Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

StartseiteAugenzeugenberichte → Fischer (Erich)


»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 3: »Im Vorgelände« (Tsingtau 1914)
 

Hinweise des Redakteurs

Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden dritten Teil berichtet der Autor von seinen Kriegserlebnissen bis Ende September 1914.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
    1. Beziehen der Stellung
    2. Schantungtou
    3. »Vorrede« [Zwischenbemerkung]
    4. Tsangkou
    5. Hsiaho, Yüntschiashiaho, Liutschiahankotschuang
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)

 

a) Beziehen der Stellung

Der nächste Tag, der 22. August 1914, war ein kritischer Tag erster Ordnung, nicht etwa wegen des am Vorabend genossenen Alkohols, der nach dem Zapfenstreich noch auf unserer Unteroffiziersstube in Form von warmen Whiskey-Soda reichlich geflossen war, sondern weil es der letzte Tag sein sollte, ehe die Feinseligkeiten mit Japan eröffnet werden konnten. Am 23. August 1914 lief ja das Ultimatum ab, das die japanische Regierung der deutschen gestellt hatte!
Am Morgen deutete noch nichts auf ein besonderes Ereignis. Die Reservisten bekamen einen kleinen Schliff auf unserem steinigen Kasernenhof, und für den Nachmittag war Löhnungsappell angesetzt, also ein Dienst, zu dem die Seesoldaten nicht ungern kamen, wenn auch der Feldwebel die heilige Handlung des Geldausteilens durch Mitteilungen unangenehmer Art, wie Bekanntgabe von Strafexerzieren, zu stören pflegte. Wir Einjährigen wurden im Frieden schamhaft übergangen, wenn der Mann mit den klingenden Dollars die Front entlang ging. Anders jetzt im Kriege, da alle Privilegien gefallen sein sollten, die aus Geburt und Erziehung herrührten; jetzt waren wir keine Einjährigen mehr, sondern Soldaten und Gefreite, die ein Anrecht auf Löhnung und Verpflegung hatten und dafür die schwarz-weiß-roten Schnüre um die Achselklappen ablegen mussten. Dieser Löhnungsappell wurde gestört durch einen aufgeregt herbeieilenden Sergeanten vom Bataillon, der eine kurze Zwiesprache mit dem Feldwebel hatte: »In 20 Minuten steht die Kompagnie feldmarschmäßig auf dem Kasernenhof! Abrücken ins Vorgelände! Weggetreten!« war das Ergebnis.
Wenn wir auch auf diesen Augenblick vorbereitet waren, so musste doch in diesen 20 Minuten noch manches erledigt werden, und auf Gängen und Stuben war ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, das sich schließlich in die zweigliedrige Front mit Gewehr, Munition und Tornister bepackter Soldaten auflöste.

Nächstes Marschziel war der Schießstand, etwa 5 Kilometer entfernt vor dem Haupthindernis am Meer gelegen. Es war ein schwüler Nachmittag, und Tornister und Gewehr lasteten schwer auf uns. Von dem Kaffee, mit dem noch jeder in der Kantine seine Feldflasche gefüllt hatte, war daher schon nach der ersten Stunde bei den wenigsten noch etwas vorhanden. Ich hatte im Allgemeinen beim Marschieren nur ein geringes Trinkbedürfnis und gelernt, meine Portion so einzuteilen, dass ich fast immer auskam. Nur einmal, erinnere ich mich, hätte ich beinahe »schlapp gemacht«! Wir waren bei einer Gluthitze stundenlang im Gelände umhergehetzt worden und waren zu einer Zeit, nämlich um 10 Uhr morgens, als wir längst in der Kaserne hätten sein müssen, noch gut 10 Kilometer von ihr entfernt. Wir hatten nichts mehr zu trinken, aber der Schweiß floss aus allen Poren. Einer nach dem andern blieb zurück, von Marschordung war keine Rede mehr, und plötzlich fing auch ich an zu frieren, und zwar trotz der Gluthitze, weil die Wasserverdunstung des Körpers zu schnell vor sich ging. Wie man in großer Wärme eine Flasche kühlen kann, wenn man sie mit einem feuchten Tuch umwickelt und dem Winde aussetzt, so hat die nasse Uniform den Körper umgeben. Wahrscheinlich wäre auch ich damals nicht mehr weit gekommen, wenn nicht in jenem Augenblick der aus Tsingtau herbeigerufene Kaffeewagen erschienen wäre und der Nachschub an Flüssigkeit den gestörten Verdunstungsprozess wieder in Ordnung gebracht hätte. Es war übrigens das letzte Mal, dass wir im Sommer nach 10 Uhr einrückten, da ein paar Leute umfielen und ins Lazarett eingeliefert wurden.

Jedenfalls war uns willkommen, dass am Schießstand »Halt« befohlen wurde; denn wir sollten hier unserm Detachementsführer vorgestellt werden, da wir, durch eine Batterie der Feldartillerie und zwei Maschinengewehre auf Mauleseln inzwischen verstärkt, nun eine kleine Abteilung geworden waren. Auf einem Schimmel sprengte der Major [Anders] heran, ein alter Südwestafrikaner, und suchte durch eine zündende Ansprache den bei manchem unter der Last des Tornisters stark gesunkenen Kampfesmut zu befeuern. Er betrachte als eine hohe Ehre, dass er unsere Abteilung dem Feinde – und das sei von morgen ab der Japaner! – entgegenführen dürfe, und wir sollten uns der Ehre würdig erweisen, dass wir diesen Feind an den Grenzen des Schutzgebietes als erste empfangen dürften. Unser nächstes Ziel sei das 10 km entfernte Schantungtou, das wir gegen japanische Landungsversuche zu sichern hätten.

Weiter ging es gegen 5 Uhr auf ausgefahrener Straße am Meere entlang, bergauf, bergab, teils im Sande, teils auf steinigem Grund. Es war ein typischer chinesischer Verbindungsweg zwischen zwei Dörfern, ein Weg, der seit Jahrhunderten nicht ausgebessert worden ist, sondern sich gewissermaßen von selbst festfährt, wenn die Chinesen ihn mit ihren meist einräderigen Karren benützen.
Auf diesem Weg schlurften wir also dahin, als Geschützdonner unsere Aufmerksamkeit dem Meere zulenkte: Unser Torpedoboot S 90 war in einen Kampf verwickelt, und zwar, wie wir später hörten, mit dem englischen Torpedobootszerstörer Kennet. Rechts und links von unserm kleinen Boot stiegen die Fontänen einschlagender Granaten auf, ohne dass es einen Treffer erhielt; der Engländer dagegen soll laut Zeitungsnachrichten einen Treffer bekommen haben. Wie dem auch sei, nach einer Viertelstunde brach die Kennet das Gefecht ab und dampfte der hohen See zu.

Wir waren also Zeugen der ersten Kampfhandlung gewesen, die sich gegen die deutsche Kolonie im Fernen Osten richtete. Aber wenn auch dieses Intermezzo ein wenig von den Strapazen des Marsches ablenkte, so musste doch immer wieder Halt gemacht werden, um die keuchenden Nachzügler aufrücken zu lassen. Schließlich wurden im nächsten Dorf, in Tamaitou, Chinesen mit Karren requiriert, das Gepäck wurde aufgeladen, und nun ging es besser. Aber man sieht, mit welchen Schwierigkeiten die untrainierte Truppe in dieser Gegend zu kämpfen hatte und wie ihr Kampfwert gegenüber dem Heere einzuschätzen ist, das die Japaner gegen uns einsetzen konnten.
Langsam versank die Umwelt ins Dunkel der Nacht. Steil ragten die kahlen Felsen der Prinz-Heinrich-Berge , an denen wir entlang marschierten, als Silhouetten in den Sternenhimmel, und endlich gegen acht Uhr kamen wir an unserm Marschziel an.
 

b) »In Schantungtou«

Das Dorf und die Gegend waren auch uns, der aktiven Truppe, völlig unbekannt, da unsere Felddienstübungen immer unter der Annahme vor sich gingen, dass wir Tsingtau von der Landseite her zu verteidigen hätten; an die Notwendigkeit, auch die Küste zu sichern, hatte bei unserer Ausbildung kaum jemand gedacht. Wir tappten daher recht im Düstern und waren froh, als wir einen Platz für die Nacht am Westausgang des Dorfes auf der Tenne gefunden hatten, die uns als Quartier zugewiesen worden war. Stroh wurde requiriert, und bald erschienen die ersten Chinesen und boten grünen Tee, d.h. heißes Wasser an. Freilich, die von der Deutsch-Asiatischen Bank im Schutzgebiet ausgegebenen Nickelstücke von 5 und 10 Cents nahmen sie als Zahlung nur ungern, und noch schwerer war es damals schon, die von dieser Bank ausgegebenen Dollarscheine wechseln zu lassen. Umso beliebter waren bei den Chinesen die an der ganzen Ostküste als Zahlungsmittel geltenden harten Mexikaner-Dollarstücke, die aus reinem Silber geprägt waren und den jeweiligen Kurswert des Silbers repräsentierten. Sie waren von den Spaniern und Portugiesen als erste Münze in China eingeführt worden und haben viel in der Größe eines Fünfmarkstücks und mit dem mexikanischen Adler als Prägung, also von den Kolonien komnend, durch Jahrhunderte erhalten.
Selbstverständlich waren viele Falsikate im Umlauf. Wir pflegten ihre Echtheit am Klang zu prüfen, indem wir ein Dollarstück auf dem Zeigefinger balancierten und mit einem zweiten leicht dagegen klopften. Wenn das Geldstück nicht ein leises, feines Klingen ertönen ließ, war es sicher nicht echt. Also die Chinesen waren damals schon auf unsere Dollarstücke, deren Wert je nach dem Silberkurs zwischen Reichsmark 1,50 und 2,40 schwankte, besonders erpicht und lehnten Nickelgeld und Papier ab – in weiser Voraussicht der kommenden Dinge. Man sieht, wie schnell sich die Gestaltung der politischen Verhältnisse schon auf das kleine Chinesendorf auswirkte, das keine Verbindung durch Telefon oder Rundfunk mit der Umwelt hatte. An jenem Abend machten die Chinesen sicher ein besonders gutes Geschäft; denn wir hatten Durst und waren zu müde, um lange zu handeln. Wer nicht zum Wachestehen eingeteilt war, warf sich aufs Stroh, zog der Moskitos wegen Mantel oder Zeltbahn über sich und versuchte zuschlafen.

Eine strahlende Sonne grüßte uns am Morgen des 23. August, als wir gegen halb 6 Uhr unter unsern Zeltbahnen und Mänteln hervorkrochen, und ließ das kleine, schmutzige Chinesendorf im schönsten Lichte erscheinen. Um uns war eine »Preller'sche Landschaft«, wie sie einmal irgendein Kriegskamerad genannt hat; er wollte damit die Ähnlichkeit mit der griechischen Landschaft andeuten, die Preller so oft zum Vorwurf für seine Wand- und Monumentalgemälde genommen hatte. In der Tat: Vor uns, beinahe über uns lagen die steil aufragenden Prinz-Heinrich-Berge, kahle, zackige Felsriesen, von denen der Regen jede Krume fruchtbarer Erde abgespült zu haben schien. Weiter rechts stieg aus der Ebene die Kuppe des Kaiserstuhls empor, der man in Erinnerung an den badischen Vulkanberg diesen Namen gegeben hatte; denn auch die Hänge dieses im Fernen Osten gelegenen Kaiserstuhls bedeckten terrassenförmig angelegte, fruchtbare Felder, und auf der Höhe hatte man mit gutem Erfolg eine Aufforstung durchgeführt. Im Osten aber grüßten die Konturen der zerrissenen Berge des Lauschangebirges, das steil aus dem Meer emporsteigt und mit dem mehr als 1100 m hohen Lauting die eigentliche Grenze des Schutzgebietes bildete. Hinter uns aber rauschte, durch einen Hügel unsern Blicken entzogen, das ewige Meer, und über uns wölbte sich der Himmel in jener Bläue, die man nur da findet, wo die Luft nicht durch den Dunst der Kontinente getrübt ist.

So malerisch haben wir jedoch an jenem Morgen die Landschaft kaum empfunden, da uns sogleich der Dienst, d.h. die Sorge für den Alltag, in Anspruch nahm. Ein Zug der Kompagnie wurde weiter östlich nach dem Dörfchen Schylaujen abkommandiert, um die Sicherung der dortigen Bucht zu übernehmen, und wir, die Zurückbleibenden, hatten uns einzurichten. Zunächst wurde der Rastplatz von der Tenne in das fast völlig trockene Flussbett verlegt, etwa drei Minuten oberhalb des Dorfes, von dem uns ein gewisser Abstand aus verschiedenen Gründen angebracht erschien. Den Chinesen war es zwar streng verboten, das Lager zu betreten; sie kamen aber doch immer wieder angeschlichen, um Geschäfte zu machen, brachten Obst, Tsingtau-Bier oder den alkoholfreien Iltisbrunnen, ein in der Nähe gewonnenes Mineralwasser. Schließlich wurde dieser »schwarze Markt« dadurch unterbunden, dass ein Chinese die Erlaubnis bekam, am Lagereingang eine Kantine aufzumachen, wo es dem Soldaten unentbehrlich Erscheinendes zu kontrollierten Preisen gab und sogar Wäsche zum Reinigen angenommen wurde. Als Behausung dienten uns zunächst die nach der Dienstvorschrift zusammengesetzten und angepflockten Zeltbahnen, die jedoch am Morgen immer wieder abgebaut werden mussten. Schon bald wurde daher zum Schutz gegen die Sonne ein Bambusgerüst errichtet, das mit Strohmatten verkleidet wurde. Es war ein idealer Aufenthaltsraum – solange es schönes Wetter war. Die Mannschaften lagen korporalschaftsweise nebeneinander, um im Alarmfalle möglichst schnell bereit zu sein.

Die Korporalschaftsführer, zu denen auch ich gehörte, hatten ein geplagtes Dasein, denn Ruhe, nach der man sich ab und zu sehnte, gab es für sie kaum. Da war nämlich keine Feldküche, bei der man, mit dem Kochgeschirr in der Hand, zur festgesetzten Zeit antreten konnte; nein, der Proviant wurde einzeln ausgegeben, und jede Korporalschaft bildete eine Kochgemeinschaft für sich. Es kam also sehr auf die Geschickliclkeit der einzelnen an, ob die Verpflegung etwas »taugte« oder nicht, und jeder wurde zu einem besonderen Dienst eingeteilt. Die Kochstelle musste gebaut, Wasser geholt und Holz zur Feuerung besorgt werden – eine Aufgabe, die besonders schwierig war, weil die unbarmherzig unter dem Seitengewehr fallenden Akazienbäumchen oder Kiefern kein sehr gutes Brennmaterial abgaben. Unser Verpflegungssystem war auch nicht soweit fortgeschritten wie bei den an Übersee-Expeditionen gewöhnten Engländern und selbst bei den Japanern. Zwar spielte die Konserve draußen in der Kolonie eine größere Rolle als in der Heimat, wo die Hausfrau die Konserve noch mit einem gewissen Misstrauen betrachtete; aber an eine praktische Zusammenstellung von Konservenmahlzeiten für die Truppe hatte niemand gedacht. Meist stammten die Konserven garnicht aus Deutschland: Wir hatten z.B. Corned-beef aus den Vereinigten Staaten, Butter aus Australien, Büchsenmilch aus England, weil die einheimische Industrie sich mit der Produktion solcher Nahrungsmittel nicht befasste – wir hatten ja in frischem Zustande, was wir brauchten.

So wurde der Korporalschaftsführer immer wieder zum Empfang von Proviant gerufen, den ein Eselsgepann im Kompagniewagen auf holperigen Wegen heranbrachte: Mal gab es Zucker, dann Kaffee, mal Salz, dann Erbswurst, schließlich Fleisch, Brot, Gemüse, Butter und dergleichen. Und jedesmal musste mit dem Fourier gefeilscht werden, damit möglichst viel herausgeholt wurde. Da man auch noch aufpassen musste, dass alles richtig verteilt wurde, war es ein unangenehmes und undankbares Geschäft.
Auch für den Gesundheitszustand der Leute war der Korporalschaftsführer verantwortlich, und täglich musste er dem Unterarzt melden, der uns begleitete. Zunächst war es »dudse buchau«, die unter Umständen die Ruhr herbeiführende Magen- oder Darmverstimmung, die den Arzt besonders interessierte. Obwohl wir manche der in den Tropen ratsamen Vorsichtsmaßnahmen unterließen, z.B. rohes Obst essen, blieb die Zahl der an der Ruhr Erkrankten verhältnismäßig gering. Dafür gab es einige Spezialleiden, für die die Sanitäter zuständig waren, so den sogenannten »Roten Hund«, eine unangenehm juckende, starke Rötung der Haut, die durch Baden in dem stark salzhaltigen Meerwasser hervorgerufen wurde, aus welchem Grunde wir trotz des herrlichen Sandstrandes nicht baden durften. Oder der sogenannte »Ringwurm«, eine Hautentzündung, die atollähnliche Gebilde erzeugte und von irgendwelchen im Boden vorkommenden Tierlein stammte. Jedoch diese »Leiden« machten nicht lazarettreif und ließen sich mit Puder und Jod beseitigen.

Dies alles waren nur nebensächliche Beschäftigungen, denn unsere Hauptaufgabe bestand in der Sicherung der Bucht gegen eine beabsichtigte Landung der Japaner, wie der Detachementsführer am Vortage ausgeführt hatte. Zwei buchtartige Einschnitte boten auf der Seeseite zwischen Tsingtau und dem Lauschangebirge innerhalb des Schutzgebietes die Möglichkeit, Truppen über sandigen Strand an Land zu bringen: die Bucht von Schatsykou am Fuße des Lauschan, wo im ferneren Verlaufe des Kampfes tatsächlich eine Landung stattfand, und die Bucht von Schantungtou, deren Verteidigung uns übertragen war.

Wachtdienst war wiederum die Parole: Da war zunächst die Lagerwache, die für Ordnung und Sauberkeit in unserer Unterkunft zu sorgen hatte; dann die Gräberhainwache, die von einem dem Dorf vorgelagerten Hügel aus das Meer zu überwachen hatte und wo man es sich auf den kegelförmigen Gräbern unter Obstbäumen gemütlich machen konnte; endlich die Wegewache an der Straße nach Tsingtau.
Es war kein starres System, nach dem die Wachen aufgestellt wurden; die Anordnung richtete sich vielmehr nach dem Wetter und der mehr oder minder drohenden Landungsgefahr, aber auch nach dem plötzlichen Einfall eines Offiziers, der bei nächtlichem Patrouillengang eine besonders gefährdete Stellung eingesehen und entdeckt zu haben glaubte. Mit dem längeren Aufenthalt an der Bucht wurde das Wachtsystem so verfeinert, dass kaum ein Japaner unentdeckt hätte an Land gelangen können, denn es handelte sich nicht nur darum, einen größeren Landungsversuch abzuwehren, sondern auch das Anlandsetzen von Spionen zu verhindern.

Schließlich musste aber auch die Abwehr eines solchen Landungsversuches geübt werden, und das ging so vor sich, dass wir zunächst auf dem Gräberhügel Stellung besetzten. Von hier aus mussten wir uns durch Kauliang- und Hirsefelder ungefähr 1200 m, zum Schluss durch Schlick und Morast vorarbeiten – »vorrobben« sagt man wohl heute! –, um die mit ihren Booten an Land rudernden – den Bordmotor gab es glücklicherweise damals noch nicht! – Japaner mit einem Geschosshagel zu empfangen. Die Übermacht ist jedoch zu groß, und drum heißt es gruppenweise »Zurück marsch, marsch!« Die Sonne brannte uns auf dem Buckel, und der Schweiß rann in Strömen von Nacken und Armen, bis endlich am Nordausgang der Schantungtou-Bucht die Übung abgeblasen und Kritik geübt wurde. Eine solche Kritik endete regelmäßig in einer Schilderung unseres Rückzugsweges für den Fall einer Einschließung Tsingtaus von Land her. Da unser Kompagnieführer als Soldat weder über eine blumen- noch abwechslungsreiche Sprache verfügte, beschäftigte sich bald der Soldatenhumor mit diesen stereotypen Reden und erschloss so eine Quelle nie versiegender Späße und Witze zu einem Thema, das unserer Führung ernst genug sein musste.

Kleine Erlebnisse besonderer Art sind es, die aus jenen Tagen herrlichsten Sonnenwetters in der Erinnerung geblieben sind.

Am 23. August hatte E. Geburtstag: Wie mochte es wohl in der Heimat aussehen? Wir waren ja durch einen mehr als 40 jährigen Frieden des Krieges »entwöhnt« und hatten nur aus den Erzählungen der Großväter und Väter einen vagen Begriff davon, wie sich ein großes Volk zu dem gewaltigen Ereignis einstellen könnte, das ein Krieg bedeutete. Die Männer meldeten sich zu den Waffen, soweit sie nicht bereits eingezogen waren und die Frauen – zupften »Scharpie«, das waren so die Vorstellungen, die wir uns in unserer Jugend von einem Kriege gemacht hatten. Mit blumenbekränzten Helmen zogen die Sodaten hinaus von Sieg zu Sieg, in heldenhaftem Kampf fand dieser oder jener den Tod, bis unter dem Jubel der Bevölkerung das siegreiche Heer wieder durchs Brandenburger Tor einzog.
So hatten wir in den Schulbüchern gelesen; aber wir wussten, dass die Gegenwart anders aussah, da wir nicht gegen einen einzigen Feind zu kämpfen hatten, sondern Feinde ringsum gegen Deutschland stürmten. Wir wussten auch, dass die militärischen und wirtschaftlichen Kräfte unseres österreichischen Bundesgenossen nicht sehr hoch einzuschätzen waren. Wie jedoch die Lage in Wirklichkeit war, konnten wir nur ahnen und uns je nach Begabung und Phantasie vorstellen. Kein Wunder, dass auf uns ob dieser Ungewissheit ein Druck lag, den auch die dann und wann eintreffenden Meldungen über Siege im Westen nicht mildern konnten.

Dass die Heimat uns in ihren großen Sorgen nicht vergessen hatte, bezeugte eine Depesche, die uns am 24. August verlesen wurde und folgenden Wortlaut hatte: »Gott mit Euch in schweren bevorstehenden Kämpfen! Ich gedenke Euer. Wilhelm I.R.«, worauf unser Gouverneur Meyer-Waldeck kurz und bündig antwortete: »Einstehe für Pflichterfüllung bis aufs äußerste!«
Am Nachmittag machte uns in einem Feldgottesdienst unser Garnisonspfarrer [Winter] klar, dass der liebe Gott nicht nur ebenfalls unsere Pflichterfüllung wünsche, sondern auch, dass er uns in diesem Kampf unterstützen werde. Leider scheint aber der liebe Gott nach dem Grundsatz von den stärksten Bataillonen dieses Versprechen auch den Japanern gegeben zu haben; vielleicht war er böse mit uns, weil nicht alle mit dem Herzen dabei waren, als die Protestanten auf dienstlichen Befehl das Abendmahl nehmen mussten.
Wie dem auch sei: Bei einem anschließenden Alarm streiften wir schnell Melancholie und Sentimentalität ab, und erst in der Nacht begannen wir, über Recht und Unrecht des Gewissenszwanges, über religiöse und kirchliche Anschauungen zu diskutieren, als ich mit einigen Reservisten auf Gräberwache kam. Es war eine herrliche, sternenklare Nacht, und eine kühle Brise von See her vertrieb die sonst so lästigen Moskitos. Vor uns lag das weite Meer und warf im ewigen Gleichklang der Jahrtausende Welle um Welle auf den Sand. Das Auge hatte sich allmählich daran gewöhnt, die dunklen Punkte im glitzernden Wasser als das zu erkennen, was sie wirklich waren, nämlich als Felsenriffe und verlagerte Inselchen statt als feindliche Schiffe, wofür wir sie argwöhnisch zunächst hielten.

Am Morgen kam die alarmierte Kompagnie angestürmt, als wir uns gerade zum Abrücken fertig machten, und besetzte die Stellungen, weil das Hernnahen eines japanischen Geschwaders gemeldet worden war. In der Tat erschienen ein großer und drei kleine Kreuzer sowie vier Torpedobootszerstörer und umkreisten und beschossen zwei kleine Inseln, die nach ihrer äußeren Gestalt der »große« und der »kleine Heuhaufen« genannt wurden. Geschützfeuer blitzte auf, Granate auf Granate schlug rechts und links von den Inseln ein. Fast eine Minute brauchte der Schall, bis er als Kanonendonner in unsere Ohren drang. Es konnte sich nur um eine Demonstration handeln, wenn die Japaner soviel Munition auf die Beschießung der 18 km von Tsingtau entfernten, unbefestigten Inseln verschwendeten.
Wirklich wurde, wie wir später hörten, gleichzeitig gefunkt, dass die Blockade über Tsingtau verhängt sei und dass alle Fremden die Stadt sofort zu verlassen hätten. Besonders galt diese Mahnung den Konsuln der Vereinigten Staaten und Österreichs, für deren Sicherheit nicht mehr garantiert werden könnte. Der amerikanische Vertreter war in der letzten Zeit der Mittelpunkt zahlreicher Gerüchte gewesen: Einmal sollte er im Namen der Vereinigten Staaten gegen die unvermeidliche Verletzung der chinesischen Neutralität durch die Japaner protestiert haben, dann wieder sollte das Deutsche Reich die Schantung-Eisenbahn den Amerikanern verkauft, schließlich ihnen ganz Tsingtau abgetreten haben – coast talk!

Das Schauspiel der Beschießung dauerte ungefähr eine Stunde, dann zogen die Schiffe wieder ab und wir mit ihnen. Aber von dieser Zeit an sahen wir täglich eine Anzahl von Zerstörern oder auch Kreuzern außer Reichweite unserer Geschütze vorbeiziehen. Es war immerhin ein merkwürdiges Gefühl, sich vorzustellen, es könnte einem solchen Geschwader einfallen, seine Breitseiten auf das friedliche Dörfchen Schantungtou abzufeuern, an dessen Rand wir unsere Zelte aufgeschlagen hatten.
Aber alles blieb ruhig in unserer Nähe; nur die Huitschuenhuk-Batterie feuerte am Nachmittag des 28. August zum ersten Mal auf minensuchende japanische Zerstörer und am nächsten Morgen auf das Kap Jäschke auf der anderen Seite der Bucht, wo man irrtümlicher Weise eine Besetzung durch den Feind angenommen hatte.

Das Wetter spielt bei der Kriegführung bekanntlich eine große Rolle, da sich die meisten kriegerischen Ereignisse unter freiem Himmel abzuspielen pflegen und der Mensch sich zwar in einem gewissen Umfang gegen die Naturgewalten zu schützen weiß, sie aber nicht zu bändigen vermag. Bisher war das Wetter unserm Unternehmen – und damit auch dem des Feindes – sehr günstig gewesen: Am Tage schien die Sonne manchmal zu warm vom meist wolkenlosen Himmel, es war trocken und unter den Strohmatten gut auszuhalten. In den Nächten war es kühl, wenn auch Myriaden von Moskitos unsere Lagerstätten anflogen und uns quälten.
Am Nacnmittag des 30. August aber sah es aus, als ob das Wetter sich ändern wollte. Ein Sturm setzte ein und drohte unser Mattendach in die Luft zu tragen; er war der Vorläufer eines ebenso heftigen wie kurzen Gewitterregens, der schnell die Gegend um uns unter Wasser setzte. Mit unsern Zeltbahnen suchten wir die durch die Strohmatten strömenden Wasserbäche in die Gräben abzulenken, die vorschriftsmäßig um das Lager gezogen waren. Mit Besorgnis wurden wir uns der Folgen klar, die eine Schlechtwetterperiode von längerer Dauer für uns haben musste; dass diese Folgen allerdings so katastrophal sein würden, wie wir sie bald erleben sollten, ahnten wir umso weniger, als gegen Abend die Sonne wieder schien.

Wir hatten mit einem Halbzug am Abend eine neue Wachtstellung zu beziehen, die auf dem Wege von Schantungtou nach Schylaujen lag, einem Dörfchen, das der erste Zug unserer Kompagnie besetzt hielt. Dort war etwa auf halben Weg ein Felsen, der steil ins Meer abfiel und vom Lande her über Terrassen erreicht werden konnte, auf denen die Chinesen Kauliang und Süßkartoffeln angepflanzt hatten. Dort kletterten wir hoch, immer wieder in den Ranken der Süßkartoffeln hängen bleibend, und schlugen auf dem Plateau unsere Zelte auf, d.h. wir machten es uns so bequem als möglich. Eine herrliche Aussicht belohnte die Mühen des Marsches und Aufstieges: Vor uns lag in der Abenddämmerung das weite, mit weißen Schaumkronen durchsetzte Meer, in den rötlichen Abendhimmel ragten die Zacken der Prinz-Heinrich-Berge, den Kaiserstuhl hüllte ein violettes Dunkel ein, in den Niederungen blitzten die Lichter der Chinesendörfer auf. Von Ferne aber grüßte das Wahrzeichen von Schylaujen, der »alte Mann«, ein aufrecht aus dem Meer gewachsener Fels, dem seit Jahrtausenden anbrandende Wogen die Form eines Greisenkopfes gegeben hatten.

Ich wurde als Wachthabender mit vier Leuten ungefähr 400 m von der eigentlichen Wache entfernt postiert an einer Ausbuchtung des Plateaus, das dort steil zum Strande abfiel. Mit dem Spaten wurde eine kleine Gewehrauflage gemacht, eine Mulde in der durchweichten Erde mit Ranken der Süßkartoffel ausgelegt, obendrauf kam noch eine Strohmatte: fertig war das Lager für die Nacht!
Man hatte uns eingeschärft, dass wir in dieser Nacht besonders gut aufpassen sollten, weil auf irgendwelchen geheimnisvollen Wegen die Nachricht gekommen sein sollte, dass aus gewissen Bewegungen der Japaner auf einen Überfall geschlossen werden musste. Es war inzwischen stockdunkel geworden, als es auf einmal gegen 10 nachts an allen Ecken und Enden des Meeres aufzublitzen begann, als ob Scheinwerfersignale gesendet werden würden.
Gleichzeitig erschienen an Land ab und zu Lichter, wie wenn man versuchte, nach See hin Zeichen zu geben. Den Chinesen war es streng verboten worden, nach Einbruch der Dunkelheit ihre Dörfer zu verlassen oder Licht zu zeigen, da die deutschen Soldaten angewiesen waren, auf jeden Verdächtigen sofort zu schießen. Was konnte es also sein? Die Phantasie war natürlich angeregt durch im Laufe des Tages erzählte Gerüchte, im Schutzgebiet seien massenhaft japanische Spione erschienen und ein Japaner sei erschossen worden, weil er versucht haben sollte, das Wasserwerk in Litsun zu zerstören. Diese Gerüchte waren schließlich die Veranlassung, dass von der Wache auf die Lichter geschossen wurde, die, wie wir uns einbildeten, auch verschwanden, aber immer wieder erschienen. Es ist auch durch spätere nächtliche Patrouillen nicht aufgeklärt worden, woher diese in der Gegend umherirrenden Lichter stammten.
Die Lichtsignale auf See dagegen erwiesen sich als ein tüchtiges Gewitter. Es regnete, nein,es goss in Strömen, eine Wasserflut stürzte hernieder, wie ich sie kaum erlebt hatte. Wir standen da und suchten uns mit der Zeltbahn zu schützen, die wir auf jeder Wache, um unsern Körper geschlungen, trugen. Die Strohmatte über dem Kopf sollte den Regen abhalten, aber sie war nur kurze Zeit dicht. Erst suchte man wenigstens noch sein Gewehr trocken zu halten; aber als man erst am ganzen Körper triefnass war und das Wasser in den Stiefeln stand, war alles gleichgültig: Man ließ den Regen eben Regen sein und ergab sich in sein Schicksal. Der Himmel war von blauen Blitzen erhellt, und unaufhörlich rollte der Donner, der das Tosen des aufgewühlten Meeres zu unsern Füßen übertönte.

Aber auch die Naturgewalten erschöpfen sich, und um Mitternacht war das Gewitter in einen hartnäckigen Landregen übergegangen. Es war so finster geworden, dass man buchstäblich nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Umso schärfer war das Ohr gespannt, obwohl jede Besorgnis grundlos sein musste, dass in dieser Nacht eine Landung versucht [werden] könnte. Wie musste das Meer draußen tosen, da wir die Wellen weit ins Land hineinschlagen hörten!
Immer noch nicht waren die Lichter an Land verschwunden, und von Zeit zu Zeit wurde ein Schuss abgefeuert, um dahinter zu kommen, welchen geheimnisvollen Ursprung diese Lichter haben könnten. Und es regnete, regnete, regnete, wie Bernhard Kellermann in seinem Erstlingsroman »Yester und Li« schrieb!

Mit Sehnsucht im Herzen und Kälte in den Gliedern, mit den Füßen hin- und hertretend, erwarteten wir daher das Morgengrauen, um in unser Lager nach Schantungtou abmarschieren zu können. Halb rutschten wir, halb stiegen wir mit unsern vom Dreck beschwerten Stiefeln den Hügel hinab, blieben in den Ranken der Süßkartoffeln hängen und waren froh, als wir nach einer Viertelstunde »festen« Boden unter den Füßen hatten. Da wir bis auf die Haut durchnässt waren, machte uns der feine Regen, der immer noch herniederträufelte, nichts aus. Im Gegenteil, Humor und gute Laune brachen durch, wie es immer ist, wenn der Soldat und der Mensch überhaupt eine tatsächliche oder eingebildete Leistung auf körperlichem oder seelischem Gebiet hinter sich gebracht zu haben glaubt.
Aber unsere gute Laune konnte uns doch vergehen, als unser Weg auf einmal durch ein reißendes Flüsschen versperrt wurde, das es offenbar sehr eilig hatte, seine Wasser dem nahen Meere zuzuschicken. Am Vorabend waren wir trockenen Fußes durch das Flussbett gewandert, von dem wir nie geglaubt hätten, dass es jemals voll Wasser sein würde; aber nun floss da ein zwar schmutzig-gelber, aber doch sehr munterer Strom. Ins Flussbett hatte man oft Steine eingelassen, um das Einsinken von Wagen zu verhindern, da sich der Bau von Brücken wegen ein paar Regentagen nicht rentieren würde. Aber hier gab es nicht einmal diese, und da wir weder warten konnten, bis die Wasser sich verlaufen hatten noch einen Moses besaßen, der dem Wasser Halt geboten hätte, mussten wir eben hindurch.
Erst ging es ganz gut; besonders freute ich mich der extra hohen Stiefel, die mir der Chinesenschuster für Dollars 18.– nach Maß gemacht hatte. Es war schönes, braunes, weiches Leder, und die Stiefel passten wie angegossen. Aber, um es gleich zu sagen, dem Dreck und der Nässe waren sie nicht gewachsen. Die Brandsohle war zu schwach, wie Fachleute feststellten. So gingen die schönen Stiefel bei dieser Gelegenheit hinüber, und ich musste froh sein, dass ich noch ein paar »Knobelbecher« in Reserve hatte, die mich für den Rest des Krieges und in die Gefangenschaft begleiteten.

Auch die höchsten Stiefel nützten nichts, als wir kurz vor unserm Dorf noch an einen richtigen Fluss kamen, bei dessen Durchquerung uns das Wasser bis über die Lenden ging und mancher noch tiefer eintauchte, der nicht ganz fest auf den Füßen war.
Wie begossene Pudel zogen wir von Osten her in Schantungtou ein, das teilweise überschwemmt war. An eine Rückkehr in unser Lager war nicht zu denken, da wir es auf dem schönen Sand eines Flussbettes aufgeschlagen hatten, und wie ein solches jetzt aussah, hatten wir am eigenen Leib erfahren. Alles war weggeschwemmt worden, und selbst die Bambuspfähle waren ausgerissen, wie wir feststellten, als wir uns am nächsten Tage durch den Nieselregen dorthin wagten, um ein paar in Erdlöchern versteckte Konserven zu holen. Nur Strohhalme an den Weiden erinnerten noch an unsern Lagerplatz.

Es musste also im Dorf selbst Quartier gemacht werden, und zwar bezogen wir mit 25 Mann die nächste Hütte am Dorfrand, eine Chinesen-Fangse, die den Vorteil hatte, ziemlich weit abseits vom Stab der Kompagnie zu liegen. Roh behauene, mit Lehmmörtel zusammengefügte Steine bildeten das Material, aus dem die Hütte und die sie umgebende Mauer bestanden. Den Eingang und den Blick in den Hof verwehrte eine Querwand, an der man sich rechts oder links vorbeischieben musste, wenn man den Hof oder die Hütte betreten wollte. Die bösen Geister1 blieben nämlich draußen, wenn sie sahen, dass die Eingangstüre sozuzusagen von innen verbarrikadiert war. Besonders mieden sie Haus und Hof, wenn reiche Leute diese Wand mit einem Drachen künstlerisch bemalen ließen, da besagter Drache mit Vorliebe böse Geister zum Frühstück oder Abendbrot verzehrte. Man sieht also wieder, dass der Reiche besser daran ist als der Arme, der sich keinen Drachen halten kann.

Auch wir waren, wenn auch nicht in Wirklichkeit, in den Augen der Chinesen böse Geister, aber uns schreckte keine Querwand, und kein Drachen hätte uns vertrieben! Im Gegenteil – mit dem Gewehrkolben wurde eine Bresche in die Wand gestoßen und mit den Steinen zunächst der morastige, stinkende Hof gepflastert. Zwei oder drei Hühner gackerten aufgeregt mit regennassem Gefieder, und schon zogen Großmutter, Mutter und Kind mit ihren sieben Sachen bepackt ab, um in der Nachbarschaft Unterschlupf zu finden. Es waren wirklich nur sieben Sachen, die sie mit sich schleppten, und als wir in die Hütte selbst kamen, einen drei mal fünf Meter großen Raum, war eigentlich nichts darin als Schmutz, unendlicher Schmutz, der sich in Jahren dort abgelagert haben musste. In einer Ecke standen noch ein paar Hirsehalme, in einer andern Kauliang und in einer dritten Ecke lag ein Muschelnetz. Dieses Zeug wurde erst einmal entfernt trotz des Protestes des Hausbesitzers, und dann wurde richtig »Stubendienst« gemacht; aber was sich trotz des gründlichen Ausfegens nicht beseitigen ließ, das war der entsetzliche Gestank, der sich an den Wänden und in den Winkeln festgesetzt hatte.
Es half alles nichts, wir mussten in dem noch immer anhaltendem Regen ein Dach über dem Kopf haben und machten es uns in dem Raum so wohnlich wie nur möglich. Zunächst wurde im Herd ein Feuer angezündet, dessen Qualm die letzten Moskitos vertreiben sollte, und dann zogen wir uns bis auf die Haut aus. Am Herdfeuer und auf dem durch dieses geheizten »Kang«, einer rechteckigen Erhöhung, auf der sommers und winters die ganze Familie schlief, suchten wir unsere Uniformstücke zu trocknen; man kann sich vorstellen, dass bald die ganze Hütte wie eine Sauna dampfte und dass aus dem Trocknen nicht viel wurde. Im Gegenteil: Im Wind und in der Zugluft froren wir bald erbärmlich und waren daher sehr beglückt, als uns die Kompagnie Tee mit Rum schickte. Man mag über den Alkoholgenuss denken, wie man will: In diesem Fall war der Alkohol eine notwendige Medizin, die vorbeugend eine Erkältung verhütet hat.

Inzwischen war bei den Chinesen frisches Stroh requiriert worden. Sie gaben es nicht gerne her, zumal es arme Bauern waren, von denen jeder nur ein kleines Stück Land zur Bearbeitung hatte. Aber wir mussten etwas haben, wohin wir unser müdes Haupt legen konnten und sowurde es doch einigermaßen bequem, nachdem sich auch die Geruchsorgane gegen den Gestank abgestumpft hatten. Die Gewehre wurden gereinigt, und ein Kleidungsstück nach dem andern kam wieder in Benutzung. Mit uns schienen es aber auch die Fliegen gemütlich zu finden, denn sie kamen in Massen und quälten uns den ganzen Tag, bis sie nachts von ihren gefährlicheren Brüdern, den Moskitos, abgelöst wurden. Das schlechte Wetter hielt an, es regnete unaufhörlich, und die Überschwemmung im Dorf und um die Hütten war schlimm. Aber der Wachdienst war wenigstens eingeschränkt worden, da bei dem Toben und Tosen des Meeres, das wir aus der Ferne hören konnten, jeder Landungsversuch ausgeschlossen war. Nur die üblichen Lagerwachen wurden ausgestellt, und ich musste als Wachthabender – das Wachtlokal war unsere »Fangse« – ab und zu die Posten kontrollieren, die bis zu den Knöcheln im Wasser standen und jedesmal völlig durchnässt zurückkamen.

Dass wir von der Außenwelt, d.h. von Tsingtau, abgeschnitten waren, merkten wir aus der immer mangelhafter werdenden Verpflegung. Denn die Eselsfuhrwerke kamen durch die reißenden Bäche nicht mehr hindurch, und im Litsunfluss war ein Gepäckwagen mit seinen zwei Begleitmannschaften und den Mulis ertrunken, wie uns später berichtet wurde. So wussten wir bald nicht mehr, was wir in unserm Tonkessel kochen sollten. Die Chinesen brachten zwar Birnen und Trauben an, Gemüse, das mit unsauberem Wasser frisch gehalten wurde, Süßkartoffeln und Hirse sowie als besondere Leckerei Eier. Aber obwohl wir auf das alles noch eine Flasche Bier setzten – es kam bei der Braterei nicht viel heraus, und wir sehnten uns recht nach den oft geschmähten, schmackhaften Konserven!

Inzwischen war der September herangekommen und die eine oder andere Nachricht vom europäischen Kriegsschauplatz zu uns gedrungen. Es waren aber immer nur Teilmeldungen, aus denen wir uns kein rechtes Bild über die tatsächliche Lage machen konnten oder unsere Schlüsse selbst ziehen mussten. Z.B. von der Goltz war Gouverneur von Belgien geworden – also musste der größte Teil dieses Landes in unserm Besitz sein; bei Allenstein wurden 30.000 Russen gefangen – also wurde auf deutschem Boden im Osten gekämpft; die Türken mobilisierten und Liman Sanders sollte ihr Heerführer werden – also kämpften die Türken auf unserer Seite!
Von den Absichten und Bewegungen der Japaner hörten wir nichts, sahen nur von unserm Dorf aus weit draußen die japanischen Schiffe kreuzen und wussten daher, dass sich die Japaner nicht anders besonnen hatten und dass die Blockade fortbestand.

Am 4. September brach endlich die Sonne wieder durch, und die Wasser verliefen sich allmählich. Proviant kam aus Tsingtau und Material zum Bau einer wetterbeständigen Unterkunft, denn in den Chinesenhütten konnten wir auf die Dauer nicht wohnen bleiben, weil die Ungezieferplage unerträglich und der Zusammenhalt der Truppe zu sehr gelockert wurde. Zu den surrenden Tierlein am Tage und in der Nacht hatte sich nämlich noch jenes blutrünstige Völkchen gesellt, das bei aller Reinlichkeit nicht entfernt werden konnte, weil es platterdings alle Ritzen ausfüllte – die Wanzen! Es gab zwar damals schon Insektenpulver, wenn auch kein DDT; aber an die Beschaffung von »Zacherlin« hatte offenbar unsere Marineverwaltung nicht gedacht. Wer erinnert sich noch dieses Insektenpulvers, das sparsam aus einem Fläschchen mit einem Gummibällchen verstäubt wurde?
Mit viel Eifer gingen wir also an den Bau eines Bambusgerüstes und wählten dazu eine Stelle außerhalb des Dorfes, wo nach unserer Ansicht keine Überschwemmungsgefahr mehr bestand. Wir gruben und sägten, klopften und banden die einzelnen Teile mit Kokosstricken zusammen; Aber noch ehe die von der Schantung-Eisenbahn AG stammende Zeltplane über das Ganze geworfen werden konnte, schüttete der Himmel wie mit Kübeln Wasser auf die Erde. Aus unserm geplanten Umzug wurde nichts, wir mussten die Arbeit aufgeben und noch eine Nacht in den Chinesenhütten zubringen.

Ich hatte Wache und musste mit meinen drei Leuten den östlichen Dorfausgang bewachen. Es regnete ununterbrochen, und wieder durch und durch nass stapften die abgelösten Posten in die Hütte, froh, für 4 Stunden wenigstens ein trockenes Dach über dem Kopf zu haben. Aber unter diesem Dach war der Aufenthalt auch nicht gemütlich, denn die Moskitos wussten auch, wo es trocken war, und surrten umher in dicken Schwärmen; aus den Ritzen krochen die Wanzen, und eine chinesische Ölfunzel qualmte und schwelte dazu!
Gegen Morgen ließ der Regen nach, und während ich ein wenig vor der Hütte Luft schöpfte, ertönte plötzlich von dem 50 Meter entfernt stehenden Posten der Ruf: »Halt, wer da! Halt, wer da! Dang – i dang!« – ein Schuss blitzte auf und peitschte durch die Stille der Morgendämmerung. Unnötig erschien es, die Wache in ihrem unruhigen Schlaf zu alarmieren. Ich rannte allein den aufgeweichten Dorfweg hinunter, auf dem mir schon der Posten entgegenkam. Er habe wohl einen Chinesen erschossen, rief er. In der Tat lag da in einiger Entfernung ein Chinese auf dem Rücken und streckte alle Viere von sich. Am Unterleib war ein kleiner roter Punkt, der langsam sich vergrößernd das schmutzig-weiße Gewand färbte. In der Hand hielt der Chinese noch eine Harke mit einem Körbchen dran – er war tot, mausetot, daran war nicht zu zweifeln! Auch der Arzt, den ich sofort holen ließ, konnte nichts anderes feststellen.
Der Hauptmann kam mit dem Feldwebel und verhörte den Posten, der militärisch korrekt gehandelt hatte, denn den Chinesen war immer wieder eingeschärft worden, vor Sonnenaufgang die Dörfer nicht zu verlassen und auf Anruf sofort stehen zu bleiben. Bald erschien auch der »Dibau«, der Bürgermeister, mit dem unter Assistenz eines Dolmetschers eine Entschädigung für die Familie ausgehandelt wurde. Inmitten eines Haufens jammernder Frauen und Kinder wurde schließlich die Leiche ins Dorf gebracht, aus dem wir noch lange das herzzerreißende Geschrei der Klageweiber hörten.

Das Leben aber ging weiter, und auf demselben Weg, auf dem man den Toten getragen hatte, kam kaum eine Stunde später ein Hochzeitszug daher. Schon von weitem kündigte er sich an durch die für unsere Ohren schwer verträgliche Musik, die festtäglich gekleidete Männer mit Flöten und gitarreähnlichen Instrumenten vollführten. Sie begleiteten eine Sänfte, die auf den Schultern von vier Trägern schaukelte und den in ein prächtiges Seidengewand gehüllten Bräutigam barg. Er sei ein reicher Mann aus der Nachbarschaft, erzählten uns die Chinesen, und hole sich das reichste Mädchen aus dem Dorf. So haben also die Eltern dafür gesorgt, dass Geld zum Gelde kommt!
Das Mädchen selbst, das sehr hübsch sein sollte, haben wir nicht zu Gesicht bekommen, wie überhaupt die Chinesen in den Dörfern ihre jungen Mädchen und Frauen vor den Augen der Soldaten ängstlich zu verbergen pflegten. Im Frieden war es uns streng verboten, Chinesenwohnungen zu betreten, und auch jetzt im Kriege sollten Chinesenhäuser nur im Notfall betreten werden. Leider trat dieser Notfall öfters ein, weil der Chinese sich meist sehr schwerhörig zeigte, wenn wir Holz, Bambus, Stroh oder dergleichen brauchten; es bedurfte dann eines kleinen Hinweises auf den Gewehrkolben, auf das Seitengewehr, vor dem die Chinesen eine Riesenangst hatten, oder gar einer Haussuchung, um die Bestände locker zu machen. Aber immer nur alte Männer oder Frauen kamen zum Vorschein, nie junge Mädchen oder Frauen!

Es waren allerlei Ereignisse, die uns am Morgen des 5. September in Bewegung hielten. Die Sonne schien wieder, und bei unserm guten Frühstück in der »Fangse« waren die Erschießung des Chinesen und der Hochzeitszug unser eifrigstes Gesprächsthema. Als wir dann zu unserm Lagerplatz kamen, um die Arbeit des Vortags fortzusetzen, erlebten wir eine neue Überraschung: In der Nacht waren nämlich die Bambusstöcke wieder aus der Erde gespült und das mühsam errichtete Gestell umgeworfen worden. Der Regen in der Nacht war eben so stark gewesen, dass er ein neues Hochwasser hervorrief, das sich inzwischen verlaufen hatte. Nun wurde ein höher gelegenes Süßkartoffelfeld geräumt, wo wir die Gerüste für zwei Zelte aufschlugen. Die großen Eisenbahnplanen wurden darüber geworfen und am Abend der Umzug bewerkstelligt. Am meisten freute sich hierüber wohl der Feldwebel, der seine Schäflein wieder besser unter Kontrolle hatte und jede Gelegenheit ergriff, um unsere Ruhe zu stören. Es scheint ja überhaupt eine hervorstechende Eigenschaft der Feldwebel zu sein, dass sie zufriedene und ruhende Menschen nicht sehen können!
Wir haben trotzdem manche schöne Stunden unter diesem Zelt verlebt, manchen Skat gedroschen und manche Flasche Tsingtau-Bier getrunken. Ernste und heitere Gespräche wurden geführt, bei denen vor allem die Reservisten von den Erlebnissen auf Reisen und im Geschäft erzählten. Viel Interessantes erfuhr ich von Land und Leuten in China und Japan, Korea und der Mandschurei, und manchmal erschien mir unbedeutend das eigene Leben und Erleben.

Wie es immer ist, wenn der an die zivilisatorischen Errungenschaften unserer Zeit Gewöhnte gezwungen wird, primitiv zu leben: Irgendwo sucht er die entbehrte Zahnbürste, einen Kamm, einen Spiegel aufzutreiben. So hatte sich bald eine Art Botendienst mit Tsingtau eingespielt, der Aufträge auf die Besorgung kleinerer Gegenstände annahm; wer Geld hatte – die meisten von uns hatten es in den benötigten kleinen Mengen! –, konnte sich aus Tsingtau dies oder das kommen lassen. Besonders Tabakerzeugnisse waren begehrt, da es Zuteilungen nicht gab und der chinesische Kaufmann nur die billigen Cigaretten der British-American Tobacco Company (B.A.T.) führte, eines Unternehmens, das seine Erzeugnisse bis in die fernsten Winkel des Reiches der Mitte lieferte und trotz oder wegen seiner ausgedehnten Reklame gute Ware zu niedrigsten Preisen feilbot.
Wir aber bevorzugten die ausgezeichneten Cigaretten von Simon Arzt, Cigarren aus Deutschland und englischen oder amerikanischen Tabak. Rauchen ist nun einmal ein Laster, an das sich fast jeder Soldat gewöhnt; für uns war es eine Notwendigkeit, weil wir uns nur durch das Qualmen am Abend und in der Nacht einigermaßen der Moskitos erwehren konnten. Damals war es auch, dass ich, durch das Beispiel älterer Kameraden angeregt, das Pfeifenrauchen probierte, das mir in den nächsten Jahren eine liebe Gewohnheit wurde und das ich nach einigen Jahren der Unterbrechung später wieder aufgenommen habe.

Für die Geschichte der Belagerung Tsingtaus ist der 5. September insofern bemerkenswert, als an diesem Tage zum ersten Mal ein japanischer Flieger über der Stadt erschien und Bomben warf – Es waren vielleicht die ersten Bomben, die in diesem Krieg vom Flugzeug aus überhaupt abgeworfen wurden, nachdem die Italiener die neue Waffe im Tripoliskrieg [1912] ausprobiert hatten. Von nun an kreuzten die Doppeldecker der Japaner fast täglich über Tsingtau und ließen ihre Bomben auf die den Fliegern wichtig erscheinenden Ziele niederrauschen. Aber man kannte damals noch keine Zieleinrichtungen und war auf das Augenmaß angewiesen. So richteten die Bomben kaum Schaden an und verwundeten in der ganzen Zeit der Belagerung einen Soldaten, während zwei Chinesen das Leben lassen mussten. Es waren offene Wasserflugzeuge, die oft so niedrig flogen, dass wir die Gesichter der Insassen genau erkennen konnten und mehr als einmal versucht waren, das Gewehr zu nehmen und den Flieger zu beschießen. An eine organisierte Flugabwehr dachte damals natürlich noch niemand; nur die leichte Artillerie und die Maschinengewehre versuchten immer wieder ihr Glück, wenn die Japaner zu tief flogen.
Waren die Bomben der Japaner wenig gefährlich, so mussten wir vor den eigenen Geschossen Deckung suchen, da diese Geschosse in ihrer Flugrichtung nicht abzuschätzen waren und oft von allen Seiten des Himmels kamen. Der eigentliche Zweck der japanischen Fliegerei war im übrigen gar nicht das Werfen der Bomben, obwohl man gerne dieses oder jenes Ziel getroffen hätte und die Bomben schon damals recht große Löcher machten, sondern die Aufklärung und später die Lenkung und Kontrolle der Artillerie. Wenn man überlegt, dass bei unsern friedensmäßigen Übungen an die Aufklärung aus der Luft noch gar nicht gedacht wurde, dass der Begriff der Deckung gegen Fliegersicht erst nach dem Erscheinen der japanischen Flieger entstanden ist, wird es klar, dass damals die Aufklärung von der Luft aus trotz mangelnder optischer Instrumente nicht sehr schwierig sein konnte.

Aber auch wir hatten den Japanern auf dem Gebiete der Fliegerei etwas entgegenzusetzen. Schon im Frühjahr 1914 war in Tsingtau gemunkelt worden, dass die Waffenmacht des Schutzgebietes durch zwei Flugzeuge aus der Heimat »verstärkt« werden sollte. In der Tat wurde auf dem Poloplatz ein Schuppen errichtet, der so aussah, als ob er der Aufnahme von Flugzeugen dienen sollte. Im Juni kamen die Teile von zwei Flugzeugen, die in Tsingtau zusammengesetzt werden sollten. Eines davon ging gleich zu Bruch, und als der Krieg ausbrach, stand nur ein Eindecker zur Verfügung, der von dem später bekannt gewordenen Plüschow geflogen wurde. Er hat unter dem Titel »Der Flieger von Tsingtau« ein Buch geschrieben und ist unter diesem Namen berühmt geworden. Wir Soldaten haben gelächelt, als später das Buch aus der Heimat in die Gefangenschaft geschickt wurde, wie die Auguren zu lächeln pflegten, wenn sie einander begegneten.
Aber wie dem auch sei, es war schon eine Leistung, fast täglich mit dem primitiven Flugzeug aufzusteigen, sich mit einem oft stotternden Motor herumzuschlagen und gleichzeitig, vom feindlichen Feuer bedroht, Aufzeichnungen zu machen. Dabei soll die Frage nicht entschieden werden, ob sich die feindlichen Brüder mit der Pistole beschossen haben oder ob es wahr ist, dass man sich bei der Begegnung in der Luft auf einen militärischen Gruß beschränkte.
Für uns draußen im Vorgelände war das Erscheinen der feindlichen Flieger jedesmal eine Sensation, und es hätte nicht viel gefehlt, dass den Japanern im Flugzeug freundlich zugewinkt wurde. Denn man darf nicht vergessen, dass viele von den Soldaten überhaupt noch kein Flugzeug gesehen hatten. Ich erinnere mich noch, dass wir auf der ILA, der Internationalen Luftfahrtausstellung in Frankfurt am Main, im August 1909 stundenlang standen, um ein Flugzeug in der Luft zu sehen. Internationale Größen wie Voisin, Graham bemühten sich damals vergeblich, ihre Apparate länger als eine halbe Minute in der Luft zu halten , wobei ihnen zum Start eine Sprungschanzen ähnliche Bahn zur Verfügung stand.
Unerhört schnell entwickelte sich dann die Fliegerei, nachdem einmal das Prinzip gefunden war, wie man den Widerstand der Luft benützen konnte, um die Anziehungskraft der Erde zu überwinden. Aber es war noch ein weiter Schritt von den primitiven Drahtgestellen des ersten Weltkrieges zu den fliegenden Superfestungen des Krieges, den wir zuletzt geführt haben.

Am 6. September war wieder herrliches Wetter, es schien, als ob das beständige, trockene Herbstwetter die kleine Regenzeit des Sommers endgültig verdrängen würde. In der Nacht wurde daher die ganze Kompagnie auf Wachen verteilt. Die Sterne funkelten, das Meer rollte und rieselte den feinen Sand hinauf und hinunter und brach sich rauschend an den steilen Felsklippen am Strande.
Wir aber, Vizefeldwebel Walter und ich, lagen auf zusammengerafftem Seetang und träumten in den Himmel. Die Gedanken an die Heimat und an unser eigenes Schicksal ließen uns nicht einschlafen, und bald kam ein Gespräch zustande, das sich fast die ganze Nacht hinzog. Wir alle waren ja ein wenig aufgewühlt durch die Meldung, dass an diesem Tage die Japaner mit beträchtlichen Streitkräften in Lungkou, an der Nordküste der Schantung-Halbinsel, gelandet waren. Während wir also die Japaner in unserm Schutzgebiet erwarteten, hatte es sich der japanische Generalstab bequem gemacht und seine Truppen unter Ausnützung der militärischen Schwäche Chinas auf chinesischem, d.h. neutralem Boden an Land gesetzt. 300 km lag Lungkou von Tsingtau entfernt, und wir konnten uns ausrechnen, wann es zum ersten Zusammenstoß mit dem Feind kommen musste.
Es war merkwürdig, dass Walter in dieser Nacht mit aller Bestimmtheit behauptete, dass er Deutschland nicht wiedersehen und im Kampf gegen die Japaner fallen würde! Er war ein prächtiger Mensch, der – Lehrer von Beruf – Leiter des Deutschen Museums für Völkerkunde in Tsinanfu war und eben eine Forschungsreise durch Korea hinter sich hatte, von der er viel Interessantes erzählte.

Der nächste Tag, der 7. September, brachte nähere Mitteilungen über den Anmarsch der Japaner, und zwar sollten Kavalleriepatrouillen bereits 50 km vor Kiautschau gesichtet worden sein, das war eine Entfernung von ungefähr 130 km von Tsingtau.
Auch aus der Heimat kam wieder einmal eine Meldung: Paris sollte von zwei Seiten eingeschlossen sein. Es handelte sich um den Vorstoß der Armee von Kluck, der bekanntlich nicht zum Ziele führte und in der Marneschlacht mit dem Rückzug dieser Armeegruppe endete.

Wenn wir noch am Vortage mit einer endgültigen Wetterbesserung gerechnet hatten, so wurden wir in der Nacht zum 8. September gröblich enttäuscht, denn es goss wieder in Strömen! Ein Glück war es, dass der bald wieder anschwellende Fluss unser Lager nicht mehr erreichen konnte. Man kann sich kaum vorstellen, wie schnell sich ein trockenes Flussbett mit schmutzigen Wassermassen füllen kann, wenn das Erdreich die herabstürzenden Regenmengen nicht aufsaugt. Nach oben waren wir durch unsere Zeltplane geschützt, soweit nicht durch Löcher kleine Gießbäche stürzten, die mit List und Tücke irgendwie nach außen geleitet werden mussten. Aber auch da, wo wir nicht mit einem solchen Wasserfall zu kämpfen hatten, kamen wir kaum zur Ruhe; denn das Gewicht der Wassermassen drückte schwer auf die Plane und presste sie durch das Bambusgerüst. Vertiefungen bildeten sich und füllten sich mit Wasser, das langsam aber sicher das Gewebe durchdrang und schließlich in dicken Tropfen auf uns niedertickte. Es blieb also nichts anderes übrig, als dass alle halbe Stunde einer von uns aufstand, mit dem Gewehrkolben die Vertiefung in die Höhe drückte, um das Wasser zum Ablaufen zu bringen.

Der Regen dauerte den ganzen nächsten Tag, den 8. September, an, und es herrschte eine ziemlich triste Stimmung, die auch durch eine gute Erbstwurstsuppe und durch einen zur Abwehr von Erkältungskrankheiten ausgegebenen Tee-Rum-Grog nicht aufgehellt wurde. Gerüchte wurden besprochen, von denen kein Mensch wusste, woher sie kamen und die sich vor allem mit der Haltung der Vereinigten Staaten beschäftigten. Die Schantung-Eisenbahn sollte von ihnen aufgekauft worden sein, das wurde schon einmal behauptet, nun aber sollte bereits auf den Stationen die amerikanische Flagge wehen! In Shanghai sollte eine amerikanische Flotte zur Demonstration gegen die Japaner bereitliegen, weil sie die Neutralität Chinas durch die Landung auf chinesischem Gebiet verletzt hatten. Genährt wurden diese Gerüchte durch die Tatsache, dass der amerikanische Konsul in Tsingtau der Aufforderung der Japaner, die Stadt zu verlassen, keine Folge geleistet hatte; erst am 8. Oktober verließ er die Stadt!

Wie falsch waren damals, rückschauend betrachtet, unsere Auffassungen und Meinungen über die Vereinigten Staaten, denen wir eine wohlwollende Neutralität zutrauten. Es gab auch nicht wenige unter uns, die die Meinung vertraten, dass Japans imperialistische Politik auf dem asiatischen Kontinent, vor allem in China, in Kürze einen kriegerischen Zusammenstoß zwischen Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika herbeiführen müsse. Die Landung der Japaner auf chinesischem Boden musste nach der Meinung dieser Leute für die Vereinigten Staaten ein Anlass sein, um mindestens einen ernsthaften Protest einzulegen. Aber mehr als mehr als 35 Jahre mussten vergehen mit vielen Anlässen zu Protesten und vielen tatsächlichen Protesten, bis die Japaner selbst durch den Überfall auf Pearl Harbour jene große Auseinandersetzung im Osten auslösten, durch die Japan als Weltmacht zunächst ausgelöscht wurde, zu der es sich in erstaunlich kurzer Zeit entwickelt hatte. Die Geschichte hat denen recht gegeben, die es schon damals als übereilte Schnelligkeit bezeichneten, mit der die Japaner sich bemühten, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Art in europäische Lebensformen umzugießen.
Die Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika war also das Hauptthema der Unterhaltung derjenigen unter uns, die nicht vorzogen, sich durch einen Dauerskat die Zeit zu vertreiben, während die Wassermassen auf die Zeltplane trommelten. In der Nacht näherte sich offenbar das Randgebiet eines Taifuns, denn ein Sturmwind drohte, unsern Bambusbau wiederholt umzureißen, aber es ging alles gut. Nur das kleine Offizierszelt – das gab es nämlich! – stürzte ein.

Der Wind hatte sein Gutes, er hatte die Wolken vertrieben, und am nächsten Morgen, am 9. September, hörte der Regen auf, sodass man sich wieder im Freien aufhalten konnte. Da sahen wir die Verheerungen, die der Fluss angerichtet hatte: Fruchtbarer Boden war ins nahe Meer gerissen worden, und die steinerne Brücke im Dorf war zusammengestürzt. Auch von den Schützengräben ähnlichen Gebilden, die wir während unseres Aufenthaltes in Tapautau geschaffen hatten, war nicht viel übrig geblieben. Die nächsten Tage wurden daher dazu benützt, um an den für eine Landung günstig erscheinenden Stellen und auf den ins Meer vorspringenden Felsenhängen eine Art von Deckungsgraben zu bauen. Es war eine harte Arbeit, zu der es an den nötigen Geräten fehlte, da nur jeder dritte oder vierte Mann mit einem Spaten ausgerüstet war. Mit knapp 200 Mann sollten wir eine Strecke von mehreren Kilometern verteidigen; man kann sich daher denken, welche Aussichten ein Landungsversuch der Japaner gehabt hätte. Sie beschränkten sich glücklicherweise darauf, mit ihren Torpedobooten außerhalb der Reichweite unserer schweren Geschütze hin und her zu patrouillieren.

Große Aufregung rief unter den Reservisten ein Bescheid des Gouvernements hervor, dass ihre Anträge auf Gewährung der Reisekosten nicht bewilligt werden könnten. Nun waren die meisten Ostasiaten nicht unbegüterte Leute, und wer kein Geld hatte, hatte von seiner Firma oder vom Konsulat einen Vorschuss à fonds perdus erhalten; aber es waren doch oft erhebliche Beträge, die der einzelne aufwenden musste, um nach Tsingtau zu gelangen. Man war damals noch nicht daran gewöhnt, dem Vater Staat materielle Opfer zu bringen, wie sie die folgenden Jahrzehnte von uns forderten. Es wurde noch mit dem Pfennig gerechnet und als selbstverständlich angesehen, dass auch der Staat und seine Beamten den Pfennig ehrten.
Am meisten waren aber die Reservisten empört über die Begründung, mit der man ihre Forderung abgelehnt hatte: Der Deutsche, der ins Ausland gehe, sei militärisch nur beurlaubt, womit er den übrigen Staatsbürgern gegenüber eine Vergünstigung habe. Dieser Vergünstigung gegenüber müsse verlangt werden, dass sich der Staatsbürger im Kriegsfalle so schnell als möglich und auf eigene Kosten seinem Vaterlande auf deutschem Boden zur Verfügung stelle. Das war zweifellos eine korrekte Entscheidung, denn jeder, der in einem Militärverhältnis stand und für längere Zeit ins Ausland gehen wollte, musste sich beurlauben lassen und bei seinem Auslandskonsulat melden. Aber der Ausdruck »Vergünstigung« machte böses Blut und gab Anlass zu lebhaften Diskussionen über das mangelnde Verständnis der Reichsregierung gegenüber den Auslandsdeutschen im allgemeinen und der Unfähigkeit der deutschen Diplomaten im Ausland im besonderen. Es fielen harte Worte über das mangelnde Verantwortungsbewusstsein der deutschen Konsulate, und Vergleiche mit denen der Engländer und Amerikaner fielen durchaus nicht zugunsten Deutschlands aus.

Am Nachmittag des 11. Septembers wurde die von uns wenig geschätzte Arbeit des Grabens durch einen »Spaziergang« unterbrochen, den die Kompagnie zu dem einige Kilometer landeinwärts gelegenen Dörfchen Taputung unternahm. Da dieser Ausflug zu ausgiebigen friedensmäßigen Übungen in der Marschsicherung benützt wurde, waren die Meinungen geteilt, ob diese Abwechslung dem Grabenbau vorzuziehen sei. In Taputung – eigentlich waren es zwei Dörfer, nämlich Hsiau = Klein- und Ta = Gross-Putung! – lagen zwei Geschütze der Feldbatterie, die uns im Falle eines Angriffes der Japaner unterstützen sollten. Unsern Kameraden von der andern Fakultät war es ähnlich ergangen wie uns: Auch ihr Lager war durch die Unwetter zerstört worden, und sie hatten im Dorf Quartier bezogen, aus dem sie die Ungezieferplage wieder vertrieben hatte.
Erst spät kamen wir von unserm Ausflug zurück, weshalb wir den Weg zu unsern Wachen in der Dunkelheit suchen mussten. Denn mit dem Schlafen in unserm Zeltbau war es nichts mehr, weil die ganze Kompagnie jede Nacht alarmbereit alle Wachen zu besetzen hatte. Während es am Tage noch recht warm war, fingen die Nächte an, kühl zu werden, sodass wir in dem Khakianzug froren und die Zeit herbeiwünschten, da wir uns in den wärmeren Nächten mit den Moskitos herumplagen mussten. Besonders kalt war es auf dem Felsen von Schylaujen, wo wir knapp zwei Wochen vorher von dem Gewittersturm überrascht worden waren.

Der 13. September, ein Sonntag, brachte die Meldung, dass es bei Tsimo, einem Dorf außerhalb des Schutzgebietes, zur ersten Berührung zwischen deutschen und japanischen Patrouillen gekommen sei. Außerdem machte Plüschow seinen ersten Erkundungsflug auf der Rumplertaube und kam dabei auch über unsere Stellung. – Wir aber mussten bei Tage arbeiten und nachts Wache schieben.
Die militärische Lage hatte sich so entwickelt, dass mit einem Angriff von See her in der nächsten Zeit kaum gerechnet werden musste, denn durch die Aufklärung war festgestellt worden, dass nicht nur in Lungkou japanische Truppen gelandet wurden, sondern dass auch in der Hsiautau-Bucht, die ganz in der Nähe war, eine starke Flotte von Kriegsschiffen und Transportern eingetroffen war. Gemischte Abteilungen, bestehend aus Kavallerie, Infanterie und Artillerie, waren im Anmarsch, und wo wir mit einer Stärke von 100 Mann rechneten, wurde auf gegnerischer Seite die zehnfache Übermacht gemeldet. Der Angriffsplan der Japaner begann sich allmählich klarer abzuzeichnen: UmVerluste durch unsere Ferngeschütze zu vermeiden und die Landungsoperationen ungestört durchführen zu können, war man 300 km von Tsingtau entfernt an Land gegangen und nahm dabei das Odium des Bruches der Neutralität gegenüber China auf sich – wer hat sich später darüber aufgeregt?! Die Ersparnis an Menschenleben war es den Japanern wohl wert, dass sie das Unternehmen unter größerem Aufwand an Menschen und Material aufziehen mussten, als sie bei einem direkten Angriff auf Tsingtau gebraucht hätten. Vielleicht war aber auch die Erwägung entscheidend, dass man sich der Gefahr des Misslingens eines solchen Angriffes nicht aussetzen wollte, zumal man die Zahl der Verteidiger höher schätzte, als sie wirklich war.

Jedenfalls war nun anzunehmen, dass die Japaner, von Norden kommend, versuchen würden, mit ihrer Hauptmacht längs der seichten Kiautschou-Bucht nach Tsingtau vorzustoßen; denn vom Meere aus ragte das steile Lauschangebirge wie ein Sperriegel ins Land hinein und verhindete größere Truppenoperationen. Es musste also eine Umgruppierung der Kräfte vorgenommen werden, von der wir besonders betroffen wurden, denn am Morgen des 14. September – wir waren gerade von der nächtlichen Wache zurückgekommen! – hieß es plötzlich, wir sollten uns alle zum Abmarsch fertig machen. Unser genaues Marschziel wurde uns zunächst nicht bekannt gegeben, aber die allgemeine Marschrichtung ging quer über die Halbinsel der Kiautschoubucht zu. Der Himmel war bedeckt, und wenn man uns auch stellenweise querfeldein durch Ravinen und vom Regen ausgewaschene Flusstäler führte, so war doch das Marschtempo so gemütlich, dass wir erst am Nachmittag das etwa 10 km entfernte Litsun erreichten. Litsun, das Dorf der Familie Li, war ein Marktflecken von etwa 1000 Einwohnern an der einzigen Autostraße des Schutzgebiets, die Tsingtau mit dem Lauschangebirge verland. In einer Talsenke, am gleichnamigen Fluss, d.h. meist Flussbett gelegen, war es im Frühjahr das Ausflugsziel, wenn die Obstbäume blühten. Für uns Soldaten allerdings bedeutete Litsun als Marschziel immer eine anstrengende Übung, da es 15 km von Tsingtau entfernt lag.
In Litsun ließen wir den ersten Zug unserer Kompagnie zurück, wir anderen marschierten noch ein paar Kilometer weiter zu dem an der Kiautschou-Bucht gelegenen Chinesendorf Tsangkou.
 

c) »Vorrede« [Zwischenbemerkung]

Soweit war ich vor fast 20 Jahren gekommen, als ich zuletzt im Dezember 1945 an diesen Erinnerungen schrieb. Der Beruf hat mich wieder erfasst, Mangel an Zeit, aber auch Unlust haben mich am Schreiben gehindert. Es ziemt sich daher eine kleine, zweite Vorrede.

Viel hat sich inzwischen ereignet, Erfreuliches und Unerfreuliches. Im Osten des ehemaligen Deutschen Reiches hat man durch die sogenannte Oder-Neisse-Grenze alle die Gebiete unter Russland und Polen aufgeteilt, die einst der »Deutsche Orden« kolonisiert hatte. Deutschland ist also kleiner geworden! Nach offizieller Auffassung stehen zwar diese Gebiete bis zum endgültigen Friedensschluss nur unter russischer bzw. polnischer Verwaltung. Der Frieden über den Zweiten Weltkrieg ist nämlich noch nicht geschlossen und wird auch wohl zu meinen Lebzeiten nicht mehr zustande kommen; aber allen Protesten der Landsmannschaften, die Millionen aus der Heimat im Osten vertriebener Deutscher repräsentieren, und der Verbände zum Trotz wird einstens die Grenze endgültig so festgelegt werden, wie heute die Verwaltungsgrenze ist. Stettin wird also polnisch, Königsberg russisch sein!
Dazu kommt, dass der Teil Deutschlands, den die Russen als Sowjetzone bezeichnen, sich selbstständig gemacht hat unter der Bezeichnung DDR (Deutsche Demokratische Republik). Sie hat ihre eigenen Embleme, ihren eigenen Präsidenten und sich schließlich von dem übrigen Deutschland durch eine Mauer abgeschlossen. Berlin ist ausgenommen, obwohl die DDR es gerne haben möchte. Hier herrschen in dem sogenannten Ostberlin die Russen bzw. Herr Ulbricht, in Westberlin die drei Westmächte, die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen, die sich von ihrem ehemaligen Bundesgenossen, dem Russen, völlig getrennt haben und auf den ehemaligen Feind und Besiegten, die Westdeutschen, setzen.

Uns im Westen, in der einstigen amerikanischen, französischen und englischen Zone, geht es gut, so gut, als ob wir den Krieg nie verloren hätten. Als die Alliierten, wie die Zonenbeherrscher genannt wurden und die bestimmten, wie wir wohnen, arbeiten und essen sollten, die Zügel lockerten, als am 20. Juni 1948 die alte Reichsmark durch die Deutsche Mark abgelöst wurde, wurden die durch die Bomben zerstörten Fabriken und Häuser wieder aufgebaut, wurde es wirtschaftlich besser!
Kurz und gut, es geschah das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder! Die deutsche Währung wurde eine der festesten auf der ganzen Welt, Gastarbeiter aus allen Ländern Europas sind in deutschen Fabriken, in der deutschen Wirtschaft beschäftigt, um ihr den Ruf zu wahren, den sie in der Welt wieder besitzt.
Sogar Soldaten haben wir wieder, ein Bundesheer, das die Kommunisten besonders fürchten, da die Deutschen ja immer die besten Landsknechte waren. Es ging zwar im Anfang nicht »Ohne mich!« ab, da die Alliierten nach dem Kriege das deutsche Heer diffamiert hatten,2 aber wer hätte geglaubt, dass es so kommen würde, als ich im Dezember 1945 die erste Vorrede schrieb?
Auch persönlich hat mich das »Wirtschaftswunder« berührt: Ich kam 1950 in den Vorstand der Norddeutschen Affinerie in Hamburg; aber inzwischen bin ich pensioniert, und das Schicksal hat mich nach Graz verschlagen.
Ich nehme die Arbeit wieder auf, die mir kürzlich in die Hände gefallen ist. Meine Schilderungen aus der Kriegszeit werden bedeutend kürzer werden, weil mir für China ja nur spärliche Tagebuchnotizen zur Verfügung stehen und ich mich im Wesentlichen auf mein Gedächtnis verlassen muss – es sind mehr als 50 Jahre vergangen!
 

d) »Tsangkou«

Wir waren also quer über das Schutzgebiet marschiert und in dem Dorf Tsangkou angekommen, wo wir in der Seidenspinnerei Quartier fanden. Seit langer Zeit hatten wir wieder einmal ein festes Dach über dem Kopf, und wenn der Boden auch harter Beton war, bei den Chinesen konnten wir Stroh requirieren und für die Bevorzugten »vom Feldwebel aufwärts« standen sogar Pritschen zur Verfügung. Wache brauchten wir auch nicht zu schieben, und so hatten wir eine Nacht der Ruhe, soweit uns die Tierlein in Ruhe ließen, die auch dort ihr Unwesen trieben.

Die Japaner entwickelten ihre Truppen offenbar, wie ich schon schrieb, auf der linken Seite der Kolonie, wo es gegen die Kiautschau-Bucht verhältnismäßig offen war, während auf der rechten Flanke das Lauschan-Gebirge größere Truppenbewegungen nicht erlaubte.
Man hatte uns daher in einem Tagesmarsch nach links verpflanzt und befohlen, das Lager in Schantungtou intakt zu lassen, da wir es »wieder brauchen« würden. Nun, wir haben es nicht mehr wieder betreten, aber es wurde, wie wir später hörten, von einem Teil der 6. Kompagnie besetzt. Diese Kompagnie hatte man aus den später kommenden Reservisten und den brauchbaren Landsturmleuten gebildet und am Meer im Dorfe Tschantschan rechts vom Infanteriewerk [IW] I untergebracht.
Wir selbst waren »Armee« geworden, die bald hierhin, bald dorthin geworfen wurde. Jedenfalls sollten wir gegenüber den Japanern den Eindruck einer solchen erwecken, was auch gelang, wie sich später herausstellte. Dabei waren wir kaum 200 Mann!

Am nächsten Morgen, am 15. September, zogen wir hinauf zu den Tsangkou-Höhen, die, rechts von der Schantung-Eisenbahn gelegen, einen weiten Überblick über das Festland, und zwar bis zum Peischaho-Fluss, gewährten. Bis dahin waren wir, d.h. die ganze 4. Kompagnie, bei unserm Pfingstausflug vom Lauschan abgestiegen, den wir nach der Ausbootung aus dem Seelenverkäufer erklettert hatten. Es waren noch schöne, sorglose Zeiten, als wir dort am Bahnhof Nükukou in die Schantung-Eisenbahn mit ihren ansehnlichen Wagen stiegen, um wieder heim nach Tsingtau zu fahren.
Heute aber trat der Ernst des Soldaten an uns heran: Es galt, auf den Tsangkouer Höhen, deren rechte Flanke wir zu übernehmen hatten, das richtige Schussfeld ausfindig zu machen, um die Japaner würdig zu empfangen. Dort oben sollten Schützengräben angelegt werden; es war eine schwere Arbeit, die bei dem Gerätemangel besonders hart war; darum sollten am nächsten Tag Kulis engagiert werden, die wir zu beaufsichtigen hatten.

In der Nacht kam ich mit mehreren Mann auf Wache nach Schykou, einem kleinen Chinesendorf an der Straße von Litsun; man hatte dort eine Hütte als Wachtlokal eingerichtet. In der Nacht war draußen in der Kiautschou-Bucht ein heftiges Gewitter, dessen auf kommende und abziehende Blitze den Eindruck von Lichtsignalen machten und an den Schylaujen-Felsen erinnerten. Aber die Kiautschou-Bucht war seicht und schlammig, bot also keinen Reiz für feindliche Landungsversuche.
Die Wache wurde unterbrochen durch eine Kontrolle, und zwar kam, vom Gouvernement-Stab entsandt, jener Reserveleutnant Scriba, der bereits einmal erwähnte Halb-Japaner. Übrigens wurde uns täglich vom Stab eine »Parole« durchgesagt, ohne deren Wiederholung niemand passieren sollte.3 Dies gab Schwierigkeiten mit den Truppenteilen, die an der Grenze des Schutzgebietes meist in Patrouillenstärke lagen und keine Telephonverbindung halten; denn eine Funkverbindung zwischen Truppe und Stab gab es damals noch nicht! Es musste immer ein Vorgesetzter des Wachhabenden geholt werden, der die Verantwortung des Passierens ohne Parole übernahm.

Am 16. September durften wir im Morgengrauen um 6 Uhr wieder zurück nach Tsangkou. Da wir in der Nacht auf Wache waren, brauchten wir auch nicht auf die Tsangkouer Höhen, wo der Rest der Kompagnie die Kulis beim Ausheben von Schützengräben beaufsichtigte. Am Vormittag beschossen die Japaner von See aus Schatsykou, nördlich von Schantungtou, wo sie später Truppen landen konnten, ohne von unsern Geschützen behelligt zu werden. Wir hörten den Kanonendonner genau, erfuhren aber erst am nächsten Tag, dass Schatsykou beschossen wurde; wahrscheinlich wollten die Japaner feststellen, ob und wie stark die Bucht von uns besetzt sei.
Am Nachmittag spielte ich mit Reservisten einen Drei-Männer-Skat – ich möchte nur wissen, wo immer die Karten herkamen!

Vom nächsten Tag, dem 17. September, enthält mein Tagebuch nur die kurze Notiz, dass wir die Kulis an den Laufgräben beaufsichtigten und dass ich am'Nachmittag bei den Chinesen Balken requirierte.
Ich erinnere mich aber dieses Tages noch genau: Zum Bau der Schützengräben und dergleichen wurden Chinesen vom 12-jährigen Buben bis zum arbeitsfähigen Mann angestellt. Sie kamen anfangs gerne, weil sie gut bezahlt wurden. Da wir nicht mit jedem einzelnen verhandeln konnten, auch das Requirieren in den Dörfern scheuten, besorgte dies eine Art »Comprador«, der auch die Auszahlung vornahm. Ich weiß nicht mehr, wieviel jeder bekam, er musste jedenfalls 10 Stunden arbeiten, Erde tragen, ausheben usw. Mittags machte der Chinese eine Pause und aß hockend sein in unseren Augen kümmerliches Reisgericht. Viel taten die Chinesen nicht, nach europäischem Maßstab gemessen, und umso verständlicher war es, dass wir möglichst viele haben mussten, denn die Masse machte es!
Der Comprador hatte also dafür zu sorgen, dass die nötige Anzahl von Kulis zur Stelle war – es waren wohl jeweils 200. An jenem Morgen hatte er aber nur 150 zusammengebracht! Es gab eine Auseinandersetzung zwischen ihm und unserm etwas nervösen Zugführer, dem Rechtsanwalt und Oberleutnant der Reserve Zimmermann aus Tsingtau, in deren Verlauf dieser sich dazu hinreißen ließ, dem Chinesen zu unserm Entsetzen eine schallende Ohrfeige zu geben. Die Kulis, die in der üblichen Hockstellung auf das Abzählen und die Einteilung warteten, waren Zeugen dieser Entgleisung unseres Oberleutnants gewesen. Der Comprador aber verschwand und ward nie mehr gesehen.Er hatte ja »sein Gesicht verloren« und war sicher einer der ersten, der als Spion zu den Japanern übergelaufen ist.
Am Nachmittag des 17. September musste ich mit ein paar Leuten Balken und Bretter requirieren, die als Schutz gegen Schrapnells und Gewehrkugeln dienen sollten. Der Bürgermeister eines in der Nähe befindlichen Chinesendorfes war erst recht widerspenstig – vielleicht hatte ihn auch der Comprador aufgehetzt! –, aber der Hinweis auf unsere Gewehre genügte, um das Material locker zu machen, das die Chinesen die 100 m nach oben bringen sollten. Die Balken blieben jedoch auf halber Höhe liegen, da uns unsere Leute auf dem Heimweg begegneten und wir uns ihnen anschlossen.

Auch am nächsten Morgen, am 18. September, wurde auf den Tsangkouer Höhen geschanzt, wohin uns diesmal die Schantung-Eisenbahn gefahren hatte. Es waren unter einem neuen Comprador natürlich noch weniger Kulis da!
Wir hatten gerade gegen 12 Uhr unser Essen an der Straße geholt, als uns Alarm empfing. Wie wir später hörten, waren die Japaner mit stärkeren Kräften in der Wang-kuo-tschuang-Bucht gelandet, die jenseits des Lauschangebirges lag, also schon beträchtlich näher an Tsingtau! Ein japanisches Bataillon hatte auch gleich den dort befindlichen Hotung-Pass besetzt und unsere Truppen von dort vertrieben. Ich glaube, es waren Leute unserer Kompagnie, die wir für diese Patrouillen abstellen mussten und die den Befehl hatten, sich nicht in Kämpfe einzulassen. In fieberhafter Spannung harrten wir, an der Bahn liegend, des Feindes, aber es ereignete sich nichts.
Irgendwo draußen hatte die 5. Kompagnie den ersten Toten, den Leutnant der Reserve Freiherrn von Riedesel, der zum Rekogneszieren ins Schutzgebiet geschickt worden war, und wir, die 4. Kompagnie, den ersten Verwundeten. Woher er kam, weiß ich nicht mehr. Er war mit einer japanischen Patrouille zusammengestoßen und wurde mit dem Krankenwagen geholt, als wir in Stellung gingen, um oben auf den Tsangkouer Höhen den Feind zu erwarten. Er kam aber nicht, dafür ein übler Nieselregen, der die wenigsten schlafen ließ. Ich hatte mir ein paar Bretter organisiert und brauchte wenigstens nicht auf dem bloßen Beton zu lagern.

Am 19. September traten wir schon um 6 Uhr früh den Rückmarsch an. Wir wollten nach Tsangkou abkürzen und gerieten in einen üblen Ravinenweg, der durch den Regen besonders glitschig geworden war. Wie wir den Tag verbrachten, weiß ich nicht mehr, da mein Tagebuch keine Notizen enthält. An diesem Tag wurde das Mecklenburghaus, ein im Lauschan gelegenes Erholungsheim, geräumt und in Brand gesteckt. Auch die Cecilienbrücke wurde gesprengt, die weiter unten die Straße nach Tsingtau, das Herzogin-Elisabeth-Tal überquerte. Den Japanern sollte eben nichts unversehrt in die Hände fallen, denn dass wir das Pachtgebiet im Osten wiederbekommen würden, war unwahrscheinlich.
In der Nähe des Mecklenburg-Hauses war es auch, wo mein miteinjähriger Kamerad von Tucher schwer verwundet wurde, als er mit zwei Mann zu Pferd die Gegend abpatrouillierte. Er kam in Gefangenschaft und mit dem Lazarettschiff nach Japan, wo wir ihn in Kurume 1915 trafen; seine Begleiter wurden getötet.
Abends um 6 Uhr erhielt unsere Kompagnie den Befehl, nach Litsun abzumarschieren, wo bereits ein Zug von uns lag und wo uns Quartier in der Schule und in der Kirche in Aussicht gestellt wurde. Aber unterwegs kam uns ein Auto mit einem Offizier entgegen, der unserm Hauptmann Perschmann einen Befehl des Gouvernements übergab, wonach wir nicht nach Litsun sollten, sondern nach Hsiaho.
 

e) Hsiaho [usw.]

Das [Dorf] lag zwar am selben Fluss wie Litsun, aber etliche Kilometer weiter. Der Nachtmarsch war nicht schön und immer wieder durch Halte unterbrochen, denn mit der vermehrten japanischen Patrouillentätigkeit war die Nervosität des Truppenführers gestiegen, zumal man sich trotz der Karte nicht auskannte. Auch die Auskünfte der Chinesen waren mangelhaft, obwohl sie sich gegen klingenden Lohn stark machten, uns dorthin zu bringen. Schließlich erreichten wir diesen Ort, es mochte ungefähr Mitternacht sein. Ein Chinese wurde erschossen, verzeichnet nüchtern mein Tagebuch; wo und warum weiß ich nicht! Unser 2. Zug hatte an den Ausgängen des Dorfes die vier Feldwachen zu stellen. Wir kamen an den Ostausgang und hatten das Glück, auf der Tenne zu liegen, deren Härte durch geräubertes Stroh gemildert wurde.

Am nächsten Tag, am 20. September, war nicht viel los, wie ich im Tagebuch verzeichnet habe. Aber unser Hauptmann Perschmann stieg aufs Pferd, um an einer Besprechung im Gouvernement teilzunehmen. Außer unserer Kompagnie schwirrten ja noch die Kompagnien 1 bis 3 des Qstasiatischen Marinedetachements Tientsin im Vorgelände umher, dazu Maschinengewehre und die Feldartillerie. Das musste alles koordiniert werden, zumal gemeldet wurde, dass, wiederum unter dem Druck japanischer Übermacht, die Vorposten in Hengtau auf den Kletterpass zurückgenommen werden mussten. Hengtau lag am oberen Tschangtsun-Fluss, an dem wir kampierten, und der Kletterpass war zwischen den Höhen 409 und 240 Hsiaho gegen Norden vorgelagert. In der Nacht mussten also unsere dortigen Vorposten zurückgezogen werden, da die Japaner stärkere Kräfte gegen uns einsetzten. Wir hatten daher schon am Abend Alarm, eine Umgehung des Dorfes vom Kletterpass her wurde befürchtet, und wir mussten uns umgeschnallt zur Ruhe niederlegen, wenn man es »Ruhe« nennen kann, da wieder ein feiner Nieselregen einsetzte.

Am nächsten Morgen, am Montag, den 21. September, stellte sich heraus, dass wir nichts, nicht einmal die eiserne Portion, zu essen hatten, da unsere Tornister auf den Bagagewagen geladen waren, um uns den Nachtmarsch zu erleichtern. Der Führer dieses Wagens hatte uns wohl in Litsun, wohin wir sollten, gesucht; von unserm neuen Marschziel hatte er keine Ahnung! Wir entbehrten also nicht nur das Frühstück, das uns sonst wie das übrige Essen aus Litsun gebracht wurde, sondern waren ganz auf die Chinesen angewiesen, bei denen wir Hirsebrot, Süßkartoffeln und Persimonen kaufen konnten.
Im Übrigen wurde früh um 9 Uhr der Abmarsch aus Hsiaho befohlen, da oben auf dem Kletterpass Japaner beobachtet worden waren. Wir marschierten nur wenig nördlich weiter zu dem Dörfchen Wangtschiaschangliutschuang, das ebenso lang hingestreckt wie sein Name lang war. Von da aus sahen wir die japanischen Vorposten mit bloßem Auge recht gut, wir wussten aber, dass größere Abteilungen den Weg über den Kletterpass nicht genommen haben konnten.
Der Tag, an dem wir uns möglichst wenig sehen lassen sollten, war schön und wurde mit allerlei »innerem« Dienst ausgefüllt. Am Abend aber zog ich mit Vizefeldwebel der Reserve Pielcke auf Wache. Wir lagen in einem wunderschönen Obstgarten, die Sterne glitzerten am Himmel, und die großen, saftigen, noch nicht ganz reifen Birnen wuchsen uns in den Mund. Alles war ruhig und friedlich, nichts Wesentliches ereignete sich. Im Dorf bellte nur ab und zu ein Hund.

Am nächsten Tag, am 22. September, wurde der Plan des Stabes bekanntgegeben, am Kletterpass gewaltsam zu rekogneszieren und festzustellen, wieviele Japaner eigentlich oben waren. Wir, d.h. die 4. Kompagnie, sollten von der westlichen, eine Kompagnie des Marinedetachements von der östlichen Seite stürmen, Artillerie sollte, bei Nacht in Stellung hinter Höhe 182,5 gehend, den Angriff der-Infanterie unterstützen. Die Kompagnie wurde eingeteilt, wobei ich zur Abteilung Pielcke kam, die die linke Flanke zu decken hatte und schon nachts als Wache in jenem Obstgarten zu lagern hatte.
Dort blieben wir auch am 23. September, der als Tag des Kletterpass-Gefechtes in die Geschichte der Belagerung Tsingtaus eingegangen ist. Gegen 10 Uhr sahen wir die Männer unserer Kompagnie emporklettern zum Pass, wo sie von den Gewehrschüssen der Japaner empfangen wurden, wie sie später erzählten. Darauf hatte offenbar nur unsere Artillerie gewartet; nach ein paar Schrapnellschüssen verschwanden die Japaner, und als unsere Leute nach oben kamen, sahen sie die Letzten hinter den Felsen verschwinden. Sie hatten alles zurückgelassen: Zelte, die darauf hindeuteten, dass man sich auf längeres Bleiben eingerichtet hatte, Tornister und was man so zum Abkochen brauchte. Unsere Leute sind ohne Verluste am Nachmittag wieder abgestiegen und mussten in der Verfolgung des weichenden Feindes von der Führung gebremst werden.

Inzwischen beobachteten wir, wie es unsere Aufgabe war, die Berge zur Linken, ob sich wohl Japaner dorthin zurückzögen, denn eine Umgehung des Dorfes und damit unserer Kompagnie wäre leicht möglich gewesen. Dort oben auf den Hügeln konnten wir mit bloßem Auge ein Kloster sehen, das wohl zu den umliegenden Dörfern gehörte und dessen Priester von den milden Gaben dieser Ortschaften lebte.
Da um dieses Kloster ein merkwürdiger Betrieb herrschte, sah ihn sich unser Vizefeldwebel mit zwei Mann einmal an, die Steile des Weges nicht scheuend. Die Mönche waren offenbar durch die Schießerei aufgeregt und fürchteten für ihr Leben und das Kloster, das an den Felsen klebte – von den Japanern war keine Spur zu entdecken!
Am Nachmittag trafen wir mit den Kletterpass-Kämpfern zusammen, die hochgemut waren, wie eben Soldaten sind, die eine schwere Schlacht hinter sich haben. Am meisten freuten sich diejenigen, die Kriegsbeute gemacht hatten, eine Zeltbahn, einen Zeltstab oder gar einen Tornister! Da kamen sie aber bei unserm Hauptmann schön an: Das sei feindliches Eigentum, das spätesten am Ende der Feindseligkeiten wieder zurückgegeben werden müsse usw. Was daraus geworden ist, weiß ich nicht; aber das war noch ein Kavalierskrieg!

Am 24. September begrüßte uns Oberstleutnant Kuhlo, der Führer des linken Flügels der im Vorgelände kämpfenden Truppe. Was er gesagt hat, weiß ich nicht mehr, es wird aber nicht so wichtig gewesen sein! Wahrscheinlich gratulierte er der 4. Kompagnie zu ihrem Erfolg am Kletterpass und gab der Hoffnung Ausdruck, dass sich die Kompagnie auch in Zukunft so bewähren möge!
Am Abend zog die ganze Kompagnie rund um das Dörfchen auf Wache, was umso notwendiger war, als inzwischen festgestellt werden konnte, dass die Japaner den Kletterpass wieder besetzt hatten.

Am 25. September hörten wir wieder, wie Schatsykou beschossen wurde, ohne dass großer Schaden entstand, wie man uns später berichtete. Aber die Japaner bereiteten dort eine Landung vor, die sie dann auf dem weichen Sandstrand auch durchführten, nachdem unsere Batterien zum Schweigen gebracht worden waren, die soveit reichten.
Nachmittags räumten wir unser Dorf und gingen zurück nach dem nahen Yüntschiashiaho am Litsunfluss.

In der Nacht ging ich mit Oberleutnant Zimmermann auf Patrouille, weil das Gerücht umging, die Japaner seien in der Nähe. Es war aber nicht der Fall, und so kam der 26. September. In der Frühe habe ich mit Vizefeldwebel Walter gut gegessen, u.a. Ölsardinen; in zwei Tagen wird sich zeigen, warum gerade dieses Frühstück in meinen Erinnerungen besonders erwähnt wird!
Aus dem Dorf selbst waren die Chinesen so gut wie verschwunden, während wir es am Vor- und Nachmittag mit Stacheldraht umgaben, den irgendein Wagen ächzend herangebracht hatte. Wir waren so wenigstens einigermaßen sicher vor japanischen Patrouillen, die die Gegend unsicher machten und über deren Tätigkeit die tollsten Gerüchte herumschwirrten. Abends wurde sogar Telefondraht gelegt, aber immer, wenn wir »am Draht zogen«, d.h. Draht verlegten, »zogen wir am Draht«, d.h. wir zogen uns zurück!
So auch an jenem Abend, der besonders unruhig war, weil die Meldung eintraf, die Japaner hätten bereits Litsun besetzt, das in unserer linken Flanke lag. Auf direktem Wege oder über den Litsun-Fluss war so unser Marschziel nicht mehr zu erreichen: Wir mussten über die Hügel! Die bereits abgezogenen Posten wurden wieder eingeholt und ein Chinesenführer engagiert, der sich stark machte, uns über die Litsuner Höhen ins Tschangtsun-Flusstal zu bringen. Auf der Karte sah der Weg sehr einfach aus, aber der Chinese führte uns schnurstacks über die Berge, was für uns eine üble Kletterei bedeutete. Zwar hatten diese »Berge« nicht mehr an Höhe als 100 Meter, vom Meer aus gemessen, aber der »Weg« war schlecht, und schließlich wusste der Chinese weder ein noch aus – er verschwand! Wussten wir, ob er uns nicht in einen Hinterhalt gelockt hatte und mit den Japanern unter einer Decke steckte?
Auf dem rechten Flügel blitzten die Lichtsignale von Schatsykou, und auf der anderen Seite hallte Kanonendonner von den Tsangkouer Höhen, wo offensichtlich gekämpft wurde. Es war kein schöner Marsch, wenn auch ab und zu Birnengärten mit schönen Früchten lockten.
Endlich kamen wir ins Tal des Tschangtsun-Flusses, vielmehr -Bettes, wo uns ein einsamer Motorradfahrer, den man als Streife irgendwohin geschickt hatte, begegnete und den Weg wies.
So wurde es 4 Uhr früh, bis wir unser Marschziel erreichten, nämlich Liutschiahankotschuang.

Es war bereits Sonntag, der 27. September, den wir bei ziemlicher Kälte auf der Erde schlafend verbrachten. Von diesem Sonntag merkten wir allerdings nicht viel, da die Führung uns nicht lange ruhen ließ: Bereits um 6 Uhr wurden wir auf die Höhe 58 gehetzt, die also 58 Meter über dem Meer lag und die wir »Aktiven« von unsern Übungen her gut kannten! Dort buddelten wir uns in der Erdkruste, die den Fels bekleidete, notdürftig ein, um wenigstens den Gewehren der angreifenden Japaner nicht schutzlos ausgesetzt zu sein. Wir sahen ja unten im Flusstal die feindlichen Abteilungen, die unsere Artillerie über unsere Köpfe hinweg beschoss. Offenbar strebten die Japaner über Hsiauputung nach Schantungtou, um auf dem rechten Flügel, von uns aus gesehen, das Meer zu erreichen und unsere Abteilungen dort abzuschneiden.
An die Geschosse über unseren Köpfen hatten wir uns bald so gewöhnt, dass wir einschliefen, nachdem wir einen Erdhaufen zur Gewehrauflage vor uns zusammengeschoben hatten – wir hatten ja kaum Spaten, nur jeder Dritte war damit versehen, sodass wir einander aushelfen mussten. Am schlimmsten war der Hunger, mancher hatte noch ein Stück Kommissbrot, andere brachen verbotenerweise die Eiserne, vielleicht letzte, Portion an.

So waren wir auf ein Gefecht mit den anstürmenden feindlichen Infanteristen vorbereitet, als gegen 2 Uhr nachmittags der Befehl kam, abzurücken und uns unten auf der Straße zu sammeln, die von Litsun nach Pauerl (und weiter nach Tsingtau) führte. In einem Nest in der Nähe der Straße wurde abgekocht, was der Kompagniewagen herangebracht hatte, und es gab sogar wie in einem richtigen Krieg ein Auto voll Liebesgaben (Schokolade, Cigaretten und dergleichen), wie wir sie später noch manchmal erhalten haben.
Um 5 Uhr abends – es war noch ganz hell – bezogen wir zu beiden Seiten der Straße die Feldwache mit der Weisung, bei Tagesanbruch den mit Kussseln, kleinen Kiefern, bepflanzten Hügel zu unserer Linken zu besetzen. Es war eine schlimme Nacht und ein solcher Betrieb, dass selbst die von der Wache Abgelösten nicht ruhen konnten und auf Posten einschliefen. (Das wurde zwar vor dem Kriegsgericht bestraft, angeblich mit dem Tode, da der Feind in der Nähe war; aber sollte man jemand anzeigen, der übermüdet war?) Autos kamen von draußen, Verwundete, zwei Patrouillen waren von uns nach vorne geschickt worden, Soldaten kamen zurück, die das Parolewort nicht kannten. Dazu kam das dauernde Schießen und das Aufblitzen der Signalraketen, und erst gegen Morgen wurde es ruhiger.

Als wir uns in der Frühe erhoben, also am 28. September, um unsere Tagesstellung zu beziehen, erhielten wir Feuer. »Sst, sst, sst« sausten die Gewehrgeschosse in die Kusseln neben uns. Wir – bei mir lag Leutnant der Reserve Dr. Mohr, im Zivilberuf Seezolldirektor, später Geschäftsführer des Ostasiatischen Vereins in Hamburg – nahmen, so gut es ging, »volle Deckung«, ohne dass wir einen Gegner sahen! Erst ein Maschinengewehr auf halber Höhe rechts von der Straße sah offenbar die Feinde und brachte sie zum Schweigen. Wir nahmen an, dass sie von Bäumen aus schossen, die sich vereinzelt dort befanden.
Für uns war es jedenfalls eine üble Situation, und wir waren froh, als die Japaner mit dem Schießen aufhörten und wir unsere Stellung auf der Höhe besetzen konnten. Ein Schluck Rotwein vom Vorabend stärkte uns, und schnell gewöhnten wir uns an die Geschosse der Haubitzbatterie, die wieder über unsere Köpfe flogen. Aber die Haubitzbatterie schoss mit einem unangenehmen, scharfen Knall, während die Feldartillerie dumpfer, beinahe angenehmer schoss. Dies war wohl auch der Grund, weshalb die Japaner unsere Feldhaubitzen bald ausmachten und beschossen, denn die Haubitzbatterie wechselte bald die Stellung, wie wir aus den Kommandos schlossen, die bis zu unserer Stellung drangen.

Um 10 Uhr kam der uns schon bekannte Befehl zum Rückzug, da möglichst viele Leute unversehrt hinter das Haupthindernis gebracht werden sollten. Es war höchste Zeit, denn die Japaner kamen wie aus dem Boden gewachsen und beschossen – allerdings schlecht! – die zurückflutende Truppe. Mann hinter Mann liefen wir rechts und links der Straße, erst im Laufschritt, dann in normaler Gangart, als nämlich die feindliche Infanterie nicht mehr schoss, den Tornister auf dem Rücken, die Knarre in der Hand. Die Artillerie sauste vorbei, von der Seite kam dann und wann ein von Soldaten geführtes Muli mit einem Maschinengewehr auf dem Buckel, und auf der Straße selbst krepierten anfänglich die Schrapnells der japanischen Artillerie. Es wurde aber immer stiller, und gegen 11 Uhr passierten wir das Haupthindernis, wo spanische Reiter bereitstanden, um die Lücke zu schließen.
Ein Schriftsteller, der den Kampf um Tsingtau schildert, schreibt, dass die Truppen »mit Grün geschmückt und mit stolzen, frohen Gesichtern« in die Festung einzogen! Nun, das ist wohl dichterische Freiheit, denn ich habe niemand mit Grün gesehen. Wir waren müde, froh, nach den anstrengenden Tagen und Nächten wieder einmal richtig schlafen zu können, und erwiderten kaum die Grüße der Leute, die vom IW V herbeigeströmt waren, das rechts an der Straße lag.

Vorerst sammelten wir uns in der nahen Moltkekaserne der Matrosenartillerie und stellten auf dem Wege dorthin fest, dass das größte Dorf im Pachtgebiet, Taitungtschen, von den Chinesen fast völlig geräumt war. Sonst war dort ein lebhafter Markt und ein stetes Kommen und Gehen. Lebensmittel wurden feilgeboten und in der »benachbarten« Garküche mit Hundefett gebraten. Einer ließ sich im Freien balbieren, ein anderer vom Zahnarzt betreuen, wieder andere spielten hockend Mah Yong. Es war kein guter Duft, den der Markt verbreitete, aber es war interessant, ihn zu besuchen. Das Dorf lag unmittelbar hinter dem Haupthindernis und musste von den Kämpfen in Mitleidenschaft gezogen werden; wenn es auch von den meisten Chinesen geräumt war, mussten doch viele ihr Leben lassen, weil sie glaubten, in den kellerlosen Hütten Schutz genug zu finden.
In der Moltke-Kaserne fehlte vor allem Vizefeldwebel der Reserve Walter, mit dem ich vor zwei Tagen so gut gefrühstückt hatte. Wir wussten nur, das er, in eine Schießerei verwickelt, zurückgeblieben war und dachten an Verwundung und Gefangenschaft. Aber später hörten wir, dass er gefallen war. – Vielleicht hatte er den Tod gesucht! –
Schon von der Straße aus hatten wir gesehen, dass Hsiauwutschiatsun dem Erdboden gleichgemacht worden war, um für IW III und IW IV gutes Schussfeld zu schaffen. Wie oft hatten wir von IW III aus im Frieden nach dem Dörfchen »zielen« müssen! Auch das Haipo-Wäldchen war verschwunden, eine Anpflanzung an dem Flüsschen Haipo, das direkt vor dem Haupthindernis sein Bett hatte und sicher vermint worden war.
In diesem Zusammenhang schrieb mir mein Miteinjähriger und Kamerad Kluge, der sich in Prien am Chiemsee zur Ruhe gesetzt hat:4

Nachdem etwa Mitte September eine Erkundung des Geländes durch Hauptmann Lancelle, Leutnant Boesler, Gefreiten Thon und mich stattgefunden hatte, wurden die Prinz-Heinrich-Berge etwa am 24. September durch einen Zug von Freiwilligen der 2. Kompagnie des III. Seebataillons – 64 Mann – unter Führung von Oberleutnant Grabow und Leutnant Boesler besetzt. Die Besatzung verteilte sich auf fünf Posten, die sich auf verschiedenen Gipfeln einnisteten. Wir bauten die Stellungen, so gut es ging, aus mit Sandsäcken etc., und im Morgengrauen des 28. September erfolgte der japanische Angriff.
Er führte nach etwa vierstündigem Gefecht zur Ausräucherung der verschiedenen Posten, die alle in Gefangenschaft gerieten bis auf den Posten unter Sergeant Pauly, der am weitestem zurücklag. Pauly konnte sich mit seinen Leuten nach Tsingtau durchschlagen. Der Rest wurde in einem Fußmarsch durch das chinesische Hinterland zur Küste gebracht, und zwar in etwa einer Woche. Wir trafen Anfang Oktober in Kurume als die ersten deutschen Kriegsgefangenen im Tempellager ein.

Unter den Kriegsgefangenen des »Adlernestes«, wie man diesen Teil der Prinz-Heinrich-Berge nannte, befand sich auch mein Einjährigen-Kamerad Hafels, der mit mir und Kluge in der gleichen Pension, im »Hotel Zur Eiche« bei Basse in Tsingtau wohnte. (Er ist in Brüssel mit dem Auto tödlich verunglückt!)
Der besetzte Teil der Prinz-Heinrich-Berge, das Adlernest oberhalb Schantungtou, bot einen glänzenden Einblick in die Bewegungen des Feindes im Tschangtsun-Flusstal bis nach Schantungtou am Meer. Dies wussten natürlich die Japaner auch, die wahrscheinlich durch chinesische Spione aufmerksam gemacht und geführt worden waren; sie nahmen daher das Adlernest, das telefonisch mit Tsingtau verbunden war.
 

Anmerkungen

11 [Im Original:] »Anmerkung meines Kriegskameraden Eckert: Nach chinesischer Auffassung können sich Geister nur geradeaus bewegen. Die erwähnte ›Querwand gibt es in jedem altchinesischen Haus; man nennt sie Geisterwand. Gartenwege, die auf das Haus zulaufen, sind daher immer im Zickzack angelegt.«

2. Nachdem sehr viel mehr über den »Vernichtungskrieg« bekannt wurde, den die Wehrmacht vor allem in Russland geführt hat, ist die »Diffamierungs«-Beschwerde sicherlich nicht mehr haltbar

3. Die meisten »Parolen« sind in der Kriegschronik aufgeführt.

4. Siehe dazu auch den Bericht von Kluge.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
Zuletzt geändert am .