nachdenken über den Lasten, die der Körper zu tragen und ertragen hatte. Denn kaum waren wir 10 Minuten unterwegs, da tönte sich das helle Braun des Khakirockes immer dunkler, und immer häufiger strich der Zeigefinger die schweren Schweißtropfen von der Stirn, um sie in kühnem Bogen dem lieben Nachbarn zuzuschleudern. Manch grässlicher Fluch entfuhr da dem »Gehege unserer Zähne« über die Wärmekraft der asiatischen Sonne im Allgemeinen und den nach unserer Ansicht höchst überflüssigen Kommissdienst im Besonderen. Der Soldat denkt im Dienst nicht weit; es wird ihm sogar befohlen, nicht selbstständig zu denken. Darum begrüßten wir bei aller körperlicher Mühsal des Augenblicks die Wahrscheinlichkeit, dass wir in den nächsten Tagen des Wachdienstes vor anstrengenden Felddienstübungen, unangenehmen Appellen und dergleichen sicher sein würden.

Im Infanteriewerk III ließ mich ein missgünstiger Feldwebel zunächst Posten stehen, was an sich mit meiner Würde als Gefreiter nicht vereinbar war. Nach den Beförderungsverhältnissen in der Heimat hätte ich nach dreivierteljähriger Dienstzeit schon Unteroffizier sein müssen; aber beim Seebataillon ging es nicht so schnell, weil die Ausbildung durch die Ausreise eine Unterbrechung erfuhr.
Am 1. Oktober 1913 waren wir in Cuxhaven beim III. Stamm-Seebataillon eingezogen worden. Schon am ersten Tag erhielten wir Einjährigen nach der Einkleidung Grußunterricht und wurden, des vereinfachten Grußes wegen mit einem eingewickelten Kommissbrot bewaffnet, zum Wohnen in die Stadt geschickt, weil man in der Kaserne keinen Platz für uns hatte. Bis Mitte Dezember erfolgte eine schnelle Ausbildung der Truppe, an die sich eine Besichtigung durch den Kommandeur anschloss. Über Weihnachten und Neujahr durften wir nach Hause in Urlaub fahren, und am 12. Januar 1914 ging mit dem Hapagdampfer Patricia die Ausreise vonstatten. An Bord konnte von einem AusbiIdungsdienst keine Rede sein: Wäschewaschen, Freiübungen, Unterricht über aktuelle geographische Themen waren es, womit man die Soldaten körperlich und geistig in Bewegung zu halten suchte.

Wir Einjährige hatten es besonders gut, denn wir konnten zu zweien in einer Kabine schlafen, hatten eine eigene Messe und wurden gegen die mäßige Zuzahlung von einer Mark für den Tag wie Passagiere II. Klasse verpflegt. Das bedeutete, dass man früh mit gebratenem Fleisch, Eierspeisen nach Wahl anfangen konnte und dass belegte Brötchen vor dem Schlafengehen den Abschluss bildeten. Schwierig war die Frage, wohin wir uns zurückziehen konnten, wenn diese hervorragende Kost nach gebührender Verarbeitung nach draußen drängte. Da wir II. Klasse aßen, waren wir der Meinung, dass dieses ursächlich damit zusammenhängende Geschäft in eben derselben Klasse erledigt werden durfte; aber dagegen erhoben die Herren Feldwebel vom Bataillon und die Deckoffiziere von der Matrosenartillerie Einspruch. So trugen wir die Angelegenheit unserm Betreuer, dem Schiffsadjutanten, vor, der uns ein vornehmes Örtchen in der I. Klasse anwies, an dessen Türe bald ein Schild prangte: »Nur für Einjährige!« So hatten wir auch ein Anrecht auf die I. Klasse und nahmen mit dem kleinen Finger die ganze Hand, indem wir uns frei auf dem für Mannschaften und Unteroffiziere gesperrten Deck bewegten.
Ich hatte an Bord einen besonderen Vorteil, weil mein Korporalschaftsführer infolge einer Soldatenmisshandlung, die nicht genau aufgeklärt werden konnte, in der Heimat bleiben musste; er ist bald zu Beginn des Krieges bei den schweren Kämpfen in Flandern gefallen. Da es auf dem Schiff an Unteroffizieren mangelte und länger dienende Leute nicht an Bord waren, wurde mir die Führung der Korporalschaft anvertraut. Von diesem stolzen Ross wurde ich aber jäh geworfen, als wir Ende Februar nach Tsingtau kamen und die eigentliche, sehr strenge Ausbildung begann. Sechs Wochen mussten wir in der Kaserne wohnen, also das in der Heimat Versäumte nachholen, und erst Ende Juni 1914 bekam ein Teil von uns, darunter ich, die Gefreitenknöpfe.

Es war kein feiner Zug des Feldwebels, dass er mich in der Nacht Posten stehen ließ, wie überhaupt die Feldwebel uns Einjährigen nicht sehr gewogen waren. Wir hatten ihnen zuviel Vergünstigungen; z.B. waren wir laut Bataillonsbefehl berechtigt, den Badestrand zu betreten, der für Soldaten bis zum Feldwebel einschließlich verboten war – ja, das gab es damals! In der Heimat pflegten die Einjährigen sich die Geneigtheit solcher Vorgesetzter durch kleine Geschenke zu sichern – es war streng verboten, war aber üblich zu nennen –; in Tsingtau war die Besoldung zu gut, als dass man die Gunst irgendwie hätte »erkaufen« können.

Schon am nächsten Tag, am 1. August 1914, wurde ich zum Infanteriewerk II versetzt und dort offiziell Unteroffiziers-Diensttuer – kein schöner Titel, mit dem aber allerlei dienstliche Vorteile verknüpft waren; immerhin, es war eine Zwitterstellung, die erst durch meine endgültige Beförderung zum Unteroffizier am 4. Oktober geklärt wurde.

In den folgenden Tagen richteten wir uns im Werk so gemütlich ein, wie es eben ging. Wir Unteroffiziere schliefen im Lazarettraum, wo wir an den geräumigen Feldbetten gut unsere Moskitonetze anmachen konnten. Alle 24 Stunden kam ich als Wachthabender auf Wache. Das war keine erschütternde Angelegenheit, denn zu tun hatte man gar nichts, und der Wachtraum selbst war in der Kaserne eingerichtet. Die Offiziersronde konnte einen des Nachts auch nicht überraschen, denn das Eingangstor war fest verschlossen, und wer ins Werk wollte, musste sich bei der Wache durch klingeln anmelden. Am schönsten saß es sich in der Nacht auf dem Werkshügel. Durch dauerndes Rauchen von Simon-Arzt-Cigaretten suchten wir die Moskitos fernzuhalten, über uns glitzerten die Sterne, und von ferne her ertönte das ewige Rauschen des Meeres. In den Chinesendörfern heulten die Hunde und klagte unmelodischer Gesang in fremdartigem Rhythmus. Alles schien so friedlich, und zuhause tobte schon der Kampf, waren schon viele Hunderte für ihr Vaterland gefallen.

Denn Deutschland hatte gemäß dem Bündnisvertrag mit Österreich an Russland den Krieg erklärt, und in Tsingtau wurde am 2. August 1914 folgende Verordnung veröffentlicht:

»Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preussen usw., verordnen im Namen des Reichs auf Grund des § 1 des Schutzgebiets[gesetzes] was folgt:
Das Schutzgebiet Kiautschou wird hierdurch in Kriegszustand erklärt. Der Gouverneur hat die mit dieser Erklärung eintretenden Wirkungen bekannt zu machen. Die Aufhebung des Kriegszustandes, sobald er nicht mehr erforderlich ist, erfolgt durch den Gouverneur unter gleichzeitiger Meldung an Mich. Diese Verordnung tritt mit ihrer Verkündung in Kraft.
Urkundlich [mit] unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrücktem kaiserlichen Insiegel
Gegeben Berlin, den ersten August 1914
Wilhelm
In Vertretung des Reichskanzlers
v. Tirpitz
 

c) Im Kriegszustand

Damit war also der Kriegszustand über das Schutzgebiet Kiautschou verhängt, und in Tsingtau wurden die Reservisten und Freiwilligen eingezogen. Gleichzeitig strömten aus allen Teilen Ostasiens die Wehrfähigen herbei, um das kleine Fleckchen deutscher Erde im Osten zu schützen. Aus Holländisch-Indien kamen sie und aus der Mandschurei, aus Japan und der Mongolei. Mit der Eisenbahn und mit dem Schiff, zu Wasser und zu Fuß suchten sie Tsingtau zu erreichen und die tausendfältigen Gefahren zu umgehen, die drohten, als Deutschlands Gegner sich von Tag zu Tag vermehrten.
Diese Reservisten wurden zunächst den bestehenden aktiven Kompanien zugeteilt. Dann bildete man aber zwei neue Kompanien, die sechste und die siebente, von denen diese vor allem aus Landwehrleuten bestand. Wir im Werk merkten von diesen Kriegsvorbereitungen nichts, denn bei uns ging es nach wie vor sehr friedlich zu. Die Hauptaufgabe unserer Posten bestand neben der im Frieden geübten Bewachung des Werks darin, des Nachts auf Lichtsignale von See her zu achten. Es handelte sich um mit den Schiffen verabredete Zeichen, die über den Werkkommandanten – unsern Oberleutnant und früheren Führer des ersten Zuges – auf dem schnellsten Wege dem Gouvernement weitergegeben werden sollten. Der Funkverkehr war ja damals noch nicht so entwickelt wie wenige Jahre später. Nur größere Schiffe besaßen eine eigene Funkanlage, deren Reichweite beschränkt war. Auf der Ausreise z.B. hatten wir im Indischen Ozean tagelang keine Funkverbindung auf der Patricia, weil die Sendeanlagen in den Häfen des Ostens eine zu geringe Reichweite hatten. So musste die Optik helfen, wo der Funk versagte; aber da das menschliche Auge nicht immer zuverlässig ist, kam es bei der nächtlichen Beobachtung des Meeres häufig genug zu Missverständnissen und Auseinandersetzungen.

Die Übertragung auf dem Funkweg ist ja erst in den Jahren nach dem Weltkrieg so entwickelt worden, dass sie Allgemeingut der zivilisierten Menschen geworden ist. Im Wesentlichen war damals die Welt noch auf die Übermittlung von Nachrichten über das Kabel angewiesen. Alle wichtigen Überseekabel waren aber in englischen Händen, und es war eine der ersten Kriegshandlungen Englands, diese Nachrichtenquelle für alles, was deutsch hieß, zu verstopfen. Trotzdem konnten wir in Tsingtau bis in die letzte Woche hinein mit Nachrichten aus der Heimat versorgt werden, und zwar war es ein unscheinbarer, in Shanghai ankernder chinesischer Küstendampfer [Sikiang], der über Amerika die Nauener Funkmeldungen auffing und nach Tsingtau weiterleitete. Als die Sache später ruchbar wurde, kam es zu einem Protest Englands an China wegen Neutralitätsbruches, da neutrale Schiffe keine Nachrichten nach dem blockierten Tsingtau geben durften. Aber inzwischen waren kurz vor dem Fall der Festung die Funkmasten auf dem Signalberg zusammengeschossen worden, und so wurde auf die Austragung dieses diplomatischen Streites kaum mehr Wert gelegt.

Auch der Postdienst funktionierte nach der Absperrung Tsingtaus noch insofern, als es bis in den Oktober hinein Boten gelang, mit den Postsäcken über die Kiautschou-Bucht auf chinesisches Gebiet zu gelangen. Später konnte ich feststellen, dass alle Grüße zuhause angekommen waren, die ich aus dem belagerten Tsingtau in die Heimat gesandt hatte. Nur Postkarten waren erlaubt, die auf dem Wege über Amerika befördert wurden. Dagegen ging die in den letzten 14 Tagen vor Kriegsausbruch über Sibirien gesandte Post verloren, darunter auch ein Einschreibbrief an E., der ein wunderhübsches goldenes Armband mit chinesischen, Glück bedeutenden Charakteren enthielt. Vielleicht hat ein russischer Postbeamter sein Mädchen damit beschenkt und ihm diese goldene Fessel angelegt in der Hoffnung, sein Glück für das Leben zu finden; vielleicht aber hatte der chinesische Goldschmied böse Wünsche für die Fremden hineingehämmert, so dass aus Glück Unglück wurde. Was wissen wir von Zufall und Bestimmung, was von den geheimnisvollen Mächten, die unser Schicksal lenken? Es war ein alter Chinese in Tapautau gewesen, der mir das Armband verkauft hatte, und ich erinnere mich noch, dass er lange zögerte, es mir zu geben, nachdem wir handelseinig geworden waren. Ob er ahnte, dass es nie in die Hände der Frau kommen würde, für die ich es bestimmt hatte, oder ob er wusste, dass auch sein Zauber sie nicht an mich fesseln könnte?

Wenn wir also noch Funk-Verbindung mit der Heimat hatten, so konnte aber nur das Allernotwendigste an Nachrichten allgemeinen Interesses übermittelt werden. Wir wussten nichts von der Begeisterung, mit der sich alle Deutschen dem Vaterland zur Verfügung stellten, nichts von der Verbrüderung der Parteien, die nur so kurze Zeit andauern sollte, sondern taten still und abwartend unsere Pflicht wie im Frieden. Aber wir hörten von der Kriegserklärung an Frankreich und England und wussten nun, dass auch Tsingtau wie die übrigen deutschen Kolonien in das Kriegsgeschehen einbezogen werden würden.

Mit diesen wenigen Nachrichten aus der Heimat konnte freilich die Wissbegier der Tsingtauer nicht befriedigt werden. Es mussten vielmehr die Meldungen der englischen Nachrichtenagentur, des Reuterbüros, herangezogen werden, das damals die ganze Welt versorgte und so gegen uns beeinflusste, dass wir bald keinen Freund mehr hatten. Was Propaganda bedeutete, hatten die anderen schon immer begriffen, während wir Deutsche glaubten, uns mit Fleiß und Arbeit allein durchsetzen zu können. Man kann über Recht und Unrecht in der politischen Propaganda denken, wie man will: Wenn man, wie wir es fünf Jahre tun mussten, die Weltereignisse nur durch die englische Nachrichtenbrille beobachten konnte, dann muss man die Leistung der Engländer auf diesem Gebiet nur bewundern. Nie wurde etwas verschwiegen, was sich auf die Dauer nicht totschweigen ließ, und wenn es noch so bitter für das eigene Volk war; aber immer wurde die bittere Nachricht in einer Form gebracht, die dem Gegner letzten Endes keine Chance ließ.
Eine weitere Nachrichtenquelle war das Gerücht: Niemand weiß, wer es aufgebracht hat, niemand weiß, wo es entstanden ist. Es ist plötzlich da und verbreitet sich mit Windeseile; manchmal ist ein Körnchen Wahrheit in ihm, manchmal ist es ganz aus der Luft gegriffen — immer aber wird es irgendwie geglaubt, weil es dem Mutlosen Mut, dem Hoffnungslosen Hoffnung oder dem Zweifler Gewissheit zu geben scheint. Die Küste Ostasiens war schon stets ein fruchtbarer Boden für Gerüchtemacherei – »coast talk« war der Spezialausdruck hierfür –, und es ging das Gerücht, dass ein Gerücht, das am Morgen in Singapore verbreitet wurde, am Abend bereits in Mukden erzählt wurde, ohne dass für seine Übermittlung der Draht- oder Funkweg benützt worden war.

Es war also für eine verantwortliche Stelle nicht einfach, in Tsingtau den Nachrichtendienst so zu gestalten, dass Wahrheit und Dichtung aufeinander abgestimmt waren. In Tsingtau verbreiteten in den ersten Kriegswochen noch die »Tsingtauer [Neuesten] Nachrichten«, später die »Tsingtauer Kriegsnachrichten« die Neuigkeiten, bis im Oktober wegen Mangel an Papier, Strom und Arbeitskräften auch diese Zeitung ihr Erscheinen einstellen musste.
Wir draußen im Infanterie-Werk wurden nur unregelmäßig mit den neuesten Nachrichten versorgt und erfuhren wenig von den Kriegsvorbereitungen in Stadt und Hafen von Tsingtau. Hier war der Norddeutsche-Lloyd-Dampfer Prinz Eitel Friedrich zum Hilfskreuzer hergerichtet worden unter Verwendung von Geschützen, die man von den kleinen Kanonenbooten abmontiert hatte; er lief am 6. August als Begleitschiff zusammen mit dem Kreuzer Emden aus, der kurz zuvor den Dampfer der russischen Freiwilligenflotte Rjäsan aufgebracht und in den Häfen von Tsingtau bugsiert hatte.
Über die Taten der Emden und über die Bewegungen unseres Kreuzergeschwaders, das uns Ostasiaten besonders nahe stand, haben wir in Tsingtau nie etwas Genaues gehört. Nur Gerüchte über einen Kampf mit dem russischen Kreuzer Askold und über ein Seegefecht mit englischen Panzerkreuzern gingen um – Gerüchte, die auch von den Zeitungen Tsingtaus und Shanghais mit allen möglichen Einzelheiten übernommen wurden, aber obwohl alle diese Nachrichten »aus zuverlässiger Quelle« stammten, wurden sie nie bestätigt – coast talk.

Am 9. August wurde zum ersten Mal eine offizielle Stellungnahme Japans zum Krieg in Europa bekannt: Japanische Zeitungen versicherten, dass Japan keine feindlichen Absichten gegen Deutschland hege. Ein Einschreiten Japans gemäß dem Bündnis mit England könne nur dann notwendig werden, wenn Deutschland englischen Besitz in Ostasien angreifen würde; Japan hoffe aber, dass dies nicht der Fall sein werde.
Diese Meldung las ich in Tsingtau selbst, wohin mich unser Oberleutnant mit dem Auto nahm. Zuhause genoss ich die Segnungen der Zivilisation – die Gedankenverbindung zwischen Zivilisation und Zivilisten drängt sich dem Soldaten auf! –, nahm ein Bad und ließ mich von dem Boy Paul bedienen.

Ein großer Teil der Chinesen war bereits mit Kind und Kegel, Hunden und Esel ausgerückt, aber Paul versicherte mir, er habe keine Angst, auch wenn die Japaner kämen. Er habe die Schlacht bei Mukden als Dolmetscher bei einem Kriegsberichter mitgemacht – wobei er allerdings die Frage offen ließ, was er damals gedolmetscht hat – und habe keine Angst vor »Bum, bum«. Übrigens sei er selbst Soldat gewesen, und zwar Reformsoldat, bei welcher Gelegenheit man ihn um einen Zopf kürzer gemacht hatte; allerdings habe er es nur sechs Monate ausgehalten, dann habe ihm der Betrieb nicht mehr gefallen. »Deutsch sehr gutes Soldat, Chinese sehr schlecht«, meinte er. Er war ein fixer Bursche, sprach leidlich deutsch und bemühte sich sogar, schreiben zu lernen. Dass er sauber und sehr pünktlich war, erwähnte ich schon, zu jeder Tages- und Nachtzeit war er da, ohne dass ich je gemerkt hätte, dass und wo er aß oder schlief. Für seine leiblichen Bedürfnisse musste er nämlich selbst sorgen: Zehn Dollars waren der Lohn, den er für seine Dienste im Monat empfing. Geschlafen hat er wahrscheinlich im Boy-Raum, den das »Hotel zur Eiche« unterhielt wie jedes Haus, in dem mehrere Boys tätig waren.

Über seine Verköstigung aber sprachen wir zum ersten Male an jenem Augusttag: Paul beschwerte sich nämlich über die große Preissteigerung, da er heute für eine Mahlzeit ebensoviel Geld anlegen müsse wie 14 Tage vorher noch für ein Monatsabonnement, und zwar – man höre und staune! – 70 Cents = 1 Mark 40 Pfennige. So billig konnte man im Speisehaus im Tsingtauer Chinesenviertel, in Tapautau, verpflegt werden, wenn man so anspruchslos war, wie eben nur Chinesen sein können. Übrigens erzählte mir Paul bei dieser Gelegenheit, dass er eine Schuhmacherei in Tapautau besitze; aber niemals war ihm eingefallen, meine Stiefel dorthin zu bringen, damit ja der Master – das war ich! – nicht ahnen sollte, wie kapitalkräftig er war. Paul war ein Schantungchinese, groß und gut gebaut, mit einem schmalen Asiatengesicht, aus dem schneeweisse Zähne blitzten; sicherlich gehörte er zu den Chinesen, die man am Morgen in den Hafenstädten beobachten konnte, wie sie stundenlang mit der Zahnbürste im Munde herumfummelten! Sein großer Kummer war, dass er keinen Zopf mehr hatte, wie ihn damals die meisten seiner Landsleute noch trugen. Ich habe ihn im Verdacht, dass er öfters als notwendig mein Haarwasser benützte, um das Wachstum seiner glänzenden schwarzen Haare anzuregen, die immer tadellos glatt frisiert waren. Denn ich hatte einen ungeheuren Verschleiß an Haarwasser und nehme umso weniger an, dass er es getrunken hat, als er ebenso Antialkoholiker wie Nichtraucher war und ihm bessere Getränke wie Benediktiner oder Whisky in der Messe offen zur Verfügung standen. Ich werde noch einmal ein letztes Mal von ihm zu erzählen haben.

Im Bild der Straßen von Tsingtau fiel an jenem Augusttage das Militär besonders auf. Dagegen fehlten fast völlig die vielen Rikshas, von denen immer drei oder vier auf dem Platz vor unserer Wohnung standen, und während sich sonst die Kulis um die Ehre balgten, uns fahren zu dürfen, kostete es schon einige Mühe, einen Wagen aufzutreiben, der dich bis zu der für Zivilisten verbotenen Befestigungszone zurückbrachte, von wo es nicht mehr weit zum Werk war.
Hier wurde am Abend unser friedliches Leben dadurch gestört, dass ein ganzer Zug unserer Kompagnie, verstärkt durch zahlreiche Reservisten, einmarschierte und sich häuslich einrichtete. Zunächst flogen wir Unteroffiziere aus dem Lazarettraum, wo sich nun der Bestimmung des Raumes, wenn auch noch nicht der Notwendigkeit entsprechend, das Sanitätspersonal einrichtete.
Nichts sei gesagt gegen den Sanitäter, der sich in allen Kriegen zehntausendfach bewährte und Gelegenheit genug hatte, Proben von Mut und Tapferkeit abzulegen. Aber wir Durchschnittssoldaten sahen auf den Sanitäter immer von oben herab. Es war ein wenig Neid dabei, denn während wir uns mit Felddienstübungen und Exerzierplatz herumschinden mussten, konnten sie ihre – wie es uns wenigstens schien – geruhsame Arbeit ohne Anstrengung und Schweiß verrichten, sahen in ihren weißen Matrosenblusen immer wie aus dem Ei gepellt aus und hatten ihrerseits eine mitleidsvolle Verachtung für die schwitzenden Kameraden. Aber da es nicht die besten Exerzierer, Schützen und dergleichen waren, die die Kompagnie ans Lazarett abgab, so wurden die Sanitäter von uns als Soldaten nicht für voll genommen und dementsprechend angesehen. Ebenso verhielt es sich übrigens auch mit dem Schreiberpersonal der Kompagnie, des Bataillons und des Gouvernements, von dem mancher jetzt schweren Herzens zu seiner Kompagnie zurückkehren musste.

Immerhin, wir mussten der besseren Einsicht weichen und zogen mit 25 Mann in die dumpfe Kasernenstube. Die bequemen Feldbetten vertauschten wir mit den zweistöckigen Eisengestellen, die gerade soviel Platz ließen, dass man auf seinen muffigen Strohsack kriechen konnte. Über den Füßen war ein eiserner Tornisterkasten, dessen Falltüre uns erst ein paar Mal auf das Schienbein schlagen musste, bis wir gelernt hatten, ihn gehörig zu schließen. Nun war es ja im August in Tsingtau schon so heiß, dass auch der dauernd surrende Ventilator nur Heißluft in den Raum blasen konnte. Aber zu allem hatte unsere Stube noch den Vorzug, über der Küche zu liegen. Kein Wunder, dass sich an Wänden und Decken das Kondenswasser sammelte und langsam aber sicher auf die Besitzer der oberen Betten tropfte. Wohl fühlten sich in dieser Treibhausluft nur die Moskitos, die uns, da Netze kaum angebracht werden konnten, in des Wortes wahrster Bedeutung bis aufs Blut peinigten.
So war es zu verstehen, dass die Mehrzahl von uns es vorzog, ihr Bett zu nehmen und zu wandeln – nämlich auf den Werkshügel, wo an vier Stöcken das Moskitonetz angebracht wurde und die Sterne freundlich durch das Gewebe funkelten. Bis sich eines Nachts der Himmel mit Wolken überzog und einer jener kurzen, aber plötzlich und mit Vehemenz auftretenden Tropenregen das Gelände – und den unteren Teil der Kaserne – unter Wasser setzte; damit hatte der bei den Vorgesetzten nicht gerne gesehene Schlaf unter freiem Himmel ein Ende, und wir mussten wieder in unserm Kasernenraum schwitzen.

Aber nicht nur in der Nacht rann uns der Schweiß aus allen Poren, auch am Tage wurde dafür gesorgt, dass wir nicht zur Ruhe kamen. Als Werkskommandant hatte sich nämlich unser Kompagniechef höchstpersönlich bei uns eingenistet, und wo höhere Vorgesetzte waren, musste der Soldat dauernd in Bewegung gehalten werden. Das geschah denn auch gründlich: Um 6 Uhr war Wecken, und nach dem Kaffeetrinken wurde »Stellung besetzen« geübt, d.h. wir wurden von einer Stellung zur andern gejagt. Das war eine ziemlich üble Sache, und besonders den ungeübten, z. T. recht wohlbeleibten Reservisten machte es wenig Spaß, mit Gewehr, Koppel und Munition dauernd die 400 Meter von der Kehllinie zur Frontlinie auf steinigen, engen Pfaden bergauf, bergab sausen zu müssen. Dieses Vergnügen dauerte gewöhnlich eineinhalb Stunden, und hierauf war sogenannte Arbeitsdienst, die Kasernen wurden gereinigt, Strohsäcke gelüftet, Steine gesammelt, um die Stahlblenden zu füllen und was dergleichen Dinge mehr waren. Am Nachmittag wiederholte sich dasselbe Spiel, und so ging jeder Tag nutzbringend vorüber. Im vollen Bewusstsein, etwas geleistet zu haben, tranken wir am Abend unser Bier in der schönen Abendkühle vor der Kaserne oder auf dem Werkshügel und erzählten uns etwas.

Zu erzählen gab es ja in Hülle und Fülle; denn wir waren eine aus allen Gegenden zusammengewürfelte Gesellschaft, in der keiner war, der nicht Interessantes zu berichten wusste. Schon die aktive Truppe.des Seebataillons war aus Männern zusammengesetzt, die allen Stämmen, man kann schon sagen: Nationen, des Deutschen Reichs entnommen waren. Zum Dienst in der Truppe konnte man sich nämlich entweder freiwillig melden, oder man wurde gezogen, d.h. man wurde, ohne dass man befragt wurde, bei Tropentauglichkeit zum Seebataillon kommandiert.6 Der Freiwilligen waren es nicht viele, da bei uns der Soldat drei Jahre dienen musste, während in der Heimat im allgemeinen die zweijährige Dienstzeit üblich war. Es gehörte also schon eine besondere Begeisterung oder der Drang nach draußen, der Wunsch, die Welt zu sehen, dazu, wenn sich ein Rekrut zum freiwilligen Dienst bei uns meldete. Der weitaus größere Teil der Mannschaften aber musste kommandiert werden, und so kamen die Bayern und Westfalen, die Badenser und Pommern, aber auch die Elsässer und Polen deutscher Nationalität zum ersten Oktober nach Cuxhaven, meist nicht mit Begeisterung, aber doch voll neugieriger Spannung, um ihre Dienstpflicht zu erfüllen. Für viele war es sehr schwer, sich in dieser zusammengewürfelten Schar zurechtzufinden, in der oft einer kaum die Sprache, d.h. den Dialekt des andern verstand. Ich erinnere mich noch gut eines Landsmannes, eines Holzfällers aus den bayerischen Bergen, der nicht nur totunglücklich vor Heimweh nach seinen geliebten Bergen war, sondern auch kein Wort der Kommandosprache verstand und infolgedessen bei jeder Gelegenheit Fehler machte und unangenehm auffiel. Aber es fanden sich mit der Zeit alle zurecht, und es gab nur wenige, die nicht aus ihrer Dienstzeit im Ausland bleibende Eindrücke und Gewinn fürs Leben mitgenommen hätten.

Nun waren als gewöhnliche Soldaten, Gefreite, Unteroffiziere oder Vizefeldwebel eine Anzahl Reservisten zu uns gekommen, von denen die meisten schon viele Jahre irgendwo im Fernen Osten verbracht hatten, in Shanghai oder Tientsin, in Harbin oder Yokohama, in Mukden oder Hongkong, als Kaufleute oder Techniker, als Ingenieure oder Diplomaten. Sie alle konnten erzählen und unser Wissen um Land und Leute bereichern. Sie taten es gerne und freuten sich, bei deutschem, wenn auch in Tsingtau gebrautem Bier ihre Erlebnisse und Erinnerungen austauschen zu können – bis plötzlich die Alarmglocke durchs Werk schrillte. Dann stutzten wir einen Augenblick, fluchten wohl auch ein bißchen, holten Gewehr und Koppel aus der Kaserne und rannten ein jeder zu seinem Alarmplatz. Die Scheinwerfer traten in Tätigkeit und – der Feind konnte kommen.

Aber noch war uns nicht klar, woher der Feind kommen konnte und wer überhaupt unser Feind war.. Zwar wurde am 10. August eine Nachricht bekannt, wonach die deutsche Botschaft vor einem japanisehen Angriff auf Tsingtau gewarnt haben soll, aber diese Nachricht wurde noch am selben Tag dementiert. Auch erschien in unserem Werk ein baumlanger Oberleutnant, den wir den Wanderprediger nannten und der uns in lauten Fisteltönen über die japanische Kampfesweise aufklärte: Die Japaner schössen im allgemeinen schlecht und meist nur auf geringe Entfernung; dagegen seien sie Meister im Bayonettkampf, weshalb wir gut daran täten, sie uns möglichst vom Leibe zu halten. Diese Erfahrungen, die sich später als durchaus richtig erwiesen, hatte der Oberleutnant beim japanischen Heer selbst gesammelt, zu dem er abkommandiert worden war.

Am 14. August brachte die »Peking Daily News« einen Leitartikel, wonach der Angriff Englands, Frankreichs und Russlands auf Tsingtau bald zu erwarten sei; man hoffte, dass der Angriff mit größter Übermacht erfolgen würde, so dass ein Widerstand nutzlos sein und der Kampf nur wenig Opfer kosten werde. Es ist kein Zweifel, dass dieser Artikel von amtlicher englischer Seite inspiriert war, um Japan zu einer Entscheidung zu drängen; denn die drei genannten Länder hatten im Augenblick wahrscheinlich andere Sorgen als die Vorbereitung eines groß angelegten Angriffs.auf Tsingtau. Immerhin, die Gefahr für Tsingtau wuchs stündlich, und daher wurde am 17. August Frauen und Kindern vom Gouvernement empfohlen, sich unter Benützung des täglichen Sonderzuges der Schantung-Eisenbahngesellschäft nach Tsinanfu und anderen Plätzen Chinas in Sicherheit zu bringen.
Ich war inzwischen noch zweimal in Tsingtau gewesen, wo man weitere Vorbereitungen für eine zu erwartende Belagerung getroffen hatte. Das Strandhotel war geschlossen worden, nachdem seine deutschen und ausländischen Gäste Tsingtau verlassen hatten, und das Prinz-Heinrich-Hotel wie auch das Seemannshaus hatte man zu Hilfslazaretten eingerichtet. Alle Leuchtfeuer waren gelöscht, und die Straßenbeleuchtung war abgeschaltet; Nach der See hin durfte nachts kein Licht gezeigt werden.

Noch einmal erhielt ich im Werk Post aus der Heimat, von den Eltern, von E. und in großem Umschlag die Doktorarbeit eines Bekannten, mit den ich in Erlangen viele Stunden ernster Arbeit und fröhlicher Entspannung verbracht hatte. Ich wusste von ihm, dass sein Vater ein großes Holzgeschäft in Mukden besaß und dass er selbst im Osten gewesen war. Als wir uns aber Ende Juli 1913 in Erlangen trennten, ahnte ich noch nicht, dass ich nur wenige Monate später auch auf dem Wege nach dem Fernen Osten sein würde. Ich hatte damals noch die Absicht, beim 2. Feldartillerieregiment in Würzburg als Einjähriger zu dienen, und kannte weder das Seebataillon noch die Möglichkeit, in Cuxhaven–Tsingtau der Dienstpflicht zu genügen.
Es war eigentlich ein Zufall, der mich zum Seebataillon führte: Als ich nämlich bei einem Frühschoppen in meiner Heimatstadt Schweinfurt beiläufig erzählte, dass ich am Nachmittag mein Gesuch an das 2. Feldartillerieregiment abschicken würde, meinte ein Bekannter meines Vaters, warum ich nicht in Tsingtau dienen wollte. Ich hätte Gelegenheit, etwas von der Welt zu sehen und brauchte so das Jahr nicht als ein verlorenes zu betrachten, wie es ja wohl die meisten Zivilisten täten. Er selbst war nämlich aktiver Offizier und hatte zwei Jahre beim Seebataillon in Tsingtau verbracht. Ich muss sagen, dass ich sehr schnell entschlossen war, diesem Rat zu folgen; das Einverständnis des Vaters, der eine gewisse finanzielle Verpflichtung hinsichtlich des monatlichen Zuschusses übernehmen musste, hatte ich sofort, und der Widerstand der Mutter, die hinter den Tropen nur Krankheit und Tod sah, war bald überwunden. So ging jenes Gesuch nicht nach Würzburg, sondern nach Cuxhaven, von wo schon nach wenigen Tagen die telegrafische Aufforderung zu persönlicher Vorstellung kam. Ich wurde mehrere Stunden auf Herz und Nieren geprüft und bekam den Bescheid, dass ich am 1. Oktober 1913 anzutreten hätte; es war mir damals eigentlich selbstverständlich, dass ich angenommen werden würde, und erst später erfuhr ich, dass von ungefähr 50 Bewerbern nur acht die »Prüfung« bestanden hatten, darunter also auch ich.
Um aber auf die Doktorarbeit meines Erlanger Bekannten zurückzukommen: Ich hatte ebenfalls mein Thema zu einer Doktorarbeit und hatte nach der Beendigung meines juristischen Universitätsstudiums mein Einjährigenjahr eingeschoben, um nicht, da ich bereits das dreiundzwanzigste Lebensjahr erreicht hatte, zu »alt« zu werden. Mit einem gewissen Neid besah ich mir also das Druckwerk, als die Türe aufging und ein neuer Reserveunteroffizier in die Wachtstube trat. Er nannte seinen Namen, ich stutzte einen Augenblick und hielt ihm dann die Doktorarbeit unter die Nase. »Es ist mein Bruder«, meinte er nur. Im Übrigen war er ganz im Gegensatz zu meinem Bekannten ein Sonderling, den ich bald aus den Augen verlor, da er zu einer anderen Kompagnie versetzt wurde.

Der 18. August brachte uns endlich das japanische Ultimatum, von dem wir schon gerüchtweise gehört hatten, mit folgendem Wortlaut:

»Wir erachten es unter den heutigen Verhältnissen für sehr wichtig und nötig, Maßregeln zu ergreifen, die Ursache aller Friedensstörungen im Fernen Osten zu entfernen und das allgemeine Interesse sicherzustellen, das von dem japanisch-britischen Bündnisvertrag ins Auge gefasst ist, um einen festen und dauernden Frieden in Ostasien sicherzustellen, dessen Erhaltung der Hauptzweck dieses Bündnisses ist. Die Kaiserlich Japanische Regierung hält es aufrichtig für ihre Pflicht, der Kaiserlich Deutschen Regierung den Rat zu erteilen, folgende beiden Vorschläge auszuführen:
1) sofort alle deutschen Kriegsschiffe und Hilfskreuzer aller Art aus den japanischen und chinesischen Gewässern zurückzuziehen und sofort die Schiffe, die nicht zurückgezogen werden können, abzurüsten;
2) bis zum 15ten September bedingungslos und ohne Entschädigung das gesamte Pachtgebiet Kiautschou den Kaiserlich Japanischen Behörden auszuliefern, die es gegebenenfalls China zurückgeben werden.
Die Kaiserlich Japanische Regierung teilt gleichzeitig mit, dass, wenn sie die Antwort der Kaiserlich Deutschen Regierung, in der die bedingungslose Annahme des Rates der Kaiserlich Japanischen Regierung ausgesprochen ist, bis zum Mittag des 23ten August 1914 nicht erhält, sie sich zu den Schritten gezwungen sieht, die sie angesichts der Lage für notwendig erachtet.«

In klarer Sprache verlangten die Japaner eine Antwort, die nie gegeben werden konnte und auch garnicht erwartet wurde: Das Ultimatum bedeutete für Deutschland den Krieg mit Japan und für uns die Gewissheit eines Angriffs auf unsere Kolonie Kiautschou. Da Japan beliebig große Machtmittel zu Wasser und zu Lande einsetzen konnte, war es nur eine Frage der Zeit, wann die Festung Tsingtau verloren ging. Diesen Zeitpunkt möglichst hinauszuschieben, dem Feinde zu schaden und die eigenen Verluste so gering wie möglich zu halten, konnten die einzigen Aufgaben unserer Führung sein. Sie wurden gelöst und, wie man rückblickend sagen kann, besser gelöst, als es für denjenigen den Anschein hatte, der die beschränkten Verteidigungsmöglichkeiten unserer Festung kannte.

Da der Krieg jetzt Tsingtau unmittelbar bedrohte, wurden der Landsturm und Freiwillige einberufen, die als Bürgerwehr und Freiwillige Feuerwehr Dienst tun mussten. Obwohl eine große Anzahl von reicheren Chinesen das Stadtgebiet schon verlassen hatte, waren noch immer einige zehntausend in Tapautau und den kleineren Dörfern innerhalb des Festungsgürtels zurückgeblieben. In einer Festung waren sie an sich unerwünschte Esser, aber wir brauchten sie als Arbeiter bei den Erzänzungsbauten der Festungswerke. Infolgedessen war das Verlassen Tsingtaus für Chinesen verboten, und nur mit einem polizeilichen Ausweis durften die streng bewachten Übergänge am Haupthindernis passiert werden. Zu dieser Masse von Chinesen sollte die kleine Bürgerwehr das Gegengewicht bilden, falls versucht werden sollte, den Japanern durch einen Aufstand im Innern Hilfestellung zu leisten. Aber es geschah nichts dergleichen, weil die Chinesen mit der deutschen »Herrschaft« stets zufrieden gewesen waren und weil schon damals jene Antipathie zwischen Japan und China bestand, die zwei Jahrzehnte später zu dem für Japan letzten Endes so unglückseligen Krieg führte.

Die neuen Massnahmen berührten auch die Verteidigung der Infanteriewerke, die endgültig wie folgt besetzt wurden: IW I von der der ersten Kompagnie, IW II von der siebten Kompagnie, IW IV von der zweiten Kompagnie und IW V von der dritten Kompagnie des Seebataillons. Man sieht, die vierte, also unsere Kompagnie, war nicht eingeteilt, weil ihr eine besondere Aufgabe vorbehalten blieb. Am 18. August kam nämlich plötzlich der Befehl, dass die vierte Kompagnie IW II und III zu räumen und bis auf die Wachmannschaften in die Kasernen abzumarschieren habe. Da ich als Wachthabender im Werk bleiben musste, erlebte ich den Einmarsch der [6.] Landwehrkompagnie: Es waren alles andere als Soldaten, die da ankamen. Ganz junge Kriegsfreiwillige, die noch ein paar Tage vorher die Schulbank gedrückt hatten, liefen neben wohlbeleibten älteren Herren, denen das Koppel kaum passte; alle aber waren aufgelöst von der Anstrengung des ungewohnten Marsches in der Tropensonne, obwohl sie für den Transport ihres Gepäcks – der eine hatte einen Tornister, der andere einen feudalen Lederkoffer, der dritte einen Zeltbahnbeutel – eine Anzahl von Rikshas gechartert hatten. Man kann sich denken, dass wir »Aktiven«, die an Sonne und Schweiß gewöhnten Soldaten, die Landwehr mit mitleidigen Blicken empfingen, in die ein gehöriger Schuss von Verachtung gemischt war.

Es gehörte zu meinen Pflichten als Wachthabender, den Einrückenden die Unterkunftsräume zu zeigen, von denen sie nicht begeistert waren, und sie im allgemeinen über die Aufgaben der Wachen zu instruieren, zu welchem Zwecke mir am Abend ein Reserveunteroffizier mit vier Reservisten beigegeben wurde, die ich zur Übung und »Schonung« der eigenen Leute gleich auf Wache steckte. Die Nacht über ging alles gut, bis auf einmal im Morgengrauen mehrere Schüsse hintereinander fielen. Ich eilte ans Sprachrohr, das mich mit dem Posten an der Kehllinie verband und hörte: »Mir ham ein' erschossen, ich glaub’, es is' ein Spion!« Ich rannte ans Tor, das bereits geöffnet werden war, und fand auf dem Boden kauernd einen zitternden alten Chinesen.
Wie sich herausstellte, hatte der Posten am Tor den Chinesen, der aufs Feld gehen wollte, nach der Vorschrift angerufen. Da der Chinese nicht sofort stehengeblieben war, hatte der Posten auf 15 Meter Entfernung einen Schuss auf ihn abgefeuert. Dies beobachtete sein Kamerad an der Kehllinie oben, ein alter Chinakrieger von 1900, riss das Gewehr an die Backe und jagte seine sämtlichen fünf Patronen heraus, ohne glücklicherweise den armen Teufel zu treffen. Es war kein Zweifel, dass es ein harmloser Feldgänger und kein Spion war, den man anzuschießen vergeblich versucht hatte, und so hätte man das Tor und damit die Akten über diesen Fall schließen können; aber die Schießerei hatte das ganze Werk munter gemacht, weshalb ich telefonisch beim Werkskommandanten anfragen musste, was mit dem Chinesen geschehen solle. »Herbringen lassen!« war die Antwort, und von zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr wurde die immer noch zitternde Jammergestalt durchs Werk geleitet. Sicher hat der Chinese geglaubt, aus irgendwelchen, nur den fremden Teufeln bekannten, Gründen erschossen zu werden; umso schneller war er, sich scheu umblickend, aus dem Werk draußen, nachdem der Werkskommandant meinen Befund nach Augenschein bestätigt hatte.

Immerhin, solche Erlebnisse können unangenehme Folgen haben, und so war ich froh, als ich um sechs Uhr morgens mit meinen Leuten in die Kaserne nach Tsingtau abmarschieren konnte. Es war ein herrlicher Morgen, und die Sonne glitzerte im Meer, als wir über den Iltisberg herniederstiegen und das schöne Bild der Tsingtauer Bucht vor uns liegen hatten. Ein Bad in der Kaserne stärkte die erhitzten Glieder, und eine Stunde Schlaf ersetzte die durch Moskitos und die Schießerei gestörte Nachtruhe. In der Unteroffiziersmesse herrschte ein Riesenbetrieb, denn die Räume mussten gegenüber der Friedenszeit das Vielfache an Gästen aufnehmen, und der Mangel an Bedienung war umso größer, als die meisten Boys ausgerissen waren. Man aß dort gut und billig. Schon für 10 cents = 20 Pfennig konnte man ein Beefsteak haben, und wenn man 5 Cents zulegte, waren noch 2 Spiegeleier drauf. Teuer waren die Getränke, die man in der Hitze notwendiger brauchte als das Essen. Ich hatte mich schon im Frieden dort verpflegt, solange ich in der Kaserne wohnen musste, weil mir das Mannschaftsessen nicht zustand. Dieses war übrigens ganz ausgezeichnet und abwechslungsreich; wir waren ja Marine, und diese hatte schon in der Heimat höhere Verpflegungssätze als das Heer, in Tsingtau kamen dazu noch die Auslandszulagen. Es ließ sich also schon in Tsingtau leben, aber der Seesoldat brauchte es auch, da er mit Fresspaketen aus der Heimat oder mütterlich für ihn sorgenden Kocherln nicht rechnen konnte. Für sie sprang, was die Bedürfnisse des Magens anlangte, Küche und Kantine ein, und wer die Liebe nicht entbehren konnte, musste sich an die freundlichen Mädchen in Tapautau halten. Aber nur Chinesinnen und Japanerinnen durften die Arme für sie offen halten, die weißen Dienerinnen der Liebe – Russinnen, Amerikanerinnen, Polinnen – standen nur dem Militär vom Unteroffizier aufwärts (und den Einjährigen!) zur Verfügung. Niemand breche im Übrigen den Stab über diese Frauen, die an manchen Plätzen des Fernen Ostens sogar in der sogenannten Gesellschaft eine Rolle spielten und nicht selten gute Ehefrauen und Mütter wurden; denn der Junggesellen gab es viele, und die weiße Frau stand hoch im Kurs, woher sie auch immer kam.

Wir kümmerten uns aber in jenen Tagen nicht um die Liebe, sondern reagierten am Abend mit vielem Alkohol unsere Sorgen ab und spülten Schweiß und Staub des Alltags hinunter. Denn wenn unsere Kompagnie auch zunächst in Ruhestellung zurückgenommen worden war, so merkten wir doch von der Ruhe nichts und wurden tagsüber irgendwie beschäftigt.
Am 20. August z.B. wurde ich mit 20 Mann zum IW III geschickt, wo wir uns zur Verfügung eines Pionieroffiziers halten mussten, der uns zum Ausheben von Schützengräben und Freimachen des Schussfeldes an der linken Flanke des Infanteriewerks einsetzte. An die letztere Arbeit waren wir von unserm Aufenthalt im Werk her gewöhnt, denn ein großer Teil der Arbeitsdienstzeit wurde dazu benützt, um das Gelände um das Werk und vor allem vor dem Haupthindernis einzuebnen. Schon in den ersten Augusttagen hatte man die Chinesendörfer Hsiwutschiatsun und Kangtschiatschuang niedergelegt, die uns bei friedensmäßigen Übungen vom IW III aus oft genug als Zielpunkte gedient hatten. Nun waren Hunderte vcn Kulis damit beschäftigt, kleinere Erhebungen abzutragen und einen Teil der Ravinen zuzuschütten, in denen das Regenwasser seinen Weg über das Haipoflüßchen zum Meer suchte. Die vielen größeren Ravinen zu beseitigen, war aber unmöglich, und da sie die natürlichen Wege zur Annäherung an das Haupthindernis für den Feind sein mussten, wurden sie vermint. Zwar war die Kunst des Minenlegens noch nicht so ausgebildet wie im Laufe des Weltkrieges, jedoch taten unsere Pioniere alles, um mit primitiven Mitteln dem Gegner die Annäherung zu erschweren.

Ich erinnere mich, dass wir auch abends ganz friedlich auf unserm Werkshügel saßen, als plötzlich ein Feuerschein den Himmel erhellte und ein donnerähnlicher Schlag das Werk erbeben machte: Eine Mine war im Vorgelände hochgegangen. Als wir Unteroffiziere am nächsten Tag die Explosionsstelle besichtigten, standen wir vor einem mit Wasser gefüllten Krater mit einem Durchmesser von ungefähr drei Metern, um den rings verstreut Steine und Erdklumpen lagen. Es war übrigens kein behagliches Gefühl, als uns der Pionier durch die mit Minen gespickte Ravine führte; denn allenthalben staken in der Erde rote Fähnchen als Warnzeichen, dass darunter ein todbringendes Pulverfass oder dergleichen verborgen sei. Noch waren die Minen nicht geschärft; aber es war nicht zu empfehlen, in den Drähten hängen zu bleiben oder auf die Zündung zu treten.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Unsere Seesoldaten überarbeiteten sich nicht beim Ausheben der Schützengräben und dem Freimachen des Schussfeldes; denn im Lande der billigen Arbeitskraft war es an sich nicht üblich, dass der Weiße körperliche Arbeit tat. Er war der dem Chinesen geistig überlegene Herr und lief Gefahr, sein Gesicht zu verlieren, wenn er sich herabließ, »Kulidienste« zu tun. Es war nicht Überheblichkeit des weißen Mannes, wenn er seine Hände schonte; auch der höher stehende Chinese wäre nie von seinen Landsleuten verstanden worden, wenn er körperliche Arbeiten nicht durch die zahlreiche Dienerschaft hätte ausführen lassen. Reizvoller war es für den Seesoldaten schon, Telefondraht zu legen; das sah ein bisschen nach Technik aus, von der die Kulis nichts verstanden. Das taten wir denn auch, und zwar zwischen IW III und einem neu entstandenen sogenannten Blockhaus. Man hatte nämlich mittlerweile dort,, wo der Zwischenraum zwischen den einzelnen Werken zu groß war, Blockhäuser in die Verteidigungskette eingefügt. Es waren Infanteriewerke im Kleinen, die aus einem mächtigen Betonblock mit zwei Räumen und einer Schützenstellung für zwanzig Mann bestanden und telefonische Verbindung mit den Infanteriewerken hatten.

Es war damals auf dem Rückweg zur Kaserne, dass ich plötzlich in der Nähe des Dorfes Taitungtschen auf der Hauptstraße, die nach Litsun und weiter durch das Schutzgebiet auf chinesisches Gebiet führte, dem Boy Paul begegnete. Ich fragte ihn, wohin er wolle und erhielt die Antwort, dass er von einem Kameraden nach IW I bestellt worden sei. Zwar war ich misstrauisch, weil der Weg zum IW I keineswegs über Taitungtschen führte. Aber mein Hunger war größer als mein Interesse an Pauls Umwegen, und daher kümmerte ich mich nicht weiter um ihn. Es war meine letzte Begegnung mit Paul und wahrscheinlich, dass er damals auf der Flucht aus Tsingtau gewesen war; denn weder meine Kameraden noch ich haben ihn wiedergesehen, und das mit dem IW I war natürlich eine Lüge gewesen.

Der nächste Tag, der 21. August 1914, bescherte uns eine Felddienstübung mit anschließendem »Gefecht« bei Syfang, einem an der Kiautschoubucht gelegenen Dörfchen. Wir wurden nur von Reserveoffizieren geführt, und so wurde es nach unseren Begriffen, da wir noch vor wenigen Wochen den preußischen Drill genossen hatten, eine rechte Landsturm-Bürgerwehr-Übung! Von unsern Reserveoffizieren war einer, Manfred Zimmermann, im Zivilberuf Rechtsanwalt in Tsingtau; wir kannten ihn bereits aus der Friedenszeit, da er bei uns eine Übung gemacht hatte. Der zweite, Dr. Mohr, war Seezolldirektor in chinesischen Diensten und ein ausgezeichneter Kenner der chinesischen Sprache. Nur kurze Zeit war bei uns ein junger Leutnant [Scriba], ein Kaufmann aus Tokyo; er war der Sohn eines deutschen Leibarztes des Mikado und einer Japanerin. Bald kam er als Dolmetscher zum Gouvernement. Man wollte es ihm vielleicht ersparen, mit der Waffe in der Hand gegen seine eigenen – halben – Landsleute kämpfen zu müssen.

Das Verhältnis zu den Reserveoffizieren, wie zu allen Vorgesetzten aus der Reserve, war immer ein sehr gutes, weil das Menschliche nicht in den Hintergrund geschoben wurde, während bei den aktiven Vorgesetzten damals auch im Kriege der dienstliche Abstand nie übersehen werden durfte. Es ist kein Wunder, dass die Mannschaften dies spürten und ihre Sympathien bald den Vorgesetzten der Reserve zuwandten. Da aber der Gehorsam, wenn er zur echten Disziplin werden soll, guten Willen und eben Sympathie zur Voraussetzung hat, kann man sich vorstellen, dass es die aktiven Vorgesetzten, besonders die Unteroffiziere, fürderhin nicht ganz leicht hatten.
Hinzu kam, dass den Feldwebeln und den Unteroffizieren bis zum Kriegsbeginn die Kommandogewalt in einer Form überlassen war, wie sie in der Heimat infolge der Aufsicht der höheren Vorgesetzten und der politischen Parteien unmöglich gewesen wäre. Leider kümmerten sich nämlich die Offiziere in Tsingtau, wo auch der jüngste Leutnant hoch zu Ross, d.h. auf seinem sibirischen Pony, zu den Felddienstübungen erschien, zu wenig um die Mannschaften, sodass Übergriffe subalterner Vorgesetzter vorkamen, für die auch der »Tropenkoller« keine Entschuldigung war. Ich hatte nie Grund zur Klage; aber mancher meiner Kameraden ließ sich von einer Beschwerde nur abhalten, weil sie erfahrungsgemäß beim Militär zwar zu augenblicklicher Abhilfe führte, auf längere Sicht jedoch den Zustand nur verschlimmerte.

Am Nachmittag bekam ich Urlaub nach Tsingtau, das jetzt einen ziemlich toten Eindruck machte, denn die meisten Frauen und Kinder hatten die Stadt bereits verlassen mit dem Dampfer Paklat, der am gleichen Tage mit 260 Frauen und Kindern nach Tientsin fuhr. Wie wir allerdings ein paar Tage später erfuhren, erreichte der Dampfer sein Ziel nicht, sondern wurde von einem englischen Torpedoboot angehalten und zu dem englischen Pachthafen Weihaiwai bugsiert. Hier wurden die Passagiere nach etlichem Hin und Her auf einen kleinen chinesischen Küstendampfer umgeladen, der sie nach Tientsin brachte. In meiner Wohnung sah es ganz nach Um- oder Auszug aus; denn halbgepackt standen die Koffer, in denen Paul nach meinem Auftrage meine Siebensachen verstauen sollte. Dass er selbst nicht im Hause war, fiel mir damals nicht auf, ebenso wenig, dass ich mein Fernglas nicht finden konnte. Erst später wurde mir klar, dass Paul bereits das Schutzgebiet verlassen hatte und dass er sich für den rückständigen Lohn durch Mitnahme meines Zeiss-Feldstechers entschädigt hatte. Man sieht, dass diese Dinge auch bei den Chinesen geschätzte und begehrte Objekte waren. Den Abend des 21. August 1914 verbrachten wir sehr angeregt in der Unteroffiziersmesse, wobei eine Menge Schnäpse und Bier verkonsumiert wurden, als ob wir geahnt hätten, dass wir diese Räume für längere Zeit nicht sehen würden. Es war ein Abschied – für manche unter uns für immer!
 

Anmerkungen

1. Im Folgenden werden mehrfach Sachverhalte/Meinungen aus dem ersten Teil wiederholt. Der Redakteur hat auf Streichungen verzichtet, um den Lesefluss nicht unnötig zu unterbrechen.

2. Das Hauptproblem der Seefront-Artillerie war die zu geringe Reichweite der Geschütze.

3. Auf dem Iltisberg waren aber auch zwei Batterien installiert.

4. Bei der Summenbildung hat der Autor die Matrosenartillerie-Abteilung, die Stäbe und Depots usw. eingerechnet.

5. Der Autor nimmt hier Bezug auf die zum Frieden von Shimonoseki (1895) führenden diplomatischen Aktivitäten.

6. Ob jemand freiwillig oder gezwungenermaßen in Tsingtau »diente«, lässt sich wegen des Verlustes des Großteils der Marine-Akten nur noch in Ausnahmefällen ermitteln.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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