Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

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»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 9: Heimreise (1920)
 

Hinweise des Redakteurs
 
Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden neunten Teil wird über die letzten Tage in Japan berichtet sowie über die zweimonatige Heimreise.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)
    1. In Moji und Kobe
    2. Von Kobe nach Sabang
    3. Von Sabang nach Wilhelmshaven

 

a) In Moji und Kobe

3. Januar 1920 (Samstag). – Auf der Himalaya Maru zwischen Moji und Kobe.
Wie aus der Überschrift zu ersehen ist, schwimmen wir bereits; ich sitze unten im Zwischendeck, ganz vorn im Vorschiff am Backstisch und will versuchen, kurz die Fülle der Eindrücke festzuhalten, die in den letzten Tagen auf mich einstürmten.
Tage, mich dünkt es, Wochen sind verflossen, soviel habe ich erlebt. Der Reihe nach will ich alles erzählen, obwohl draußen die herrlich-schöne Inlandsee lockt. Aber ich fürchte, mit meinen Aufzeichnungen zu sehr im Rückstand zu bleiben, zumal wir heute noch nach Kobe kommen sollen.
Am Mittwoch, dem 31. Dezember 1919 hatte mich Eggerss zum Abschiedsessen in seine neue Stube in der Offiziersbaracke eingeladen. Wir waren neun Leute, ungefähr dieselben, mit denen ich Weihnachten gefeiert hatte. Es gab einen herrlichen Schmorbraten, sodass ich das Essen in der Gefangenschaft in besserer Erinnerung behielt, als es verdiente. (Eben fuhr die Empress of Russia, ein großer Dampfer, an uns vorbei!)
Beim Essen herrschte richtige Abschiedsstimmung, denn ganz wohl war auch denen, die zurückblieben, nicht zumute! Es war ein allgemeines Abschiednehmen, das einem von manchem Kameraden doch recht schwer fiel. Einerseits freute man sich unbändig, aus der furchtbaren Enge herauszukommen, die Aussicht zu haben, in Kürze frei zu sein und die Heimat und die Lieben wiederzusehen; andererseits hatte man doch ein merkwürdiges Gefühl um die Augen, wenn man sich von den Leuten verabschiedete, mit denen man fünf Jahre hindurch alle Nöte und die wenigen Freuden der Gefangenschaft geteilt hatte.

Endlich war es soweit, dass wir abmarschieren sollten. Zum letzten Mai ertönte für uns das japanische Signal zum Antreten, begleitet von dem johlenden Geschrei der 800 Abreisenden. Das Wetter war übel, ich erzählte schon vom Schnee, der uns ein wenig weihnachtlich stimmen sollte. Nun war es ein schlimmer Matsch geworden, den wir, eine halbe Stunde vor dem Lager stehend, richtig genossen. Der »alte« Herrmann, der zurückblieb, blies uns auf seiner Trompete das schöne Lied nach, das noch häufig angestimmt wurde: »Holderi, jetzt geht's zur Heimat!«, und ohne Rührung zogen wir von der gastlichen, drahtumzäunten Stätte.
Wie das Wetter, war auch der Weg übel. Die Bevölkerung stand vor den Läden und nahm außer einigen Sayonaras wenig Notiz von uns.
Nach eineinviertel Stunden waren wir glücklich am Bahnhof. Dort ging die übliche Warterei los, die man vom deutschen Militär kennt, und war schließlich in seinem Wagen verstaut; ich war in Wagen Nr. l verstaut, da man sich kaum rühren konnte. Denn die japanischen Wagen waren natürlich für uns Europäer zu eng und winzig. Schließlich ging es ganz leidlich, und wir brachten es sogar fertig zu schlafen.
Nachdem wir uns von den Kameraden verabschiedet hatten, die sich verbotenerweise mit an den Bahnhof gemogelt hatten, fuhr um 10:34 Uhr nachts der Zug los – im Schneckentempo, denn bis Moji sind es nur 100 km und wir fuhren siebeneinhalb Stunden!
Gegen 12 Uhr, zwischen Toru und Hakate, begrüßten wir mit einem Schluck japanischen Cognaks das neue Jahr. Von der Gegend kann ich nichts berichten außer von riesigen Hochofenanlagen in Wakamatsu zwischen Hakata und Moji.

Um 5:53 Uhr fuhren wir im Bahnhof von Moji ein und wurden von unsern Ober und Hauptmann empfangen, also am 1. Januar 1920 (Donnerstag)! Kaum waren wir angetreten, als das elektrische Licht ausging, was in Japan öfter vorkommt. Ganz Moji lag im Dunkeln!
Auf dem Platz vor dem Bahnhof standen wir sinnlos im Dreck, ungefähr eine Stunde lang. Als es gegen 7 Uhr zu tagen begann, führte man uns – warum weiss ich nicht – in einem viertelstündigen Marsch durch die Stadt zur YMCA-Halle, dem Versammlungsraum des Vereins Christlicher Junger Männer – so etwas gibt es nämlich auch in Japan! Es war ein schmuckloser großer Saal mit Stühlen in einer Ecke, die gleich besetzt wurden.
Da saßen wir nun, gerädert und in einer Stimmung, die alles andere eher war als Freiheitsgefühl. Nur ein paar Witzbolde sorgten für den nötigen Humor. So stand einer auf und rief mit Stentorstimme: »Alles mal herhören!« – Totenstille! – »Kann mir einer der Herren vielleicht sagen, warum wir hier sind?« Diese Frage wurde mit brüllendem Gelächter beantwortet, denn es war keiner da, der sich Befehlsgewalt angemaßt hätte.
Endlich hieß es, niemand wusste von wem: »Alles raus!« Also gingen alle raus! Auf einem freien, sehr nassen Platz in der Nähe wurde halt gemacht, und dies sollte die denkwürdige Stelle sein, wo unsere Freilassung erfolgte.

Um 8 Uhr kam ein Herr Kestner vom Hilfsausschuss, beauftragt vom Schweizer Geschäftsträger, und rief jeden einzeln auf. Dann kam eine Rede, die mit einem Hurra auf Freiheit und Vaterland schloss. Schriftstücke wurden zwischen den Japanern und dem Deutschen ausgetauscht, und wir schieden von der nassen, für uns historischen Stätte. Nach kurzem Marsch kamen wir zum Hafen, wo wir in Leichtern zur Himalaya Maru gebracht wurden, die uns nach Deutschland bringen sollte.
Vom Schiff und meinem Ausflug nach Moji ein anderes Mal, denn jetzt heißt es landfertig machen für Kobe!

4. Januar 1920 (Sonntag ) morgens im Centralhotel zu Kobe. –
Nach einer denkwürdig verbrachten Nacht im Hafen Kobe, wo wir gestern um 2 Uhr nachmittags ankamen, sitze ich mit fünf Kameraden beim Frühstück. Was ich erlebte, erzähle ich in einer ruhigen Stunde an Bord. Heute nachmittag fahren wir unmittelbar nach Singapore, und hoffentlich finde ich Zeit, das nachzuholen, was ich in den letzten drei Tagen erlebt habe. Heute morgen noch ein wenig »shopping«, dann geht's wieder aufs Wasser.
Es ist doch schön, die Freiheit zu haben, an die man sich so schnell gewöhnt!?

Nachmittags im Café Paulista zu Kobe. –
Unsere Abfahrt hat sich angeblich wegen eines Zusammenstoßes verzögert. Wir fahren erst morgen, um 10 Uhr früh muss alles an Bord sein. Ich werde heute abend um 6 Uhr wieder an Bord gehen.

Am Abend an Bord der Himalaya Maru. –
Ich blättere zurück und fahre in der Beschreibung meiner Erlebnisse am 1. Januar fort. Das erste an Bord des ungefähr 5000 tons großen Dampfers war das Aufsuchen der Koje, d.h. des Platzes, den ich für ungefähr acht Wochen mein Eigen nennen durfte.
Wir Unteroffiziere sind im Vorschiff untergebracht, unmittelbar hinter dem Ankerkettenraum. Es ist natürlich eng, aber nicht ganz so schlimm, wie man es sich in Kurume vorgestellt hatte. Die Betten waren vorher genau verteilt worden, wozu wir im neuen Deutschland die Vertrauens-Ausschüsse haben, sodass man sich um den Platz nicht zu streiten brauchte. Unangenehm war nur, dass in unserm Raum der Kühlbehälter für das Fleisch etc. ist, was jetzt schon einen unangenehmen, üblen Geruch verbreitete. Bei größerer Hitze konnte das schlimm werden!
Es dauerte nicht lange, bis ich mich eingerichtet hatte, ein Bett bzw. Matratze lag über und neben Matratze. Inzwischen war es 12 Uhr geworden, und es gab das erste Mittagessen an Bord, eine kräftige Erbensuppe. Wie ich danach ein wenig auf Deck herumschlenderte, um das Schiff zu inspizieren, kam ich ans Fallreep und sah unten eine Pinasse mit Leuten abfahren. Nanu, dachte ich laut: »Gibt's Landurlaub?« Da wurde mir, dem in der Gefangenschaft Umfangenen, bedeutet, dass wir jetzt Zivilisten seien und es jedem freistünde, an Land zu gehen oder nicht. Eine Erlaubnis brauche man nicht!

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, machte mich landfertig, d.h. ich putzte notdürftig meine Schuhe, und in 10 Minuten war ich mit der nächten Pinasse an Land geschaukelt.
Es war auch in Japan der erste Neujahrstag, der höchste Feiertag. Die Läden waren alle geschlossen und die Haustüren mit frischem Piniengrün, mit gedrehten Strohseilen, Mandarinen, merkwürdig zugespitzten Bambuspfählen geschmückt. Große Geschäfte hatten besondere Neujahrsauslagen, in den Hausfluren standen auf geschmückten Tischen Schalen mit Besuchskarten.
Was aber die Hauptsache war: Jede zweite Mannsperson war betrunken! Vom leicht geröteten Schädel bis zum torkelnden Schiffsgang, vom stur Dahinblickenden bis zum wie irrsinnig Gröhlenden: Alle Typen von Betrunkenen konnte man sehen. Wir wurden kaum belästigt, teilweise freundlich begrüßt mit »A happy New Year!« Mancher Seesoldat hatte auch Dusel und wurde die ganze Nacht freigehalten; jedenfalls war von einer Feindseligkeit der Bevölkerung keine Rede!

In Moji ist nicht viel zu sehen; es ist ein übles, dreckiges Kohlennest, von dem wir umso weniger hatten, als infolge der Feiertage die Stadt ein außergewöhnlich ungemütliches Aussehen hatte. Im Übrigen gleicht, wie ich mir sagen ließ, eine Hafenstadt in Japan der anderen; nur hat in der einen der europäische Stil die alte Bauart mehr verdrängt. Die Schiffsagenturen, öffentlichen Gebäude, Banken und dergleichen sind Paläste, wie wir sie von Europa her kennen. In Moji gab es natürlich weniger als in Kobe, wo ganze Straßenzüge am Bund europäischen Charakter tragen.
Wir durchstreiften die Stadt nach allen Richtungen und erklommen einen der Hügel, die wie in Kobe unmittelbar hinter Moji emporstiegen. Hier hatten wir einen schönen Fernblick auf die Meeresstraße, wo viele Dampfer lagen – japanische, schwedische, russische und ein Holländer –, und auf das gegenüber liegende Schimonoseki.
Um 5 Uhr nachmittags fuhren wir mit der Pinasse wieder zurück, überzeugt, nichts Wichtiges in Moji versäumt zu haben, froh, wieder Deck unter den Füßen zu haben, denn ich war müde, so hundemüde wie seit Jahren nicht mehr. Von mangelndem Schlaf, vom vielen Sehen, vom ungewohnten Erleben schlossen sich mir die Augen, als wir nach dem köstlichen Schmorbraten einen Doppelkopf auflegten.
Genauso wie mir jetzt die Augen zufallen, während ich bei Gehämmere und bei Geplaudere einen leidlichen Stimmungsbericht zu verfassen suche. Gute Nacht!

6. Januar 1920 (Dienstag ) abends auf der Fahrt nach Singapore. –
Kurz meine Erlebnisse vom 2. Januar 1920:
Am Morgen – noch immer lagen wir in Moji – richtete ich mich noch ein wenig ein. Das Wichtigste war, dass ich an der Decke zwei Leisten anbrachte, um meine Waschschüssel unterzubringen, was mir, auf meiner Koje auf dem Rücken liegend, mit Mühe gelang. Meine Koje liegt im ersten Stock; wenn ich hineingehen will, so muss ich auf die untere Koje treten und mich zwischen Borddecke und Koje hindurchwinden. Die Breite ist 60, die Länge 180 cm.
Unter den mannigfachen Arbeiten verging der Vormittag recht rasch. Ich hatte eigentlich vor, nach Schimonoseki hinüberzufahren, das durch regelmäßigen Fährbetrieb mit Moji verbunden war. Aber ich blieb, da es hieß, der Dampfer würde am Morgen fahren. Außerdem war es kühl und nebelig, was insofern angenehm war, als gekohlt wurde.

Nachmittags um 5 Uhr lichteten wir endlich die Anker, und es ging nach Nordosten durch sehr langen [Meeres-]Straßenausgang. Die vielen kleinen Inseln wurden allmählich in immer tieferes Dunkel gehüllt, bis nur ab und zu auftauchende Lichter die Nähe menschlicher Behausungen andeuteten.
Nach dem Abendessen gab es Sylvesterpunsch in der Feldwebelmesse mit Bekannten. Um 10 Uhr pflegt man hier zu Bett zu gehen und blendend zu schlafen, müde von Seeluft und Sehen.
Dienst gibt es natürlich nicht – wir sind ja Zivilisten! Nur Nachtwache muss geschoben werden, und ein wachthabender Unteroffizier muss den »Dienst«, z.B. das Essen, ansagen. Dieses ist ausgezeichnet, mindestens doppelt so gut wie unser Essen in der Gefangenschaft.– Aber die Seeluft macht auch hungrig!
Musterung gibt es nicht, nur der Raumälteste muss jeden Morgen melden, ob alles da ist, d.h. keiner über Bord gesprungen ist!

6. Januar 1920 [Fortsetzung] südlich von Schikoku im Stillen Ozean auf der Ankerkette am Bug. –
Am 3. Januar morgens fuhren wir durch die vielen kleinen Inseln der Inlandsee; wir taten es ja schon die ganze Nacht über. Aber erst das Tageslicht zeigte den schönen Anblick der aus dem Meer gewachsenen Inselchen. Wie Kegel die einen, wie Elefanten- oder Kamelrücken die andern, boten sie mit ihren teils kahlen, teils kümmerlich mit Gras bewachsenen Felsen einen merkwürdig anziehenden Anblick. Wie einer Spielzeugschachtel entnommen, waren kleine Häuschen am Strand aufgestellt, ragte ein winziger Leuchtturm in die Höhe.
Hier sah man viele kleine Segler – Fischersampans! –, dort kreuzte ein Küstendampfer unsern Weg. So gab es dauernd etwas zu sehen. Die Empress of Russia, von der ich neulich schon geschrieben habe, einer der großen Canada-Pacific-Luxusdampfer, fuhr, von Schanghai kommend, vorbei und überholte uns.
Gegen Mittag wurde die See belebter, die kleinen Inseln verschwanden allmählich, und wir fuhren an Hondo entlang, einer der Hauptinseln.

Um halb 2 Uhr kam Kobe in Sicht, und in ziemlich langwierigen Manövern wandten wir uns, an den Wellenbrechern vorbei, zum Ankerplatz, einer Eisenboje in der Nähe der großen Hellinge der Kawasaki Dockyard Kaisha. Der Hafen lag voll von Schiffen, durch die wir uns hindurchwinden mussten. Unmittelbar hinter Kobe stiegen die Hügel empor, deren einer einen aus Bäumen gewachsenen Anker trug. Es erstreckte sich in großer Breitenausdehnung wie Hongkong, war aber nicht so steil.
Als der Dampfer festgemacht hatte, drängte natürlich alles, um möglichst bald an Land zu kommen; aber wir wussten von der Ausreise her, dass die Erledigung der nötigen Formalitäten ein paar Stunden dauerte. So standen wir 2 Stunden im kalten Westwind am Fallreep!
Schließlich wurde es uns zu dumm, und wir gingen unter Deck. Hier aßen wir die als Abendbrot gelieferte Büchse Ölsardinen und nahmen als Löhnung für drei Tage Yen 1,50 in Empfang.
Ich hatte mich zum Zivilisten gemacht: Hose ohne Biesen, Extra-Litewka ohne Abzeichen, mit Kragen, Schlips und Zivilhut! Anderes Zivilzeug habe ich ja nicht.

Als wir am 3. Januar 1920 nachmittags um 5 Uhr an Deck kamen, waren zwei Barkassen mit je 100 Mann unterwegs, und noch warteten Hunderte an den Strickleitern, da unser Fallreep in Moji kaputt gefahren worden war. Durch einen Zufall gelang es uns, uns durchzudrängeln und in ein Sampan zu klettern, in dem die Überfahrt allerdings 20 Sen kostete.
Wir landeten in einer finsteren Hafengegend, hatten aber eine ungefähre Orientierung, die in Kobe nicht schwer ist, da man auf der einen Seite die Hügel, auf der andern den Hafen hat. So kamen wir bald in eine Straße, deren Namen ich nicht weiß, mit einem riesigen Verkehr an Elektrischen, die alle überfüllt waren. Rechts und links waren große Bankhäuser und Agenturen; es war ein solcher Umtrieb, dass man aufpassen musste, um nicht unter die Räder zu kommen.
Parallel zu dieser Straße führte die Hauptgeschäftsstraße, die Motomachi. Infolge des Neujahrsfestes, das in Japan vier Tage dauert, waren die Läden geschlossen, aber es war ein Riesenbetrieb mit Rikshas und Fußgängern, Japanern und Europäern.

Wir hatten uns vorgenommen, wieder einmal »anständig« zu Abend zu essen. Das beste Hotel, »Oriental Hotel«, war uns Deutschen aus leicht einzusehenden Gründen verschlossen, und auch das »Torii Hotel« sollte Schwierigkeiten machen. So blieb uns nur das von einem Deutsch-Österreicher geleitete »Central Hotel«, wo wir leidlich gut und billig zu Abend aßen, seit Jahren wieder einmal, wenn auch von japanischen Boys ordentlich bedient. Im Übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass man in guten japanischen Restaurants, eventuell nach europäischer Art, erheblich besser isst.
Im »Central Hotel« war Großbetrieb, sodass wir uns bald drückten. Wir zogen, sechs Mann hoch, gegen 8 Uhr in ein japanisches Kino. Da ich mich dauernd mit einem jungen Japaner unterhielt, der neben mir saß und recht gut Deutsch sprach, verstand ich vom Bild selbst wenig. Dieser Japaner sollte uns durch das nächtliche Kobe führen. Solche Japaner gibt es übrigens überall; sie heben Deutschland in den Himmel, sind sehr »sorry«, dass es zwischen Japan und Deutschland zum Kriege kam. Sie schimpfen über Amerika, verfluchen England und sprechen verächtlich über Frankreich und China; sie betonen die Notwendigkeit deutsch-japanischer Freundschaft.
Wir gingen über all dies hinweg und gaben dem Japaner recht, der als gewöhnlicher japanischer Bürger politisch recht gut orientiert schien. Ich machte z.B. den Japaner auf einen kleinen, niedlichen Chinesenjungen aufmerksam, der mit seinen Eltern an uns vorüberging. Der Japaner meinte nur kurz: »Yes, he is anti-japanese!« Diesem Japaner machten wir klar, dass wir gern ein japanisches Teehaus mit Geishas sehen möchten, was er schnell begriff, da er schon einmal acht Tage vorher Deutsche geführt hatte.

7. Januar 1920 morgens (Mittwoch) an An Bord der »Himalaya Maru«. –
Um in der Schilderung der Erlebnisse in der Nacht vom 4. Januar 1920 fortzufahren:
Selbiger Japaner führte uns also durch verschiedene Straßen und Gassen, bis wir an einem Teehaus in einem Gässchen landeten. Ehe wir in die geheiligten, nur mit Strümpfen zu betretenden Räume eingingen, hub mit dem Teehausbesitzer ein großes Feilschen an! Unsere Bedingungen waren: sechs Geishas mit Musik und Tanz, außerdem für uns Übernachten! Wir wollten nämlich nicht mehr zum Dampfer zurück und hatten keine Unterkunft für die Nacht! Nach langem Hin und Her, wobei der Japaner dolmetschte, einigten wir uns auf fünf Yen die Person, wobei Essen und Trinken besonders bezahlt wurden und der Japaner auf unsere Rechnung ging.
Die Schuhe wurden abgelegt, und es ging zu den oberen Räumen, die alle nur Tische – sehr niedrig – und einen Wandschirm auf Tatamis enthielten, wie das in Japan üblich ist. Wir ließen uns rund um den Tisch nieder, aber nicht wie die Japaner auf die Knie, weil dies für uns ermüdend ist. Dienerinnen brachten Hibatchis mit glühenden Holzkohlen, warmer Sake wurde in Porzellanfläschchen auf den Tisch gestellt, Schälchen zum Trinken und Gebäck wurde gebracht.

Es dauerte nicht lange, da erschienen die Geishas und ließen sich in bunter Reihe zwischen uns nieder. Die Mädchen hatten kunstvoll aufgebautes Haar, das Gesicht leicht gepudert, die Lippen gefärbt; den farbigen seidenen Kimono hielten mit Gold durchwirkte Obis zusammen. Einige waren jung und hübsch, einige weniger; aber alle benahmen sich sehr anständig, kredenzten uns den Sake und tranken ab und zu ein Schlückchen.
Später kommende Fräuleins nahmen ihre Schamisen heraus, eine Zupfgeige mit elfenbeinernen Decken und drei Saiten, die von einem Elfenbein angerissen wurden. Erst wurde uns etwas vorgesungen oder vielmehr gezirpt, sicher etwas Unanständiges, da der Japaner keine Scham kennt! Dann tanzten die kleinen Geishas, streckten und wandten sich, stampften mit den Füßchen, bogen die kleinen Händchen zu der merkwürdig rythmischen Musik.
Das alles sah sehr niedlich aus, und zwischendurch unterhielten wir uns in recht ulkiger Weise; denn wir alle konnten nur sehr notdürftig japanisch. So musste der Japaner dolmetschen oder die Zeichensprache helfen, wenn z.B. unsere Größe bestaunt wurde und die Finger verglichen wurden.

Als gegen ein Uhr die Mädchen gingen, waren wir in einer richtigen Drallstimmung, die auch dadurch nicht beeinträchtigt wurde, dass der Wirt den Versuch machte, uns mehr Geld abzunehmen, als vereinbart war. Schließlich war es soweit, dass wir uns schlafen legten; da ein Teehaus kein Hotel ist und keine Nachtgäste beherbergen darf, mussten wir den Anschein erwecken, als seien wir vom Sake betrunken. Wir legten uns alle sechs auf die Strohmatten nieder, und der Wirt warf alles,was er an Decken hatte, auf uns, auf dass wir recht warm lagen. Obendrauf kam noch ein großes, weiß-blaues Tuch, mit dem die Japaner ihre Läden zu verhängen pflegten.
Als alles fertig war, kroch auch der Japaner darunter, der uns geführt hatte. Es war wirklich sehr komisch, als er ganz trocken meinte: »It's the first time, I sleep with Germans!« Nachdem das Eigenartige der Lage noch genügend belacht war, schliefen wir ein. Nur einmal in der Nacht wachte ich auf, als der Japaner, der ganz am anderen Ende lag, sich erhob und mit den Worten wegging: »Velly solly, velly solly, I feel velly cold!«
(Das Schiff fängt an zu schaukeln; wir sind auf der Höhe der Riu-Kiu-Inseln.)

Am 8. Januar [1920] nachmittags, bei unruhiger See an Bord, der Tisch fängt an zu schwanken!
Am Morgen des 4. Januar 1920 erwachte ich mit etwas steifen Gliedern von mächtigem englischen Geschimpfe, das einer von uns im unteren Raum vollbrachte. Ich hörte etwas von »shoes stolen, police, wicked fool« usw., war sofort im Bilde und glaubte, dass der Japaner im Weggehen unsere Schuhe mitgenommen hätte, um sich bezahlt zu machen. Ich sah mich schon im Geiste auf Holzgetas, zierlich wie eine Japanerin, durch die Straßen Kobes wandeln und berechnete schon die Mehrausgabe von 10 Yen für ein paar Halbschuhe, als sich herausstellte, dass nur die Schuhe des Betreffenden fehlten! Wesentlich beruhigter erhoben wir andern fünf uns, da wurden auch die fehlenden Schuhe gefunden!

Es war früh 7 Uhr, und unter Führung unseres Wirts zogen wir in ein japanisches Badehaus, wo schon ein Riesenbetrieb war. In einem Vorraum legten wir unsere Kleider ab und gingen dann in den ausgekachelten Baderaum, wo wir ein Holztönnchen heißes Wasser holten und uns gründlich abseiften. Wir spülten uns ab und stiegen vorsichtig — denn das Wasser hat über 40 Grad! – in das drei mal drei Meter große Bassin, an dessen Rand man sich auf Holzbänke niedersetzte und zwar so, dass nur der Kopf herausschaute. Ungewohnt, wie uns das heiße Bad war, blieben wir nur zwei bis drei Minuten drin sitzen und kleideten uns nach einer kalten Dusche wieder an. Die Frauen badeten nebenan hinter einer Bretterwand.
Wir verabschiedeten uns von unserm Wirt, der bei aller versuchten Beutelschneiderei ein ganz anständiger Kerl war, und gingen ins »Centralhotel«, wo wir gut und ausgiebig frühstückten. (Ich muss erwähnen, dass ich dort das W.C. besuchte, eine Einrichtung, die ich seit ungefähr fünfeinhalb Jahren nicht mehr benützt hatte!). Unser Frühstück dehnten wir bis 10 Uhr aus, und hierauf besorgten wir einiges in der Motomachi.

Gegen 11 Uhr gingen wir ins Café Orient, das die Deutschen Kobes für uns Himalaya-Leute gemietet hatten. Am Vortage hatte es dort schon, wie wir erfuhren, Kaffee und Kuchen umsonst gegeben. Nun wurde ein ordentlicher Lunch, bestehend aus kaltem Roastbeef, Krautsalat, Brot und Butter mit Bier gereicht, und zwar von ganz kleinen blonden und braunen deutschen Mädeln!
Wie lachte mir das Herz, als ich wieder einmal deutsche Laute von feinen Stimmchen hörte, nachdem ich jahrelang nur an rauhe Seemannskehlen gewöhnt war, wie freute ich mich, als ich blonde und braune Haare, blaue und braune Augen sah! Wie selbstbewusst traten die Kleinen auf, wie kommandierten sie die Boys, und wie lieb und freundlich waren sie zu uns! All das erscheint mir wert, aufgezeichnet zu werden, z.B. wie ich erschrak, als mich so ein dünnes Stimmchen fragte, ob ein Stuhl besetzt sei! Und dann kamen, auch mit ihren hohen Stimmen, die deutschen Mütter, die man garnicht oder nur verstohlen anzugucken wagte, weil man ihnen lästig zu fallen glaubte. Das Klima, der heiße Sommer, scheint sie sehr anzugreifen, während die Männer durchweg recht wohlgenährt aussahen!

Nachdem wir im Café Orient Leib und Seele gestärkt hatten, machten wir einen kleinen Spaziergang in die Berge, den wir so anlegten, dass wir am Westteil wieder in Kobe herauskamen bzw. hineinkamen. An den Bergen lagen die vornehmen, neuen Nariki- (= Kriegsgewinnler) Häuser, erbaut in einer nicht unschönen Mischung von japanischem und europäischem Stil.
Auf unserm Wege lag auch ein mit Gold und Porzellanfiguren verzierter Tempel. Wir begegneten dem Neujahrszug eines Bonzen, der ein höherer Geistlicher gewesen sein muss, da ihm eine Menge Priester folgten.
Schließlich landeten wir im Café Paulista, einem japanischen, aber europäisch modern eingerichteten Lokal und lasen den neuesten »Chronicle«. Wir hörten von Influenza, Sturm und Wassersnot in Europa und fuhren um 5 Uhr nachmittags an Bord, wo wir gerade zum Abendsessen zurecht kamen.

Nachdem ich noch geschrieben hatte, legte ich mich in die Koje mit der festen Meinung, auch Kobe nach allen Seiten hin genossen zu haben – etwas Sehenswertes gab es auch dort nicht! – und mit dem Willen, am nächsten Tage, am 5. Januar 1920, nicht mehr von Bord zu gehen.
Aber – der Deutsche denkt, und der Japaner lenkt, was wir fünf Jahre hindurch erfahren hatten. Kaum war ich nämlich aufgestanden, so wurden über uns die Ladeluken aufgerissen, was bedeutete, dass durch unseren Raum hindurch geladen wurde. In der Tat wurden bei uns »Backen und Banken« weggeräumt, und die Bretter, die den Boden bildeten, wurden weggenommen und nun blickten wir in einen unendlich tiefen Raum, dessen Grund kaum durch Fässer bedeckt war –Asphalt für London, sagte man uns.
Das war mir doch zu ungemütlich! Wie ich war, ein Jam-Brot in der Hand, stürzte ich die Strickleiter hinunter und fasste mit dem einen Fuß gerade noch den Rand der abfahrenden Pinasse, in die mir hilfsbereite Hände hinein halfen. Bei einem Haufen von Leichtern legten wir an, über die wir erst hinwegklettern mussten, um an Land zu kommen.
Unser erster Gang war zum Badehaus, um bei den dürftigen Wasserverhältnissen an Bord noch einmal heiß zu baden; ein anschließendes Frühstück in einem ausgezeichneten japanischen Restaurant beendete meinen Aufenthalt in Kobe, und um 11 Uhr vormittags fuhr ich mit der Pinasse vom American Hatoban zum Dampfer, der um 12 Uhr in See stechen sollte.
 

b) Von Kobe nach Sabang

Am 9. Januar 1920 frühmorgens (Freitag) bei herrlichem Wetter auf dem Bugspriet. –
Ich schrieb, dass wir am 5. Januar 1920 um 12 Uhr mittags in See gehen sollten; aber um 2 Uhr kam noch ein Leichter mit dickem Kampferholz längsseit, das im Schiffsrumpf verschwinden musste, und um 4 Uhr wurden noch 2 Kranke, ein Nervenkranker und ein Genickstarre-Verdächtiger, von Bord gebracht.
Dann machten wir endlich los; aber vor dem Hafen warteten wir eine Stunde, bis unser Arzt in einer Pinasse ankam, der mit Mühe seine Kranken losgeworden war. Er war übrigens ein aus Sibirien geflohener Deutscher!
Um halb 6 Uhr nachmittags fuhren wir endlich los, mit jeder Schraubenumdrehung der Heimat und den Lieben zuhause näher!

Abends ging ich bald zu Bett, denn meine Müdigkeit, verursacht durch das ungewohnte Erleben, war nicht geringer geworden. Ich schlief glänzend und stand erfrischt am 6. Januar 1920 um 7 Uhr morgens auf, als der »Wiederholer« sein »Aufstehen« in den Raum rief.
Allmählich entschwanden die letzten Inseln aus unserm Gesichtskreis. Ohne sie zu sehen, fuhren wir an der Ostseite der Insel Schikoku entlang, also im Stillen Ozean, der seinem Namen alle Ehre machte. Zwar frühmorgens schaukelte eine leichte Dünung, das ist die ewige Wellenbewegung, die das Rauschen des Meeres am Strand verursacht, unsern Kahn. Wir hatten ja zu wenig geladen und lagen ziemlich hoch aus dem Wasser. Allein am Spätnachmittag hatten wir eine im wahrsten Sinne des Wortes spiegelglatte, bedenklich glatte See. Wir näherten uns der Südspitze von Schikoku und fuhren am Abend ganz dicht an zwei vorgelagerten Inseln vorbei, anscheinend in der Nacht durch die Colnettstraße ins Chinesische Meer.

Der Morgen des 7. Januar 1920 brachte ziemlich böiges Wetter, die Wellen zeigten weiße Schaumkronen, und ein kalter Wind wehte uns entgegen. In grauen Dunst gehüllt, bot der Horizont ein düsteres, unheilvolles Aussehen; erfahrene Seeleute, deren wir hier eine Menge hatten, sagten schlechtes Wetter voraus. Und es wurde wirklich so!
Schon beim Mittagessen war die Back nicht mehr ganz vollzählig und der größte Teil opferte im Laufe des Nachmittags Wind und Wellen die Mohrrübensuppe mit frischem Fleisch von Schweinen, die wir aus Kobe mitgenommen hatten; denn das Schiff fing an, gewaltig zu schaukeln: von vorn nach hinten, von rechts nach links, es schlingerte, mahlte, kurz: es machte alle die Bewegungen, für die der Seemann die merkwürdigsten, aber treffendsten Namen erfunden hat.
Ich wartete immer darauf, dass auch bei mir sich der Magen melden würde; aber nichts dergleichen geschah, und so konnte ich das herrlichste Schauspiel genießen. Mittschiffs stehend, sah ich, wie es das Schiff einmal hinauf hob auf den Berg einer Welle, wie es dann hinabschlitterte in ein Tal, wie ein Schlitten einen Schneeabhang hinabgleitet; wie sich die Wogen überstürzten und ineinander fielen; wie der Schiffskiel die Wände der Wellen zu durchschneiden suchte; wie diese von der Seite das Schiff trafen und der weiße Dampf der Gischt das Vorschiff den Blicken entzog.

So blieb ich eisern stehen, immer bedacht, das Gleichgewicht zu wahren, unangefochten von Wind und Wetter und dem Gekeuche der anderen, nur umgeben von ein paar Seefesten. Ab und zu aß ich ein Stückchen Brot, und als es 6 Uhr abends war, stieg ich hinunter in unsern Raum im Vor[schiff], um köstlichen, frischen Schweinebraten zu essen.
Da lag fast alles in der Koje und schaukelte hin und her; nur die »echte« Marine war da und erfreute sich wie ich der doppelten Portion. Wir aßen, ohne Bett natürlich, an der umgekippten Back, was mit allerlei Schwierigkeiten bei dem Schaukeln verknüpft war, das sich besonders im Vorschiff bemerkbar machte. Ich schöpfte noch eine Stunde frische Luft; denn unten war's fürchterlich!

Um 7 Uhr des 7. Januar 1920 ging ich in die Koje und rollte allmählich in den Schlaf, bis ich um 1 Uhr nachts von meinem ebenfalls seefesten Nachbarn – wir waren die einzigen im ganzen Block! – geweckt wurde: Feuerwache!
Das Schiff rollte wie toll! Als ich nach oben kam, pfiff mir ein eisiger Wind entgegen, und weiße Wolken flogen am Himmel entlang; ab und zu huschte ein fahles Mondlicht über Schiff und Wellen! Es war ein prächtiger Anblick, wie das Schiff auf und nieder tauchte, nur ein bißchen kalt, und darum wurden mir auch meine zwei Stunden recht lang. Ich war froh, als ich wieder in meiner Koje hin- und herrollte!

Am nächsten Tag, am 8. Januar 1920, blieb ich bis 10 Uhr im Bett. Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich wieder in der Falle frühstückte. Aber um 10 Uhr hielt ich's nimmer aus; ich ging nach oben und badete in einer Schale Wassers!
Der Wind hatte nachgelassen, aber der Kasten schaukelte noch ganz ordentlich. Wir hatten in 24 Stunden nur 142 Seemeilen = 5,9 Seemeilen die Stunde, während wir sonst eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 10,5 Meilen hatten. Mit Rücksicht auf die von uns geschaffenen Decksbauten – wie Küche, Bad, Kantine, W.C. – und die Passagiere war das Schiff nur halbe Kraft gelaufen, äußerte sich der Kapitän. Was der gute Mann – übrigens ein sehr feiner Cigarren und Pfeife rauchender Japaner – im Laufe des Tages alles behauptet haben soll, geht nicht auf die berühmte Kuhhaut! Aber die Leute mussten zu reden haben und dabei immer eine Autorität anführen können. Im Lager war es das Büro, hier an Bord ist es eben der Kapitän. Herdentrieb, der einen Leithammel sucht!
Gegen Abend wurde das Wetter immer besser, sodass die Abendmahlzeit von allen, wenn auch von den meisten in der Koje, verzehrt wurde, sehr zum Leidwesen der Seefesten, die sich schon auf den zweiten Klops gefreut hatten.
Ich muss gestehen, dass ich von meinem Klops nur die Hälfte hinunterbrachte, was folgende Bewandtnis hatte: In unserm Raum befindet sich bekanntlich der Kühlraum für Frischfleisch, die sogenannte Fleischlast. Wenn nun am Morgen die Tagesration geholt wird, so entströmt dieser Last ein Duft, der nicht ganz lieblich ist; so schmeckten die Klopse, wie ich mir vielleicht nur einbildete.

Am 8. Januar 1920 um 5 Uhr nachmittags fuhren wir ganz dicht an einem Sampan vorbei. Wir tuteten mächtig, um etwaige Insassen auf unsere Anwesenheit aufmerksam zu machen, aber es regte sich nichts! Anscheinend hatte der Sturm das Boot abgetrieben.
An und für sich erscheint es vielleicht lächerlich, dass ich von einer so geringfügigen Begebenheit überhaupt schreibe. Aber für uns an Bord war es ein Erlebnis: Erst kam das Boot in Sicht, und gleich wurden Vermutungen laut, ob es vielleicht Schiffbrüchige wären oder Fischer oder Schmuggler – was konnte man sich nicht alles ausdenken! Dann kam es näher: Der eine sah Menschen, der andere bestritt es, der Dritte beobachtete gar ein Winken – und schließlich konnte man sich selbst überzeugen, dass nichts in dem Sampan war.
Ich ging bald zu Bett, wenn man die Koje so nennen kann, und heute, am 9. Januar 1920, stand ich bald auf, womit mein Tagebuch »à jour« wäre.
Ich hatte mit derartiger Ausführlichkeit nicht gerechnet; aber unser Leben wird jetzt wieder eintöniger dahinfließen, wenn man sich auch im Lager angewöhnt hat, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen.

Am 10. Januar 1920 (Samstag) an Bord. –
Gestern hatten wir das herrlichste Wetter und fast keinen Wellengang. Dabei war achterlicher Wind von Steuerbord, das beste Fahrwetter, das man sich nach der Aussage der »echten« Seeleute wünschen konnte, die es ja wissen mussten.
Den Vormittag verbrachte ich mit Schreiben und damit, dass ich vom Bug aus ins Wasser starrte. Das konnte man hier stundenlang, ohne zu ermüden oder dass es einem langweilig wurde. Denn es gab immer etwas Neues: fliegende Fische, die mit gespannten, lichtblauen Flossen 10 bis 20 m weit durch die Luft sausten, Delphine, die ihre Schweinsköpfe aus dem Meer steckten, Tauchervögel oder -fische, die blitzschnell vorm Dampfer Reißaus nahmen.
Wir waren in der Nähe von Land, und zwar südlich der Straße von Formosa, wo plötzlich auftauchende Dschunken für Abwechslung sorgten. Ab und zu fuhr ein Dampfer vorbei – heute morgen einer an Steuerbord, eben ein Öldampfer an Backbord!

Es gab immer etwas zu sehen, und wenn mir die Zeit zu lang wurde, dann zog ich ein Buch aus der Tasche, einen langweiligen Thackeray – schon schlief ich in der unmöglichsten Stellung ein.
Eben, nachmittags um halb 2 Uhr, kamen Schiff voraus zwei Inseln in Sicht, deren Namen ich noch auf der Karte feststellen muss; denn kein Mensch wusste ihn, und nur soviel stand fest, dass es sich um der chinesischen Küste vorgelagerte Inseln handelte, in der Nähe von Swatau!
Wir haben bis heute mittag um 12 Uhr 11,5 Seemeilen im Durchschnitt gemacht, wie die Veröffentlichung der Schiffsleitung anzeigte, also eine ordentliche Leistung vollbracht, die uns der Heimat wesentlich näher gebracht hat.
Jetzt, nachmittags um 5 Uhr, fängt der Kasten an zu schaukeln, wahrscheinlich gibt es nach den zwei Tagen blendenden Wetters heute Nacht Regen.

Am 12. Januar 1920 (Montag) an Bord. –
Heute sind sechs Jahre verflossen, seit wir in Cuxhaven mit der Patricia abdampften, um Tsingtau zu erreichen.
Es wäre zu trübsinnig, wenn ich diesen Endpunkt eines Zeitraumes dazu benützen würde, um Betrachtungen über die Ereignisse in der Zwischenzeit anzustellen. Patricia ist heute kein deutscher Dampfer mehr, und wir fahren nach Hause – nicht einer siegreich jubelnden, sondern einer höhnisch-verzweiflungsvollen Heimat entgegen. Denn so erscheint mir die tolle und laute Vergnügungssucht zuhause wie die zu trotzigem Grinsen verzogene Maske eines am Boden Liegenden, dem der erbarmungslose Sieger mit dem Messer in der Faust auf der Brust kniet.
Aber wer weiß, zu was unsere Niederlage gut ist, trösten wir uns mit den Hellsehern! Wer offen sich selbst prüft, muss erstaunt sein, dass neben das Gefühl des Schmerzes über den Untergang von Ruhm und Ehre des Vaterlandes gar schnell eine große Hoffnungsfreude tritt, dass alles, woran wir Menschen leiden, woran vor allem Deutschland krankt, besser werden möge; dass aus der krassen Selbstsucht, die nur das Ich für lebens- und genussberechtigt hält, wie ein scheues Veilchen im Frühling das Pflänzlein »Gemeinsinn und Gemeinschaftsgefühl« emporsprießen möge.

Nichts hat mich in den letzten sechs Jahren mehr enttäuscht, als dass die Menschen durch die Lehren und Leiden der Kriegszeit nicht besser geworden sind. Rechts wie links ist nichts als blinder Hass, der aus Neid, Missgunst und Hass geboren ist.
Bei nüchterner Überlegung muss man sich ja sagen, dass die Menschen sich wohl nie ändern werden, jedenfalls nicht im Verlaufe weniger Jahre. Aber wir Deutsche sind nun einmal so – sagen wir – idealistisch, dass wir uns im Sturm der ersten Begeisterung die Verwirklichung alles Guten und Schönen erträumen. Das war 1914 so, das ist im November 1918 wieder so gewesen.
Zu diesen Gedanken, die ich garnicht wollte, wurde ich begeistert, als wir bei herrlichem Sonnenwetter irgendwo im südchinesischen Meer auf dem 15. Grad nördlicher Breite irgendwo herumgondelten.
Vom Bordleben zu berichten, wird sich noch oft Gelegenheit bieten; etwas Besonderes war inzwischen nicht vorgefallen.

Am Freitag, dem 16. Januar 1920 hoffen wir bei gutem Wetter in Singapore einzutreffen, denn die Tagesleistung (von 12 Uhr bis 12 Uhr mittags) war 1aut Anschlag 270 Seemeilen!

Am 13. Januar 1920 an Bord. –
Bisher hatte ich vermieden, ebenso wie es im letzten Jahr in Kurume meine Gewohnheit war, in meinen Tagebuchaufzeichnungen Persönliches zu besprechen. Denn man ist hier wenig abgeschlossen und hat außer der schweren Kiste unter der Koje nichts, wo einem der liebe Nachbar nicht hineingucken könnte.
Drum habe ich, von meinen politischen Ansichten abgesehen, es nicht gewagt, meine innersten Gedanken zu Papier zu bringen. Aber heute muss ich doch von einem nächtlichen Traum erzählen: Ich sei nachhause gekommen und wollte ein mir nahestehendes Mädchen aufsuchen, das mir in Briefen seine Liebe und Treue beteuert hatte. Es hat mich abgewiesen, und ich war sehr, sehr traurig! – Es wvar nur ein Traum, vielleicht Unsinn, vielleicht Wahrheit!

Abends. Wie ich schon öfters angedeutet habe, wird hier an Bord nach demokratischem Grundsatz »regiert«. Dazu gehört natürlich ein Vertrauensausschuss, der bereits in Kurume gebildet wurde und eine Menge Vorarbeiten leistete.
Dazu gehörte unter anderem die Einrichtung einer Kantine, und da dem Deutschen Reich im Ausland nicht ohne Weiteres ausreichende Kredite zur Verfügung stehen, musste die Zahl der mitzunehmenden Dinge beschränkt werden. Wichtige Lebens- und Rauchartikel wurden rationiert, d.h. jeder konnte nur eine gewisse Anzahl kaufen, damit nicht der Kapitalist bevorzugt und dem Zwischenhandel Tür und Tor geöffnet werde.
Nun ist aber das Essen wirklich hervorragend und ausreichend, sodass die Nachfrage das Angebot nicht annähernd erreicht, weshalb man anfing zu »entrationieren«! Der Vertrauensausschuss hatte auch aus sehr zu billigenden Gründen bestimmt, dass kein Alkohol an Bord kommen sollte. Nun, man kann trotzdem für 70 sen eine Flasche eisgekühltes Bier bekommen, und zwar beim japanischen Steward, der außer Whisky und Sake auch noch Koch- und Spiegeleier, Fleisch aller Art, frische Birnen und dergleichen zu mäßigen Preisen verkauft. So hilft der liebe Gott doch immer den Kapitalisten. Was mich persönlich anlangt, so habe ich mir das Biertrinken völlig abgewöhnt, und außer einigem frischen Obst kaufe ich zum Essen nichts hinzu.
Interessant ist, dass man die Offiziere nicht mit denselben Schiffen befördern ließ, mit denen die Mannschaften in die Heimat kommen; so kenne ich von den Offizieren niemand und weiß auch nicht, wie sie wohnen.
Droben an Deck werden Soldaten- und Matrosenlieder gesungen. Eine schöne Nordost-Brise bringt dauernde Kühlung und treibt unser Schiff munter vorwärts, der Heimat zu, an die ich immer denken muss, wenn ich von Bord ins Meer schaue. Vielleicht schreibe ich ein ander Mal darüber, was ich noch für Gedanken habe – heute ist mir der Lärm zu viel.

Am 14. Januar 1920 (Mittwoch) an Bord. –
Was ich schreiben werde, weiß ich noch nicht. Ich setze nur die Feder an, gehöre also zu den Skriblern und Schreibifaxen, die nur schreiben um des Schreibens willen, über die Schopenhauer mit Recht loszieht.
Gestern abend wollte ich etwas über das Meer schreiben. Man kann dauernd auf das Meer schauen, ohne zu ermüden. Die ewige Bewegung, das stete Auf und Nieder bieten dem Auge ein so wechselvolles Bild, dass man es niemals satt wird.

Am 15. Januar 1920 (Donnerstag) an Bord, 3 bis 5 Uhr morgens. –
Ich sitze hier unten in unserm Vorschiff und habe – Nachtwache! Es ist ziemlich heiß und eine fürchterliche Luft; aber Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps, sagte der Soldat und tat einen Zug aus der Pulle. Da die Feuerwache im allgemeinen Interesse ist, wie es hier vorsichtiger Weise bei jedem Befehl heißt, sitzt man eben seine zwei Stunden ab!
Man hört durchs offene Luk das Rauschen des Meeres, im Raum das Schnarchen der Kameraden, was zusammen ein liebliches Tönegewirr gibt, dazu kommt wie eine leise Pauke die Schiffsmaschine, und das Andante zur Seesymphonie ist fertig.
Vom Meer habe ich gestern nicht viel schreiben können; denn ich wurde gestört. Das ist ja hier das Schlimme: Man hat, noch weniger als im Lager, nicht eine einzige freie Minute, in der man allein ist. Selbst die Lokusse haben keine Türen, damit man diese gastliche Stätte nicht zu lange heimsucht!
Drum ist es verständlich, dass ich heilfroh bin, wenn ich aus dem Massenbetrieb herauskomme, der nun schon sechs Jahre dauert, denn der Mensch wird zu einer vollkommenen Maschine erniedrigt.
Wir haben z.B. als sogenannten Raumältesten einen alten Obermaat. Ein Fernstehender sollte einmal zuhören, wie er uns, die schließlich erwachsene Leute um die 30 herum sind, »Befehle« ansagt. Er tut, als ob er eine Schar dummer Schuljungen vor sich hätte. Unter den heutigen Umständen wird er natürlich nicht ernst genommen, und unter dem alten Regime hätte er sich die höhnischen Zurufe wohl verbeten, auch das Gegrinse. Heute tut er es ab mit den Worten: »Meine Herren, Sie haben keine Ahnung, wie es bei einem Massenbetrieb zugeht!«, worauf man beschämt ob der Weisheit eines uralten Obermaats zusammenknickt und sich beim nächsten unfreiwilligen Witz wieder ebenso freut.

Heute Nacht, 15./16. Januar 1920, werden wir in Singapore sein, wenn der Dampfer weiter so läuft; gestern war die Höchstleistung 12,2 Seemeilen die Stunde. Wie lange wir in Singapore liegen werden, wissen die Götter. Die einen reden von drei, die andern von zwei Tagen. Da geladen wird, müssen unsere Sonnensegel weg, die über dem offenen Luk angebracht sind, muss unsere Back verschwinden, da Tische und Bänke auf dem Ladeluk aufgebaut sind. Es werden jedenfalls üble Tage werden, zumal wir keine Möglichkeit haben, an Land zu kommen.
Ich muss gestehen, es würde mich sehr reizen, gerade weil wir in Singapore an Land waren, ein paar Tage dort herum zu bummeln. Das Leben dort hatte einen eigenen Reiz, hervorgerufen durch das Zusammenleben von Europäern, Chinesen und Malayen. Sie trieben Handel miteinander und hassten sich blutig. Man musste gesehen haben, wie stolz auf der Esplanade beim abendlichen Corso der reiche Chinese mit seinen geschmückten Frauen und Kindern dahinfuhr, mit welcher Verachtung der Europäer, der diesen Corso erfunden hatte, auf ihn herabblickte, mit welch hochmütiger Ruhe der Malaye seines Weges fuhr, der der Geschäfte halber zwar mitmachte, aber im Innern den ganzen Schwindel verachtete. Davon werden wir diesmal nichts zu sehen bekommen, da wir noch Englands Feinde sind. Es schadet nichts, da Singapore uns letzten Endes nur ein Haltepunkt auf der Strecke in die Heimat bedeutet, der wir uns mit Riesenschritten nähern, nachdem wir den südlichsten Punkt ereicht haben.
Vom Meer ein anderes Mal!

Am 17. Januar 1920 (Sonntag) an Bord im Hafen von Singapore. –
Seit gestern morgens um 8 Uhr liegen wir auf der Reede vor Anker, ständig umkreist, wie die Schafherde vom Hund oder eine Herde wilder Elefanten von gezähmten, vom britischen Polizeiboot Matamata! (Halt!). Um 2 Uhr früh fielen draußen auf der Außenreede die Anker, und beim Morgengrauen sahen wir rechts und links die kleinen Inselchen mit ihren rotgedeckten Häusern, den grünen Wiesen und Bäumen, wir schauten auf die Pfahldörfer, die mitten aus dem Wasser herauswuchsen, englische und japanische Dampfer, die gleich uns auf die Einfahrt warteten und Fischerboote, die zum Fang hinausfuhren. Dazwischen stieg wie ein roter Ball zwischen Morgenwölkchen die Sonne empor.
Gegen 7 Uhr kamen in rascher Folge der Hafenarzt, der Hafenmeister und der Lotse, alle wohl ausschauende Engländer in weißem Anzug und Tropenhut.
Langsam fuhren wir durch das sehr seichte Fahrwasser in den Hafen, wo wir ca. 800 m vom Land vor Anker gingen. Links von uns – oder, um mich seemännisch auszudrücken, auf der Backbordseite – lag ein Fort, dessen Kanonen ihre Rohre drohend in die Luft streckten. Dann kamen Docks und die Piers, wo wir vor 6 Jahren mit der Patricia anlegten.
Heute lagen dort beschlagnahmte deutsche Dampfer wie die Preussen und die Sidonia. Die Rheinland, ein 10.000 tons großer früherer Dampfer des Norddeutschen Lloyds, wurde heute zweimal an uns vorbeigeführt, wohl auf Probefahrt. Am Mast wehte die Flagge des Völkerbundes (weiß-dunkelblau-weiß?), und am Bug flatterte die britische Flagge. Wenn man diesen Träger deutschen Fleißes und deutschen Unternehmungsgeistes in dieser neuen Gestalt an sich vorüberziehen sah, packte es einen doch ordentlich! Wir hatten ja in diesem Kriege alles verloren: Nicht nur Hab und Gut, auch unsere Ehre! Jeder Ausländer, ob früherer Feind oder Neutraler, kann nun auf uns herumtrampeln, wie er will! Wir haben nichts, um uns zu wehren, als ein höhnisches, stolzes Grinsen der Wut oder ein hündisches, feiges Kriechen der Angst! Solche Gedanken überkamen mich, als langsam, langsam wie voller Wehmut, die einst so stolze Rheinland an mir vorüberglitt.

An die Docks usw. schloss sich das Malayenviertel mit seinen niedrigen, überall im Grün verstreuten Häusern an, dann kam das Chinesenviertel mit seinen schmalen, mehrstöckigen Behausungen, endlich die Paläste der Europäer, überragt von den Türmen der öffentlichen Gebäude. Im Hintergrund waren kleine, bewaldete Hügel, zu deren Füßen irgendwo der herrliche Botanische Garten liegen musste, wie ich aus meiner Anwesenheit vor sechs Jahren wusste.
Wir nehmen in Singapore ca. 3000 tons Ladung ein und werden ungefähr fünf Tage da bleiben, da unsertwegen nachts der Ladebetrieb ruhte. An Land durften wir ja nicht und mussten uns all das Exotische von der Ferne ansehen oder in der Einbildung vorstellen.
So wäre die Sache auf die Dauer recht langweilig, wenn man sich nicht auf die verschiedenste Art die Zeit vertreiben würde. In unserm Raum gähnte uns ein riesiges, leeres Loch entgegen, wo ganz unten Fässer und in Stroh verpackte Kisten lagen. Oben auf Deck ratterten die mit Dampf betriebenen Heißmaschinen [?], die unermüdlich Säcke voll Kopra (Kokosnusschnitze) aus den längsseit liegenden Prahmen holten und in dem riesigen Loch verschwinden ließen. Geschäftige, nein träge Chinesen eilten da unten hin und her, nahmen die Säcke in Empfang und brachten sie mit Eisenhaken in geordnete Reihen. Oben standen die Batus (Aufseher) und leiteten mit heftigem Geschrei und gestikulieren die Maschine. Es berührte mich eigenartig, auf einmal wieder das weiche, singende Chinesisch zu hören.

Am 18. Januar 1920 (Sonntag) an Bord im Hafen von Singapore. –
Heute muss ich über eine Unterhaltung mit einem der an Bord befindlichen indischen Kaufleute berichten. Der weißhaarige Alte hatte Halbedelsteine zu verkaufen, Mondsteine, Aquamarine, Topasse und sogar Saphire, die er mir zeigte, als ich zu ihm kam und einen Mondstein wollte.
Ich: »How much?« Er:»Three Dollars each!« Ich: »Bist verrückt, too much!« Er: »Teil me your price!« Ich: »Ten cents each!« Er: »No, you must tell me an honest price!« Ich: »Thirty cents!« Er zieht die Steine zurück: »No, no, one Dollar each!?« Ich: »That's too much, thirty cents, my last word!« Er reichte mir den Stein mit schmerzlicher Gebärde: »Allright!« Dann zeigte er weiße Bergkristalle:»Fifteen Dollars each!« Ich: »One Dollar!« Er ließ den Stein in reinem vollen Glanze funkeln, nachdem er ihn geputzt hatte: »You have a bad eye!« Ein anderer:»Fifty cents!« Er: »Bananas!« (Sollte heißen: Dafür kannst Du dir Bananen kaufen!) Ich, dringlich: »Two Dollars!« Er nahm nach vielem Hin und Her, Zittern und Weinen, meine Hand, legte ein Stück Papier darauf, dann Watte und schließlich mit einem tiefen Seufzer den Stein:»Allright!« Der Stein war mein für zwei Dollars, und der Halunke hatte immer noch ein Bombengeschäft gemacht!

Am 19. Januar 1920 (Montag) an Bord im Hafen von Singapore. –
Eben komme ich von der »Börse«, d.h. ich habe mich an die Reeling gelehnt und mit den in ihrem Boot befindlichen Händlern gefeilscht, ohne zu kaufen. Längsseits des Schiffes war ein großer Betrieb: Da waren bis oben vollgeladene, von dunklen, berockten und befezten Indern besetzte Prahme mit Kopra, Gummi arabicum (Gummipuder), Tabak, Rohr, Tee . Da war Geschrei und Geschimpfe, viel scheinbare Kraftanstrengung, Getute der Schlepper und Angstrufe der um ihre Kähne besorgten Händler, die sich überall zwischen die großen Leichter klemmten. Mit viel Geschick warfen sie einen Strick an Bord, an dem man einen Korb hochzog, und dann konnte das Geschäft losgehen: Erst das Geld, dann die Ware! Man schickte also 10 Cents hinunter und verlangte: »Bananas, Cigarettes, Cigars!« und dergleichen. Für diese Kleinigkeiten bildete sich bald eine feste Norm, da brauchte man nicht zu handeln.
Etwas anderes war es mit größeren Sachen, z.B. mut singlets, Cigarren in größeren Mengen, Hüten, Stühlen, von denen ich später einen erwarb. Da ging ein lebhafter Handel voraus, wie ich ihn bei dem Edelsteinmann schilderte, nur dass entsprechend der Entfernung mehr mit Schlagworten gearbeitet wurde. Jedenfalls machte es Spaß, sich mit den Kerls herumzuschlagen, auch wenn man selbst nicht kaufte.
Die Händler waren meist Malayen, auch Chinesen; man bekam hier die Vertreter aller Völkerrassen Ostasiens rein und gemischt zu Gesicht. Übrigens habe ich heute Nacht wieder sehr lebhaft geträumt: Ich war zuhause und bin wieder abgewiesen worden. Allmählich glaube ich daran, dass Träume nicht Schäume sind.
Aber vorläufig bleiben wir bis übermorgen hier!

Am 21. Januar 1920 (Mittwoch) an Bord im Hafen von Singapore. –
Da wir immer noch hier liegen, fängt die Sache an, langweilig zu werden. Ein Trost ist nur, dass es heute nachmittag um 5 Uhr weitergehen soll, ob die Ladung an Bord genommen werden kann oder nicht. Es liegen nämlich noch mehrere Leichter mit Tabak, Tee, Rohr, Kopra längsseit, deren Fracht, soweit sie von uns nicht mehr erfasst werden kann, von der Borneo Maru aufgenomnen werden soll, die die gleiche Route hat wie wir.
Gestern und vorgestern wurde das Ladegeschäft durch zahlreiche Regengüsse unterbrochen; auch heute ist es kühl, und es sieht so aus, als könnte jeden Augenblick ein Guss vom Himmel kommen.

Erstaunlich ist, wie wenig Sorgfalt auf die zu übernehmende Ware gelegt wird: Aus den Tabakballen klaffte in großen Mengen Tabak, aus den Gummikisten rieselte ein Regen von Gummipuder. Kopra fiel von Mengen aus den schlechten Leinensäcken, Teekisten stürzten ins Meer, und Rohrbündel wurden dazu benutzt, um die Reibung zwischen den Leichtern zu verhindern. Das waren nicht Einzelfälle, sondern es kam so häufig vor, dass nach unserer Beobachtung z.B. von einem Leichter voller Teekisten nicht eine einzige heil blieb!
Ich weiß nicht, ob das vor dem Kriege auch so war, ob auf deutschen Schiffen auch so nachlässig geladen wurde; jedenfalls heute, wo alles von »sparen«, von »saving« spricht, scheinen mir die Ladesysteme noch recht verbeserungsbedürftig zu sein.
Vorgestern nachmittags war eine Leichenfeier für den am Sonntag an einer Lungentzündung gestorbenen Matrosen Vogt: Choral, Rede des Transportführers Boehtke, Choral. Dann ging die Leiche von Bord, um an Land verbrannt zu werden. Der japanische Kapitän durfte in Gehrock und Zylinder, d.h. als Privatperson, die Leiche begleiten. Von uns durfte niemand mitgehen.
In unserem Raum aber »ist's fürchterlich«. Bei Tage wurde geladen, sodass man sich nicht aufhalten konnte, und nachts ist eine üble Hitze, eine schlechte Luft durch den süßlichen Geruch der Kopra. Heute wurde auch noch unser Eisraum aufgefüllt, um die Schweinerei voll zu machen.

Wie zur Bestätigung dessen, was ich heute morgen geschrieben habe, sackte ein voll beladener Leichter ab. Als wir den die Aufsicht führenden Batu fragten, was drinnen sei, antwortete er: »White pepper – twenty tons«, dann sehr bedauernd »Much money«, schon sehr viel fröhlicher »Maski. Insurance pay, allright!« Es ist bezeichnend für den Geist, der beim Laden herrscht: »Uns kann nichts passieren, da die Versicherung alles bezahlt.« Erst nach zwei Stunden wurde der Versuch gemacht, den Kahn abzuschleppen, der gerade noch aus dem Wasser schaute. Aber es war zu spät! Nach 200 m musste der Versuch aufgegeben werden.
Daher war beim Laden gegen ein Stück Weißbrot zu haben: Tee in Eimern, Tabak bündelweise!
Es ist 3 Uhr nachmittags, und wir sollten eigentlich fahren; es wird aber noch eine Zeitlang dauern.

22. Januar 1920, 5 Uhr früh, an Bord in der Strasse von Malakka. –
Wieder habe ich die berühmte Feuerwache!
Wir dampften gestern abend um 7 Uhr 15 in Singapore ab, und ich war froh, als wir die Lichter dieses ungastlichen Hafen und der Stadt verschwinden sahen.
Draußen bläst ein ziemlich starker Wind, der die Wellen heftig gegen unsern Bug wirft; aber das Schiff fährt ruhig. Möglicherweise werden wir bei Tagesanbruch ein kleines Wetterchen bekommen.

Um 8 Uhr morgens:
Meine Befürchtungen waren unbegründet. Es ist das herrlichste Wetter, das man sich denken kann. Ich bin bester Laune, freue mich, dass das Schifflein endlich fährt, freue mich, dass es nordwärts geht, freue mich, dass wir mit jeder Stunde 10 bis 12 Seemeilen der Heimat näher kommen, freue mich, das es heute mittag Schweinefleisch mit Sauerkraut gibt!
Auf Steuerbord ist Land zu sehen: die Südspitze von Hinterindien.
Als ich heute morgen an Deck kam, zog gerade ein Rudel von Malayenbooten an uns vorüber. In jedem Boot saßen vier bis fünf gut angezogene Männer, die einen feiertäglichen Eindruck machten und uns fröhlich zuwinkten. Ich stellte mir vor, dass die Leute einen Sonntagsausflug nach einem Nachbardorf machten; oder sie hatten sich an Reis- oder Palmwein berauscht und die Schnapsidee, aufs Meer hinauszufahren, denn man ist ein wenig verrückt, wenn man eine Nacht durchgezecht hat.
Ich sitze auf dem Mitteldeck, wo ich mir mit meinem Stuhl einen »festen« Platz ersessen habe. Heute ist es hier oben ziemlich ruhig, unten wird aufgewaschen und der Schmutz der Laderei entfernt.
Überall hängt Wäsche zum Trocknen, man kann sich kaum rühren, und der Ausblick auf das Meer ist einem fast genommen.
Anfangs waren wir auf der sogenannten Back, dem am Heck befindlichen Aufbau, aber er ist jetzt für uns verboten und dem japanischen Heizerpersonal vorbehalten. Dabei gibt es nichts Schöneres, als sich über das Heck zu beugen und zu sehen, wie sich die Wellen am Bug brechen, wie fliegende Fische in Eile ausreißen, wie in der Nacht Myriaden von kleinsten Infusorien in sonniger Wut ob der aufgepeitschten Wellen in schönsten blauen und grünen Lichtern erstrahlen.
So reiße ich immer schon in der Frühe vom Vorschiff, unserm Aufenthaltsraum, aus und lasse mich nur zum Essen dort blicken.

Am 25. Januar 1920 (Sonntag) an Bord im Hafen von Sabang. –
Nach dem Mittagessen an Bord schreibe ich ganz kurz ein paar Zeilen, während ich die Fülle neuer Eindrücke während der Fahrt niederlegen werde. Ich mache also diese Eintragung nur, um im hiesigen Hafen geschrieben zu haben, wo wir gerne ein paar Tage länger hätten liegen bleiben können.
Gestern morgens um 9 Uhr 50 kamen wir hier an, und heute geht es um 5 Uhr nachmittags wieder in See. Es beginnt die lange Fahrt durch den Indischen Ozean, und in 18 bis 20 Tagen hoffen wir in Port Said zu sein, also am 12. bis 14. Februar 1920. Am 3. März will der Kapitän in Wilhelmshaven sein, so sagt man!

Am 26. Januar 1920 (Montag) an Bord, im Indischen Ozean
Ich muss einige Tage zurückgreifen, ehe ich erzählen kann, wie schön das Wetter ist, wie blau der Himmel und das Meer!
Am Abend des 23. Januar spielte ich in der Feldwebelmesse einen Skat, wozu wir eisgekühltes Bier, jeder eine Flasche zu 70 sen tranken; man kann es eben nicht lassen!
Als ich gegen 10 Uhr abends an Deck kam, bot sich mir ein herrlicher Anblick: Im Süden tobte nämlich an der Küste Sumatras ein heftiges Gewitter, von Sekunde zu Sekunde erhellten blaue Blitze den Himmel und beleuchteten fliegende Wolkenfetzen. Dumpfes Donnergrollen zeigte an, dass das Wetter nicht weit entfernt sei. Es dauerte auch nicht lange, so waren wir mittendrin. Es goss in Strömen, und die Luft wurde so unsichtig, dass jede halbe Minute die Dampfpfeife ertönte, wie es die Vorschrift erheischt. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht einen, wenn man durch die Stille der Nacht diesen Warnungsruf hört, der an ein unbekanntes Schiff gerichtet ist, das jederzeit aus dem Dunkel auftauchen könnte.
Zum Glück schlief ich trotz der Gluthitze im Raum bald ein, sodass ich nicht sagen kann, wie lange das Gewitter gedauert hat.

Wir hätten den nächsten Hafen, Sabang, um 2 Uhr in der Nacht zum 24. Januar erreicht, wenn wir nicht mit verminderter Geschwindigkeit gefahren wären, da bei Nacht nicht geladen werden konnte und jede Stunde im Hafen Geld kostet. So kam es, dass wir an Backbord die Vulkanberge Sumatras, voraus die bergige, bewaldete Insel Sabang sahen, als wir nach einer heißen Nacht am Morgen an Deck kamen.
Langsam kamen wir näher, Palmen waren mit dem bloßen Auge zu unterscheiden, ein Häuschen, die Funkenstation, Malayenhütten zwischen regelmäßig angepflanzten Bäumen, also Plantagen.
Alles riet, wo denn Sabang sei. Aber das Schiff zog ruhig seine Bahn weiter, eine neue Insel – oder war es eine Halbinsel? – kam in Sicht. Da steuerte der Dampfer in kühnem Bogen zwischen zwei Halbinseln hinein; an Backbord wurde eine Signalstation sichtbar, eine Lotsenpinasse kam uns entgegen, und langsam ging es vorwärts. Hügel auf Hügel mit seltsam geformten Bäumen wurde sichtbar.

[Im Typoskript fehlt die folgende Seite!]

[In] Sabang waren nicht weniger als 15 deutsche Dampfer interniert; an Europäern sollen dort meist Holländer, ein Deutscher, aber keine Engländer leben.
Gegenüber dem Buchladen war übrigens eine sehr gute, holländische Seemannskneipe, von der ich noch erzählen werde. Bog man am Buchladen rechts ab, so kam man in die Chinesen-Geschäftsstraße. Das taten wir nicht, sondern stiegen geradeaus eine breite, sanft ansteigende Straße hinan, an deren linker Seite üppige Kokospalmen mit dicken Früchten wuchsen.
[unleserlich] Minuten waren wir so in der prallen Sonnenhitze gestiegen, dann senkte sich die Straße allmählich. An beiden Seiten standen alte Zierpalmen von eigenartig schlanker und kräftiger Form und etwas weiter zurück die luftigen und hellen Bungalows der Holländer.
In den Gärten blühten allerlei exotische Gewächse, Kakteen, Agaven, riesige Bananenstauden mit Riesenblättern und voller Früchte; bunte Schmetterlinge in allen Größen flatterten umher und – seit sechs Jahren hörten wir wieder einen Vogel pfeifen!
Jeder von uns, der in die offenen, hübsch ausgestatteten Zimmer mit ihren Veranden und Loggias hineinblicken konnte, wird wohl bei sich gedacht haben, er möchte wohl auch da wohnen, ohne das Üble zu bedenken, das ein Leben in den Tropen gerade Frau und Kindern bringt.

Nach einer Viertelstunde kamen wir an den Sandstrand, wo wir »zur Erinnerung an Sabang« hübsche kleine Muscheln sammelten. Durch einen Kokospalmenhain – wehe, wenn einem eine solche Frucht auf den Kopf fiel! – gingen wir an sauberen Eingeborenenbaracken vorbei, die unter Bäumen in kleinen Gärten lagen, den Hügel wieder hinan zur Hauptverkehrsstraße. Hier lagen Gefängnis, Kirche und Kasernen.
Diese waren von einem Stacheldraht umgebene Holzbaracken, in denen die Soldaten mit ihren Weibern hausten, und zwar eingeborene und weiße getrennt. Ihre Behausungen unterschieden sich nur dadurch, dass diese mit Weib und Kind in Betten schliefen, während die Eingeborenen auf Pritschen lagen. Die Weiber, auch der Weißen, waren natürlich Malayinnen. Es waren hübsche Frauen, die mit ihrem wiegenden Gang, den schlanken Unterleib leicht vorgedrückt, unbewusst-selbstbewusst dahinschreiten wie im alten Rom die Königinnen. Im Alter freilich verunschönte die unvermeidliche, orientalische Fülle.

Den Kasernen gegenüber lag das Kasino, wo wir zur Stärkung einen Portwein nahmen. Die weißen Soldaten waren eine Art Fremdenlegionäre, verwegene Gesellen, gescheiterte Existenzen, woraus sie kein Hehl machten.
Nach kurzer Rast gingen wir bis zum Kamm des Hügels weiter und kamen bald zum Militärhospital, wo von den früheren Transportern Hofuku Maru und Kifuku Maru neun Leute liegen sollten, die an Lungenentzündung erkrankt waren.
Auf unserm weiteren Marsch entlang dieser Straße wurden wir von Händlern angerufen, die ihre Früchte anpriesen, und zwar außer den allgemein bekannten Bananen, Ananas und Kokonüssen: Mangos, faustgroße Früchte, außen grün, mit dickem Kern und gelbem Fleisch, das nach Terpentin schmeckt; Lychees, rote stachelige, haselnussgroße Früchte mit weißem, gallertartigem, süßem Kern; Papeias, kokosnussgroße, grüne Früchte mit gelbem Fleisch und schwarzen kaviarähnlichen Kernen, Geschmack wie Kürbisse, aber lieblicher; Durianfrüchte, ebenso groß mit horniger, grüner Schale, mit schwarzen Kernen und weißem, käsigem Fleisch, das wie saure Milch, Schokolade, Käse, Petroleum schmeckt, aber sehr erfrischt. Es wurde behauptet, das ganze Viertel röche nach einer einzigen Frucht!

Der Früchte gab es also eine große Anzahl, wie es in einer tropischen Gegend natürlich ist, wo sich der Eingeborene nur von Früchten ernähren kann.
Wir versuchten auch alles und aßen es, ohne die Vorsichtsmaßnahmen zu beachten, die uns in China eingeschärft worden waren: peinliches Waschen der Früchte, genaues Schälen und dergleichen. Man war überhaupt im Laufe des langen Aufenthalts im Osten in dieser Hinsicht viel – ich möchte sagen – nachlässiger geworden. Auf der Ausreise hätten wir uns nicht an diese teilweise recht seltsamen Früchte gewagt; aber was der Eingeborene isst und anbietet, kann man, wenn es nur sauber ist, selbst versuchen, ohne geschädigt zu werden. Außerdem: Wer dauernd mit der Gefahr spielt, wird leichtsinnig!
Wir zogen also die allmählich ansteigende Straße entlang, die Eingeborenensiedlungen verschwanden, und rechts und links der Straße lagen Wiesen, auf denen die seltsamen, höckerigen Büffel weideten, und Wassertümpel, in denen sie sich bis zur Schnauze im Wasser wälzten.

Eine Stunde wanderten wir und kamen dann an eine mit Stacheldraht umzäunte Plantage, wo in regelmäßigen Abständen fünf bis sechs Meter hohe Bäume standen. Es wurde hinterher behauptet, es seien Maulbeerbäume gewesen, was ich aber nicht sicher weiß, da ich von Japan her den Maulbeer nur als Strauch kenne. Die Stämme der Bäume waren kahl, oben trugen sie eine mäßig breite Krone. Um diese Stämme herum kletterte dichtes Gerank in die Höhe, wie Efeu sich um einen Baum windet. Dieses Gewächses wegen waren die Bäume überhaupt da, sie dienten ihm gewissermaßen als Hopfenstangen: Dies war der köstliche, teure Pfeffer, von dessen schönen Dolden wir zur Erinnerung eine pflückten.
Die Plantage war stellenweise auch von Agaven mit riesigen Stachelblättern eingefasst. An ihr gingen wir entlang und kamen an eine Stelle, von der sich uns eine prächtige Aussicht bot. Zu unsern Füßen lag ich ein herrlicher, dunkelgrüner Süßwassersee, umrahmt von bewaldeten Inseln. Der tropische Wald hatte von der Ferne ein sonderbares Aussehen, dass man die einzelnen Baumformen nicht erkennen konnte. So war da ein gelbgrüner, dort ein tiefdunkler, da ein brauner, dort ein roter Farbenklecks!
Lange konnten wir uns dort oben nicht aufhalten, denn es war halb 5 Uhr, und die Sonne brannte tüchtig. Um diese Zeit war kein Weißer, kaum ein Eingeborener auf der Straße zu sehen, und es gehörte schon unsere Begeisterung dazu, Neues zu sehen, um in der Gluthitze auf den Inseln herumzukraxeln.

Wir stiegen hinab, dem See zu, wo ein »Uitspanning« zu feuchtem Verbleiben einlud; aber nach einem Blick auf die Preisliste (Bier 1,15 [Dollar], Limonade 60 Cents die Flasche) sagten wir uns »quod non« und wandten uns mit Grausen von der ungastlich-teuren Gaststätte, deren Inhaber, ein Malaye, sich auf Feilschen nicht einlassen wollte.
Nach einem Marsch von 10 Minuten an prächtigen Bananenpflanzen vorbei und allerlei exotischen Bäumen zeigte ein Schild zur Linken an: »Toe swemmen!« Wir verstanden schnell, dass dies etwa »zum Schwimmen« bedeutete und bogen links ab. Tatsächlich fanden wir mitten im Urwald, umrahmt von Kautschukbäumen, die an den vernarbten Zapfstellen kenntlich waren, ein großes, auszementiertes Schwimmbad, das mit natürlichem, von den Bergen kommendem Süßwasser gespeist wurde. Eine Hütte bot Raum zum Ausziehen – im Übrigen kostete der Scherz 50 Cents.
Wir tummelten uns eine Viertelstunde im kühlen Wasser und traten, angenehm erfrischt, den Weg am Hafen entlang zur Chinesenstraße an, die wir am entgegengesetzten Ende wie heute morgen erreichten; wir hatten also einen großen Bogen geschlagen.

Die Chinesenläden rechts und links der Straße waren durchweg luftig und sauber. Jeder Laden war ein kleines Warenhaus für sich: Da gab es Zigarren, Gewürze, Früchte, aber auch Hemden, Bleistifte, kurz: alles, was der Mensch brauchte. Die Preise waren teilweise recht hoch, man musste eben handeln, wie das im Osten üblich ist.
Ein japanischer Fotograf war auch da, der bereits am Nachmittag Bilder von der Ankunft der Himalaya Maru anbot. Solche Japaner waren in allen Häfen des Ostens zu finden; man sagte, es seien von ihrer Regierung bezahlte Spione, deren tüchtigster, von der deutschen Regierung auch noch begünstigter Vertreter Herr Takahashi in Tsingtau war!
Mittlerweile – es war 4 Uhr nachmittags geworden – hatten wir einen tüchtigen Hunger bekommen, der auf die Dauer mit den Früchten nicht zu stillen war. Wir mussten etwas »Kompaktes« haben und begaben uns daher in ein Chinesenrestaurant, wo wir ein – ganz kleines – Beefsteak mit Kartoffeln und roten Beeten für 70 Cents aßen. Dazu tranken wir Eislimonade, wovor unter dem alten Regime gewarnt worden war, während das neue nicht so besorgt um das Wohl seiner Volksgenossen ist; denn die Eislimonade ist nichts wie gefärbtes Wasser – woher?! – mit einem Brocken Eis drin!

Nach dem Essen machten wir Einkäufe, deren Ergebnisse wir gegen 5 Uhr an Bord der nahen Himalaya Maru verstauten. Dort unten im Schiff war's fürchterlich, und ich war froh, als ich aus der Backofenhitze wieder an Land war, wo bereits eine abendlich kühle Brise die Sonne fast verdrängt hatte.
Als wir wieder zum Hügel emporstiegen, tauchten die Holländer mit ihren »Wilhelminsches« und ihren flachsköpfigen Kindern auf. Es wurde ein kleiner Abendbummel, der ein recht belebtes Aussehen durch unsere Seesoldaten erhielt, die von einem Fußballspiel gegen die einheimischen Soldaten kamen.
Es wurde dunkler und dunkler, bis die Sonne ganz plötzlich hinter einem Vorgebirge verschwand und nur noch einen prächtigen violettblauen Schimmer hinterließ, in den Hügel, Wässer, Hafen und Schiffe getaucht waren.
Diesen Anblick genossen wir vom Club aus, einem primitiven Holzgebäude, an dem die Lage und die Getränke das Beste waren. Auf dem Dampfer war uns zwar gesagt worden, wir möchten den Club wegen der Enge der Räume meiden und außerdem seien »nur« die Offiziere aufgefordert worden!

Nachdem wir seit halb 11 Uhr vormittags fast ununterbrochen unterwegs waren, waren wir nun hundemüde und hatten einen Riesendurst nach etwas Eisgekühltem! Wir begaben uns also in die erwähnte Seemannskneipe von Alberti am Eingang der Chinesenstraße. Dort saßen wir auf einer luftigen Veranda, tranken Bier, die Flasche zu 80 Cents, holten Brot beim Chinesen und öffneten eine Dose Elkhornkäse, der herrlich duftete und blendend schmeckte.
Das Nachtleben Sabangs spielte sich außer in den in jedem Hafen befindlichen, berechtigten Häusern im Klub und im Kino ab. Im Klub sollte von halb 9 Uhr ab unsere Kapelle spielen, und wir beschlossen, das Konzert anzuhören. Der Klubraum war gerade groß genug, dass die Kapelle Platz hatte, und die 20 Tische vor dem Gebäude waren bald besetzt, weshalb sich alles auf dem Rasen in der Umgebung gruppierte.
Das Bild war märchenhaft: Oben der Sternenhimmel, vorüberhuschende Malayen, Soldaten mit ihren Frauen, deutsche Klänge, helles Lachen holländischer Frauen und Kinder. Man wurde beinahe melancholisch gestimmt und zog gegen halb 12 Uhr sehr still, aber auch sehr müde zum Dampfer hinunter, der immer noch eine Hitze wie ein Backofen ausstrahlte.

So kam es, dass wir am nächsten Morgen, am 25. Januar 1920 – es war ein Sonntag, was wir nicht merkten, ich aber nachträglich feststelle – mit dicken Augen, einem torkeligen Kopf und klitschnassem Hemd erwachten; erst gegen Morgen schlief ich bleiern fest, wie betäubt von der dumpfen Stickluft!
Wir standen zwar früh auf, mussten aber auf Wunsch des Vertrauensausschusses bis 8 Uhr an Bord bleiben, da dieser noch eine Löhnungszahlung veranlasst hatte (für uns Unteroffiziere 5 Yen!).
Dann ging es los zur Post, ein paar Besorgungen wurden erledigt, und weiter marschierten wir quer durch den »Urwald«. So ganz »Ur« war dieser Wald zwar nicht, aber immerhin lagen dort verfaulte Bäume, schwirrten Moskitos und gefährlich aussehende schwarze Hornissen umher, und als ich unter einem Busch ging, ringelte sich mir entgegen – oder war's von mir weg!? – eine grüne Schlange mit rotem Bauch – oder umgekehrt! Jedenfalls hatten wir das Gefühl, in einem Urwald herumzustapfen und gaben dem auch in Postkarten Ausdruck.
Wir schrieben diese auf morschen Baumstümpfen, bis Ameisen, die Müllreiniger des Urwalds, an unsern Hosenbeinen emporkletterten, um auch da mit Zwicken und Kneifen ihre Aufräumarbeit zu verrichten. Nun wurde es uns zu ungemütlich, wir nahmen unsere Papeias, die uns ein Pflanzer geschenkt hatte, nachdem er sie eigenhändig gepflückt hatte, und begaben uns eiligen Fußes in das bekannte Schwimmbad; denn Süßwasser war an Bord so selten wie zuhause während des Krieges Brot! Wir schwelgten also im Überfluss, solange wir ihn hatten!

Mittlerweile war es 12 Uhr mittags geworden. Wir hatten Hunger und aßen in dem Lokal, wo es am besten und billigsten in Sabang war, nämlich an Bord, frischen, allzu frischen Rinderbraten, von Sabangochsen stammend.
Mit diesem Mittagessen, eingenommen im glühheißen Raum, schien unsre Kraft erschöpft. Wir waren uns einig, nachdem wir in Sabang alles gesehen hatten, möglichst wenig Bewegung zu machen, bis wir um 4 Uhr wieder an Bord sein mußten.
Einige Kameraden wußten ein kühles, luftiges Plätzchen, und zwar auf einer kleinen Veranda im holländischen Klub, Societet de Koepel, wie er hieß. Dort ließen wir uns in den Strohkörben der Mynheers nieder, tranken Bier, echten Genever, italienischen Chianti, rauchten gute Holländer, das Stück zu 15 Cents und fühlten uns bei der herrlichen Aussicht auf Hügel und Wälder – sauwohl!
 

c) Von Sabang nach Wilhelmshaven

Die Stunde des Abschieds nahte, was für den Geldbeutel ganz gut war, und als der Dampfer das erste Mal zum Sammeln tutete, waren wir an Bord des Dampfers, der um 5 Uhr 20 nachmittags losmachte. Am Pier standen die 15 Kameraden, die in Niederländisch-Indien eine Anstellung gefunden hatten, Holländer in ihren weißen Anzügen und Kolonialsoldaten, die sich mit unsern Seesoldaten verbrüdert hatten.
So schieden wir vom fernen Osten, trotz allem wehmütig gestimmt. Sabang und Sumatra verschwanden allmählich im Abendnebel und die Schiffsschraube wühlte ihren Weg nach Westen – der Heimat, der ersehnten Heimat zu!

Am 27. Januar 1920 (Dienstag) an Bord im indischen Ozean. –
Herrlichstes Wetter! Gestern erreichten wir eine neue Rekordziffer, und zwar 12,4 Seemeilen in der Stunde! Wenn es so weiter geht, können wir hoffen, die beiden anderen Dampfer noch einzuholen und als erstes Schiff in Deutschland anzukommen. Wie wir in Sabang gehört haben, scheint die Himalaya Maru das beste Schiff zu sein, da auf den anderen Schiffen die Leute in zwei Zwischendecks übereinander liegen.
Das Meer ist heute glatt wie ein Spiegel und von einer wunderbaren blauen Farbe; ich habe gelesen, dass dies auf den Mangel an Plankton, die unzähligen im Meer herumtreibenden kleinen Lebewesen, zurückzuführen ist. Übrigens: Heute vor sechs Jahren feierten wir im Roten Meer Kaisers Geburtstag; heute ist er als einfacher Bürger in Holland!

29. Januar 1920
Gestern passierten wir Ceylon und haben nun nordwestlichen Kurs. Das Meer ist vom Nordostmonsum leicht bewegt, sodass das Schiff ein wenig schaukelt. Der Wind ist aber insofern angenehm, als er eine leichte Kühlung bringt. Sonst nichts Neues an Bord!

1. Februar 1920
Vorgestern nachmittag sahen wir an Steuerbord eine Insel der Lakkadiven. Seitdem war weit und breit nichts als Wasser; nur ab und zu begegnete uns ein Dampfer, meist in weiter Ferne. Es war erstaunlich, wieviele Dampfer uns seit Singapore entgegenfuhren; ich erinnere mich, dass wir auf der Ausreise höchstens zwei oder drei Schiffen begegneten.
Vorgestern war ich unten in der Schiffsmaschine: 45 Grad Celsius! In ewigem Auf und Ab gingen die Kolbenstangen und drehten die Schraube 60 mal in der Minute.
Heute war es bewölkt und windig, nachdem wir gestern wieder einmal die berühmte spiegelglatte See hatten. In 10 Tagen dürften wir in Port Said und damit wieder der Heimat ein gutes Stück näher sein.

Am 2. Februar 1920 an Bord. –
Etwas Besonderes ist nicht zu berichten, höchstens, das sieben von den zwölf Schweinen geschlachtet wurden, die wir in Sabang an Bord nahmen. Wir hatten uns jeden Morgen von ihrem Wohlergehen überzeugt! Das Wetter war gleichmäßig gut, sodass das Schiff kaum schwankte. Morgen werden wir die Insel Sokotra passieren, und zwar diesmal südlich. Wir fahren also zwischen Cap Guardafui und Sokotra.
Damit hätten wir den Indischen Ozean hinter uns; nun kommt die lange Fahrt durch das Rote Meer und dann: »Lebwohl Asien!«

Am 4. Februar 1920 (Mittwoch) an Bord. –
Wie vermutet, sind wir gestern an der Insel Sokotra vorbeigefahren und haben die afrikanische Küste erreicht, an der wir entlang fahren, allerdings in weiter Entfernung. Das Wetter ist prächtig, und man kann sich garnicht vorstellen, dass wir in vier Wochen wieder jämmerlich frieren werden – der alte Sonnenhunger der Deutschen!

Am 7. Februar 1920 (Donnerstag) an Bord, im Roten Meer! –
Endlich wieder etwas fürs Tagebuch!
Vorgestern, am 5. Februar, sahen wir nachts um 9 Uhr an Steuerbord die Leuchtfeuer und Lichter von Aden auftauchen; wir mussten also bei richtiger Berechnung gestern, Sonntag morgen in der Straße von Perim sein, wo es wieder was zu »sehen« gab.
Ich ließ mich also um dreiviertel 6 Uhr wecken und wusch mich in Wasser, das ich am Abend vorher aus einem lecken Schlauch aufgefangen hatte, in dem es in einen anderen Behälter umgepumpt wurde. Das ist überhaupt, wie ich schon andeutete, ein »Krampf« mit dem Wasser! Im Meerwasser kann man sich bekanntlich nicht waschen, da das Salz das Schäumen der Seife verhindert und beim Baden ein klebriges Gefühl auf der Haut zurückbleibt. Infolgedessen muss man Süßwasser haben, von dem es frühmorgens eine Waschschüssel voll gibt, die man sich in langer Reihe erstehen muss. Damit ist für den ganzen Tag Schluss! Da man aber z.B. abends noch Süßwasser braucht, wird verbotenerweise die japanische Pumpe in Betrieb gesetzt! Im Übrigen kann man für ein Stück Brot einen ganzen Eimer von den Japanern bekommen!

Während des Waschens kam die Sonne hoch, und aus dem Morgengrauen tauchte an Steuerbord die Insel Perim auf. Sie liegt in der Straße von Bab-el-Mandeb.Während an ihrer Ostseite zur arabischen Küste hin der Kanal nur dreieinhalb km breit ist, ist die Durchfahrt zwischen Perim und Afrika 20 Kilometer breit.
An Backbord waren kleine Felseninseln zu sehen, die der Küste vorgelagert waren, und an Steuerbord erschien um 7 Uhr, von der Morgensonne beleuchtet, Perim selbst, eine kahle Felseninsel von 11 Kilometern Länge und einigen Kilometern Breite. Auf einer Anhöhe im Süden befand sich der Leuchtturm, dann kam eine breite Bucht, an deren nördlicher Seite die »Stadt« lag. Weingelbe, niedrige Eingeborenenhütten, ein paar Schuppen und Europäerhäuser, eine Signalstation – das war alles, was auf der Insel zu sehen war. Dort gab es keinen Baum, keinen Strauch, kein Wasser – alles dörrte die Sonne aus oder zerfraß das Salz des Meeres. Und doch mussten Europäer dort wohnen, denn die Insel war von großer Wichtigkeit für die Beherrschung des Roten Meeres und dementsprechend befestigt. Dass sie den Engländern gehört, brauche ich nicht zu betonen. Gerade an solchen Punkten kommt einem die Macht Englands so recht zum Bewusstsein. Es sitzt auf einer ganz armseligen Insel und – überwacht den Weltmarkt! Denn was durch das »Tor der Tränen« geht, erfährt London am selben Tage. Und was würde geschehen, wenn die Engländer eines Tages verlangten, jedes ehemals feindliche Schiff müsse aus »Sicherheitsgründen« den Hafen Perim anlaufen?!

Eine Stunde später hatten wir ein eigenartiges Bild: Leicht in Dunst gehüllt wie eine Fata Morgana, erschien mit spitzen Minarets und runden Moscheen, mit viereckigen gelben Araberhütten an der arabischen Küste – Mekka. Wirklich wie ein Bild aus dem Morgenland, wie man es sich aus den Geschichten und Märchen vorstellte, wie aus 1001 Nacht erschien es. Und so schnell das Bild gekommen war, verschwand es auch wieder. War es nun Wirklichkeit oder eine Fata Morgana?! Am Nachmittag war die arabische Küste ganz außer Sicht. Wir fuhren durch die der afrikanischen Küste vorgelagerten Inseln. Wie sie hießen, wissen die Götter, tut auch nichts zur Sache; denn Namen sind Schall und Rauch, wenn man auch manchmal den »Schall« im Ohr behält. Besser werden mir zwei Inseln an Steuerbord in der Erinnerung bleiben, wenn ich von ihnen erzähle: Die eine war fast nur eine Klippe, über die bei Sturm das Meer hinwegbrausen mochte, die andere dicht daneben ein jäh aus dem Wasser starrender Kegel aus verwittertem Gestein, dessen Spitze ein Leuchtturm krönte. Beide schimmerten in violettem Glanze und waren mit einer weißen Salzkruste überzogen. Es muss grauenhaft sein, dort als Leuchtturmwärter zu wohnen.
Gleich darauf begegnete uns ein Dampfer, natürlich ein ehemaliger deutscher, die Friedrichsruh der Hapag mit Truppen an Bord. Es ist entsetzlich, daran zu denken, dass die deutsche Flagge, die wir früher mit Stolz bemerkten, jetzt vom Weltmeer verschwunden ist. Man mag sich damit trösten, wir seien kein Handelsvolk, sondern ein Volk von Dichtern und Denkern, das bestimmt sei, seinen Teil an der Kultur beizutragen: Es ist und bleibt unersetzlich, was wir durch den Krieg verloren haben.

Im Übrigen begegneten wir soviel Dampfern, dass ich es nicht für der Mühe wert halte, dies jedes Mal zu vermerken. Meist sind es japanische, die man früher kaum sah.
Um 9 Uhr abends kamen die 12 Apostel in Sicht, kleine Inseln, die in einer Reihe der arabischen Küste vorgelagert waren. So schloss der Tag, an dem wieder einmal etwas »los« war.
Heute ist es kühl und bewölkt, vom Land ist nichts zu sehen. Nur Möwen begleiten unser Schiff, und Schweinsfische locken durch ihr komisches Hüpfen und Spielen an die Reling.

Am 12. Februar 1920, frühmorgens 1 Uhr an Bord im Suezkanal. –
Droben surrt und dröhnt die Dampfturbine des Scheinwerfers, der uns den Weg nach Port Said beleuchten soll. Ich sitze hier unten und schiebe wieder einmal Feuerwache.
Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass ich damals auch auf Posten stand, als wir hier durchfuhren, und zwar früh von 4 bis 6 Uhr an der Schiffskasse. Damals hatte ich noch ein Seitengewehr um, präsentierte vor jedem Offizier, meldete dem Transportführer und seinem Adjutanten, dass alles in Ordnung sei und kam mir äußerst wichtig vor.
Heute sitze ich im Raum und schreibe bei einer trüben Lampe; anstandshalber stehe ich auf, wenn der Offizier der Ronde kommt, dessen Aufgabe das Revidieren der Posten ist. Ich wünsche höflich guten Morgen und komme mir genau so wichtig und stolz wie früher vor; aber die Zeiten haben sich sehr verändert.
Wie sie sich verändert haben, wurde uns vorgestern wieder so recht vor Augen geführt, als der ehemalige Lloyddampfer Prinz Ludwig gegen Mittag ganz nahe an uns vorüberfuhr. Wenn man nur die Namen ändern würde; aber es ist wohl die Absicht, uns zu demütigen, wo man nur kann. Mir ist jedesmal elend zumute, wenn ich so etwas sehe und verzweifle an allem, an Deutschlands Zukunft!

Vorgestern nachmittag, am 10. Februar, fuhren wir in den Golf von Suez, an kleinen, nackten Inseln vorbei, die sich in ihrer gelben, unfruchtbaren Pracht, von Meer und Regen zerfressen, gar seltsam ausnahmen. An Backbord erschienen im Dunst die Randgebirge Afrikas, an Steuerbord waren die wolkenbedeckten Berge Sinais zu sehen.
Im Übrigen herrschte eine, nach unsern Begriffen, barbarische Kälte, die ein seit zwei Tagen wehender Nordwind verursachte, sodass wir vom »Glutofen« Rotes Meer nichts merkten, sondern unser Khaki mit dem »blauen« Zeug vertauschen mussten. Es gehörte schon Mut und Begeisterung des Weltreisenden dazu, wenn man sich überhaupt an Deck aufhielt.
Im Halbschlaf hörte ich gestern morgen um halb 5 Uhr, wie die Ankerkette herunterrasselte. Um 6 Uhr stand ich auf, als es hell wurde, um ja nichts von Suez zu versäumen. Aber es war garnicht nötig, sich zu beeilen, da wir erst am Nachmittag, also am 11. Februar weiterfuhren. Unser Dampfer machte nämlich seine erste Fahrt durch den Suezkanal, und es stellte sich heraus, dass die für die Festsetzung des Fahrgeldes gültigen Maße für den Panamakanal berechnet waren. Infolgedessen kam eine aus zwei Franzosen bestehende Kommission und vermaß das Schiff – daher der lange, unnütze Aufenthalt!
In unserer Nähe lag natürlich wieder ein ehemaliger deutscher Dampfer, die Belgravia, die aber glücklicherweise bald abfuhr.

Man sah in dem geräumigen Hafen von Suez von links nach rechts erst einen langgestreckten Bergklotz, gelblich-hell, wie das in dieser Gegend üblich ist, dann einen ebenen Strand, eine Anlage von Petroleumtanks, die Stadt Suez mit quadratischen, lehmgelben Häusern, eine lange Mole, auf der als Verbindung zur Stadt die Eisenbahn fährt. Auf dieser Insel lagen die Werften und Kanalgebäude.
Rechts von ihr war der Kanaleingang, noch weiter war die unfruchtbare Ebene, die sich in der Ferne zu Bergen, zum Sinai erhob.
Händler kamen an Bord, der Scheinwerfer und der Motor wurden hochgehisst, zwei Boote mit Bemannung wurden hochgenommen, die bei den Ausweichstellen ans Land fahren und die Haltetaue anbringen mussten. Ein Neger-Araber [?] gab einen Bauchtanz zum Besten, und so war immer was zu sehen, sodass die Zeit verhältnismäßig rasch vorüberging.
Um 4 Uhr 30 nachmittags waren alle Förmlichkeiten erledigt, der Lotse kam, und gleich darauf drehte der Dampfer, der seine Anker hochgezogen hatte, nordwärts. 200 Meter von uns fuhr ein holländischer Passagierdampfer vorbei, der eben vom Süden gekommen war. Männer, Frauen und Kinder strömten am Bug zusammen und winkten aus Leibeskräften.
Gegen solche Kundgebungen aus der Ferne muss man als Deutscher heute recht vorsichtig sein, denn meist bedeuten sie nur Hohn, der von einer üblen Fratze begleitet ist. Aber da klang es von drüben »Hurra!« Es waren also Deutsche, die von Niederländisch-Indien nach Hause fuhren. Bei uns fand keiner den Mut, diesen Ausdruck höchster Freude und höchsten Stolzes eines Deutschen wiederzurufen; nur schüchtern winkten wir wieder. Mir kamen, ich weiß nicht, warum, die Tränen, so rührte mich dieses »Hurra« in der Fremde!
Ganz dicht fuhren wir an der Hafeninsel vorbei, wo eine Menge von Zel>ten zu sehen waren, davor französische, afrikanische Jäger in ihren langen, blauen Mänteln. In den Straßen war englisches Militär, viel eingeborene Polizei und allerlei Lumpengesindel, das winkte und hinterherpfiff.

Wir glitten langsam in den Kanal, dessen Ostseite sehr stark befestigt gewesen sein muss, wovon zerfallene Schützengräben und verrostete Haufen von Stacheldraht zeugten.-Bald kam die erste Station mit dem üblichen kleinen Haus mitten im Sand, dem Signalmast und dem Gärtchen mit drei oder vier zerzausten Palmen – kümmerlich sah ich sie noch im Abenddunkel, und dann ging ich unter Beck, denn der Scheinwerfer beleuchtete gerade die Wasserstraße, und rechts und links war nichts zu sehen.
In Suez wurde anscheinend der Binnenhafen großartig ausgebaut, und der Kanal selbst hat neue Steineinfassungen. Überall wurde gearbeitet und verbessert, ein Zeichen, dass im und am Kriege schwer verdient wurde!
Soeben, in der Nacht zum 12. Februar, halten wir an einer Ausweichstelle, da uns zwei Dampfer entgegenkommen. Mit viel Lärm und Umständlichkeit wurden die Boote hinuntergelassen und unser Kahn am Ufer festgemacht. Gegen 12 Uhr sollen wir zwei Stunden in Ismailia gelegen haben, um entgegenfahrende Schiffe vorbeizulassen; hoffentlich bleiben wir auch hier länger liegen, damit wir morgen früh noch etwas vom Kanal sehen. Jetzt gehe ich an Deck, um mir die beiden Dampfer anzusehen.

Am 15. Februar 1920 (Sonntag) an Bord, im Mittelmeer. –
Es ist herrliches Wetter! Ich sitze auf Deck, die Sonne strahlt im schönsten Glanz, und das blaue Meer ist spiegelglatt. Um mich sitzen die Kameraden und erzählen von ihren gestrigen »Erlebnissen«: der eine, wie lange er es an Deck ausgehalten habe, bis es soweit war, der andere, wie er eine doppelte Portion Gulasch »gestaut« habe, der eine, wie er kaum etwas gespürt habe, der andere, wie er sich an einer windgeschützten Stelle die Sonne habe auf den Pelz brennen lassen. Zu diesen gehörte ich, denn ich bin anscheinend vollkommen seefest, und der gestrige steife Wind tat mir garnichts an, der den Kahn ordentlich zum Rollen und Schlingern brachte.
Schon als wir am 13. Februar um 2 Uhr nachmittags aus Port Said fuhren, blies uns ein heftiger Südwestwind entgegen und brachte das Meer in Wallung, das vom Nil her schmutzig-grau war. Es war ein schauerlicher Anblick, dieser schmutzige, gelblich-graue Schaum!
Gestern hielt das Wetter an; aber das Wasser nahm allmählich eine grün-blaue und schließlich die rein blaue Farbe an, die man dem Mittelmeer gewöhnlich zuspricht!
Infolge des Schaukelns blieb der größte Teil der Kameraden im Bett liegen, sodass ich meine Backsgenossen mit Essen und dergleichen versorgen musste; denn sie behaupteten, im Liegen merkten sie nichts von der Seekrankheit, wie auch ich glaube, dass mir nichts mehr »passieren« kann.
Als ich zuletzt schrieb, sollten wir zwei Dampfern begegnen, die ich mir ansehen wollte. Aus diesen zwei wurden sechs Schiffe, die in weitem Abstand langsam an uns vorüberfuhren, sodass wir zwei Stunden liegenbleiben mussten. Es ist ein ganz eigenartiges Gefühl, wenn schauerlich-still ein Schiff vorübergleitet, am Bug den gespensterhaften Lichtkegel des Scheinwerfers, an den Masten die gelben Positionslaternen, ab und zu erleuchtete, runde Kabinenfenster, dazu das dumpfe Stampfen der Schiffsmaschine.

In der Ferne waren Lichter; ich nehme an, dass es die berühmte Stadt El Kantara war, wo die Türken 1915 den Einbruch über den Kanal versuchten.
Davon erzählte uns der Monteur des Scheinwerfers, ein baumlanger, kräftiger, brauner Kerl, von dem man nicht wusste, ob er Grieche, Italiener, Türke oder Ägypter war. Er lag damals angeblich im Bittersee fünf Tage und drei Nächte auf einem Dampfer mit abgeblendeten Lichtern.
Alles war in großer Aufregung, ob die Türken kommen würden, was den Ägyptern keineswegs erwünscht war, wie wir damals dachten; denn die Ägypter hassen zwar die Engländer, aber vor den Türken haben sie Furcht. Sei es, dass die Engländer nur das Gerücht aussprengten, sei es, dass es wahr war: Die Türken sollen ihren Truppen die eroberten Gebiete im östlichen Ägypten drei Tage lang freigegeben haben, d.h. sie konnten stehlen rauben, schänden, soviel sie wollten!
Ähnliches erzählte uns auch ein Cigarettenverkäufer in Port Said, der während jener Zeit als Polizist mit Armbinde Dienste tat. Er war Ägypter und hasste die Türken, aber auch die Engländer, die das Land aussaugten und die Leute ausnutzten. Die Türken täten das auch; aber die Engländer gewährleisteten ihnen wenigstens die persönliche Sicherheit. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ägypter gingen dahin, ein eigenes Reich unter einem eigenen König zu bilden, was jetzt wieder in Unruhen, Protestversammlungen, Abordnungen nach Paris und dergleichen lebhaften Ausdruck fände.
Ob der von den Engländern oktroyierte gegenwärtige Vizekönig oder der von den Türken protegierte, in der Verbannung Lebende mehr Sympathien im Lande hatte, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls herrschte – nach der Zeitung in Kairo – zur Zeit unseres Aufenthaltes in Port Said anlässlich der Geburt eines Thronfolgers großer Jubel!

Ich hatte mich noch drei Stunden in die Koje gelegt und zwar bis 6 Uhr, und als ich am Morgen des 12. Februar an Deck kam, hatten wir noch 10 Kilometer nach Port Said. Rechts und links der Kanaldämme war das Gebiet überflutet und nur belebt durch kreischende Seemöwen und träge fliegende rosarote Ibisse.
In der Ferne tauchte Port Said auf, von der aufgehenden Sonne beleuchtet. Kurz vor der Stadt, wo der Kanal in den Hafen einmündet, gingen wir um 8 Uhr vor Anker.
Uns gegenüber lagen fünf Dampfer: englische, ein Amerikaner, ein Holländer und, was uns am meisten interessierte, ein ehemaliger Levante-Linie-Dampfer Podest. Er war gänzlich verrostet, hatte Schusslöcher an Heck und Bug; an der Wasserlinie war eine größere Stelle mit Brettern abgedichtet, wie er vor vier Tagen eingeschleppt und an die Griechen verkauft worden sein soll. Was mag er für ein Schicksal gehabt haben? Offenbar war er irgendwo auf den Strand gesetzt worden, nachdem er von uns oder von den Feinden manöverierunfähig geschossen worden war.

Es dauerte in Port Said ziemlich lange, bis die gelbe Flagge am Mast niederging, d.h. bis der Arzt das Betreten des Schiffes erlaubt hatte. Da ging es um 9 Uhr los: Vertreter der Agentur kamen, Araber zum Kohlen – es war ein Mordsbetrieb! Die Araber – alias Ägypter! – sind das faulste Pack, das ich je gesehen habe; sie gehen in dieser Hinsicht noch über die Südchinesen! Bis sie, 40 Mann hoch, eine Planke vom Kohlenleichter an Bord brachten, dauerte es 20 Minuten und war von fürchterlichem Geschrei, Gesang und Geschimpfe begleitet. Dabei bekamen sie jetzt 4 Schilling pro Tag, während sie früher einen halben Schilling bekamen! Allerdings kostete die Tonne Kohlen jetzt 175 Schilling gegen 25 Schilling vor dem Kriege! Auch gab es jetzt für den Lohn weniger zu kaufen, da alles von den Engländern weggeführt wurde. Fleisch würde aus Mesopotamien bezogen und kostete 6 Shilling das englische Pfund. Alles sei rationiert und die Ausfuhr von Leder und Wolle sei verboten.
Für Orangen zahlten wir 5 sen für das Stück, gleich ungefähr 1 penny gegen 1 Pfennig früher. Die Cigaretten waren noch mäßig im Preis: 100 Simon Arzt je nach Güte 2,50 bis 8 Shilling.
Simon Arzt war übrigens die einzige deutsche Firma, wenn man sie nicht lieber [als] jüdisch-international bezeichnet, die in Ägypten nicht liquidiert wurde!

Den ganzen 12. Februar über wurde gekohlt, Eis, Fleisch, Gemüse an Bord genommen. Am 13. Februar kam ein Taucher längsseits, da wir im Hafen eine Boje überfahren hatten, die nicht mehr zum Vorschein kam, weil sie sich offenbar am Schlingerkiel festgehakt hatte. Übrigens kam ein blinder Passagier an Bord, ein Lettow-Vorbeck-Mann, der 1916 gefangen nach Indien gebracht worden war. Mit 700 anderen Deutschen war er in Port Said vom Dampfer Main von Bord genommen worden, weil der Dampfer überfüllt war. Von Tag zu Tag warteten diese 700 Mann vergeblich auf den Heimtransport, weshalb sie auskniffen, z.B. auf holländische Schiffe oder auf Kifuku Maru. Dies soll nicht schwer sein, da die Bewacher Bestechungen zugänglich waren und die Behörden auf die Wiederergreifung keinen Wert legten.
Den feindlichen Soldaten sei seit einem Jahr die Demobilisierung versprochen worden, sie meuterten alle zehn Tage, müssten aber zur Aufrechterhatung und Sicherung der Ruhe in Ägypten bleiben. Es seien 5000 weiße und unzählige indische Truppen da! Am 14. Februar vormittags 10 Uhr sollten wir fahren; aber die Abfahrt verzögerte sich, sodass wir erst um 2 Uhr45 nachmittags losmachten und langsam aus dem Hafen glitten.
An Kriegsschiffen (Kreuzern und Torpedobooten) ging es vorüber, an Transportern und zwei ehemals deutschen Dampfern, Otavi und Buenos Aires, die am Bug die weiß-blau-weiße, am Heck die französische Flagge führten. An Bord waren weiße und farbige Truppen.
Dann kam das große, prunkhafte Kanalgebäude, im Gegensatz dazu die üblen, mit Reklameschildern übersäten Häuser Port Saids und schließlich die lange Mole mit dem Denkmal Lesseps. Noch waren da zwei Kriegsschiffe, eines das englische Linienschiff Caesar, und schon waren wir in dem unruhigen, schmutzigen Meer.
An fünf Stellen zeigten aus dem Meer ragende Masten, dass unsere U-Boote in der Nähe gearbeitet hatten.
Jetzt befinden wir uns bereits 400 Meilen westwärts, auf dem Wege nach Gibraltar, wo wir die 500 Tonnen Kohlen einnehmen werden, die wir in Port Said nicht erhalten konnten. Dadurch verzögert sich unsere Ankunft in Wilhelmshaven, wo wir nun bestimmt ankommen werden, um zwei Tage; sie werden wieder recht langweilig sein, da uns auch in Gibraltar die Engländer nicht von Bord lassen.

Am 18. Februar 1920 (Mittwoch) um 4 Uhr früh an Bord, im Mittelmeer. –
Wieder einmal habe ich Feuerwache! Ich weiß vor Langeweile nicht, wo ich anfangen soll und schreibe daher, obwohl es eigentlich nichts Neues gibt, es sei denn, dass ich erzähle, dass wir gestern Abend im Dunst aufsteigender Regenwolken an Malta vorübergefahren sind und die Lichter der auf einer Höhe gelegenen Stadt La Valetta sahen. Dies rief natürlich eine Menge Erinnerungen an meinen dortigen Aufenthalt im Januar 1914 in mir wach.
(Nun folgt eine lange Traumgeschichte, die nicht interessant ist.)

Am 23. Februar 1920 (Montag) an Bord im Hafen von Gibraltar. –
Vorgestern haben wir das erste Stück von Europa gesehen und gleich einen mächtigen Eindruck von diesem recht kleinen Erdteil empfangen. Wir fuhren nämlich an den über 3000 m hohen, mit ewigem Schnee bedeckten Bergen der Sierra Nevada entlang. Der Anblick erinnerte an die heimatlichen Alpen, und so hat sich das alte Europa recht gut bei uns eingeführt.
Wir sollten eigentlich vorgestern, am Samstag, dem 21. in Gibraltar sein; aber am Freitag wehte eine so steife Brise, herrschte eine so rauhe See, dass wir statt der erforderlichen 270 Seemeilen nur 170 zurücklegten.
So kam es, dass wir erst gestern morgen dort um 7 Uhr den stolzen Felsen von Gibraltar zu Gesicht bekamen. Über seine Bedeutung brauche ich nicht zu schreiben, sie ist ihm von den Engländern mit Erz und Dynamit eingegraben, und allenthalben sind Versteifungen gegen bröckelndes Gestein, Kasematten, Laufgänge, Geschütze, Signalstationen mit bloßem Auge zu erkennen. Der Felsen ist 450 m hoch und fällt nach dem Lande steil, nach der See in Terrassen ab; er liegt nicht an der engsten Stelle der Meeresstraße, die dort 13 Kilometer breit ist, aber so, dass er die Durchfahrt vollkommen beherrscht.

Das Bild war prächtig, das der von der aufgehenden Sonne beleuchtete Felsen bot: violett, gelb, grün, grau, alle Farben schimmerten durcheinander und ließen sich erst mit dem Glase, dann mit bloßem Auge als Fels, Bäume, Sträucher, Häuser, Kasernen erkennen.
In weitem Bogen umkreisten wir langsam den Berg, bis nach halbstündiger Fahrt die Bucht ausgebreitet vor uns lag. Am Felsen hingeklebt war die Stadt Gibraltar, davor der durch Molen geschützte Kriegshafen. Auf der spanischen Seite lag in frischem Frühlingsgrün mit weißen, rotbedachten Häusern die berüchtigte Stadt Algeciras! Die vielen Schiffe gaben dem Hafen ein buntes Bild: englische und amerikanische Schiffe, ein spanischer, ein italienischer und natürlich ein einst deutscher Dampfer, dann viele Segelschiffe, vom Fünfmaster bis zur keinsten Brigg.
Eigentümlich waren die vielen, halb abgetakelten Holzschiffe altertümlicher Bauart, die in der Bucht vor Anker lagen und als Kohlenbunker dienten. Vor einem solchen mit Namen Salient warfen wir Anker, und schon kletterten die spanischen Kohlenträger an Bord. Weiße, Gelbe, Dunkle, braune oder blaue Augen, alle heftig gestikulierend, so stellte sich diese merkwürdige, verkommene Menschenrasse dar. Aber man merkte doch, dass man es wieder mit Europäern zu tun hatte. Denn im Nu waren die nötigen Bretter mit Tauen festgemacht, und ehe die japanischen Matrosen noch recht zur Besinnung kamen, flogen schon die ersten Kohlen in die Bunker.
Händler kamen an Bord; aber das Geschäft ging mäßig, da nur Tabak und Orangen gefordert wurden.
Am Nachmittag herrschte herrliches Frühlingswetter; wir saßen in der warmen Sonne an Deck, sahen den Möwen zu, die zu Hunderten das Schiff umschwärmten, und beobachteten das Pferderennen, das sich am Strand, aber schon auf spanischem Boden, abspielte.
Am Abend blitzten allenthalben die Lichter auf, und wenn man vergaß, dass man im »feindlichen« Hafen lag, konnte man es schön, ja herrlich finden. Aber so beherrschte uns nur der eine Gedanke, möglichst bald aus dem ekelhaften Loch herauszukommen, in dem alles an unser nationales Unglück erinnerte.
Am Fallreep stand ein alter Brite mit dem Band »British Guard« an der Mütze und passte auf, dass keiner von uns von Bord ging, was ohnehin keinem eingefallen wäre. Zuerst durfte nur der japanische Kapitän an Land, auf Protest hin dann die ganze japanische Besatzung!

Am 24. Februar 1920 (Dienstag) an Bord hinter St. Vincent. –
Gestern nachmittag um 3 Uhr hatten wir die 700 tons Kohlen geladen, und gleich darauf kam der Lotse an Bord. Eine Stunde später entschwand der Felsen von Gibraltar unsern Blicken. Das Wetter hatte uns den Abschied sehr erleichtert, denn eine heftige Brise wehte und half uns rasch um Cap Tarifa, den südlichsten Punkt Spaniens. Das Atlasgebirge, das am Vortage zu erkennen war, hatte sich in Wolken gehüllt, und schnell verdeckte die Dämmerung auch die spanische Küste. Nur Leuchtfeuer und vorübergleitende Dampfer hoben sich aus dem Dunkel hervor.
Seit heute mittag hatten wir nördlichen Kurs, und ein leichter Wind blies uns entgegen. Es war so diesig, dass wir Sankt Vincent kaum erkennen konnten. – Wenn alles gut geht, sind wir in sechs Tagen zuhause!

Am 26. Februar 1920 (Donnerstag) an Bord in der Biskaya. –
Unser Arzt, Dr. Henning, war während des Krieges Zivilgefangener in Sibirien und erzählte uns gestern abend von seinen Erlebnissen: Danach war die Behandlung, vor allem seitens der Kosaken, schweinemäßig. Dr. Henning hatte selbst das Lager Petropawlowsk besucht, wo von 5000 Menschen in einem Winter die Hälfte an Flecktyphus starben. Diese Krankheit wird durch Läuse übertragen und wirkt fast in allen Fällen tödlich.
Als Arzt hatte er eine ziemlich große Bewegungsfreiheit, und zwar hatte er Reiseerlaubnis in einem Gebiet so groß wie Bayern! So war es ihm möglich, durch Sibirien über Wladiwostok nach Japan zu gelangen, wo man ihm unsern Transport übertrug.
Seine Erlebnisse waren, an den unsrigen gemessen, so überaus gewaltig, dass man seine eigenen Tagebuchaufzeichnungen garnicht des Aufhebens für wert hält. Der Doktor erzählte gemütlich, manchmal stockend, wie man es in traulicher Rede tut. Als er z.B. einen Tag Gefängnis absitzen musste, fand der Aufseher bei der Untersuchung ein Paket Wanzenpulver. Darüber belehrt, was das wäre, nahm er eine Prise davon in den Mund. Nachdem er eine Weile gekaut hatte, spuckte er das Zeug wieder aus und schob die Dose verächtlich mit den Worten zurück: »Das fressen die Wanzen auch nicht!«
An eine Tolstoi'sche Novelle erinnerte lebhaft die Schilderung, wie sie sich im Schnee verirrt hatten: Nur durch den Spürsinn eines Pferdes wurden sie gerettet, das sie schon für tot vom Gespann abgeschnitten hatten.
Seit einigen Stunden sind wir in der durch ihre Stürme berüchtigten Biskaya. Bis jetzt ist leidliches Wetter, auch nach den Wettermeldungen wird es so bleiben. – Ich schreibe übrigens um 5 Uhr früh, da ich Nachtwache habe.
Gestern abend sahen wir die Leuchtfeuer von Cap Finisterre, vorgestern die der Einfahrt nach Lissabon. Wir fahren jetzt soweit von der Küste entfernt, dass nichts zu sehen ist.

Am 28. Februar 1920 (Samstag) an Bord im Canal. –
Bei schönstem Wetter und nur leichtem Nordwestwind passierten wir die Biskaya; gestern erreichten wir schon die Brest vorgelagerte Insel Ouessant.
Gegen Abend erweckte ein leichter Nebel Besorgnis, und des Nachte wurde es so diesig, dass der Dampfer oft stundenlang tutete.
Heute mittags bekamen wir die Insel Wight im üblichen Dunst zu Gesicht, und wenn alles gut geht, d.h. wenn uns keine Mine in den Kurs rutscht, werden wir übermorgen gegen Abend in Wilhelmshaven sein.
Man merkte es den Leuten auf dem Schiff an, dass wir uns der Heimat näherten, denn alles ist in freudiger Erregung, und selbst griesgrämige Gesichter schauen ein wenig fröhlich drein. Daran ändert auch der kalte Wind nichts, der im Gegenteil heimatliche Erinnerungen weckt.
Diese letzten Tage auf dem Schiff vertrödelt man, da man sich nirgends lange aufhalten kann: Droben ist es zu kalt, unter Deck zu laut!

Am 1. März 1920 (Montag) an Bord vor der holländischen Küste. –
Heute ist der Tag, an dem wir in Wilhelmshaven anzukommen hofften. Aber infolge eigentümlicher Umstände sind wir kaum über die Höhe von Amsterdam hinaus. Vorgestern abends nämlich, nachdem wir kurz nach 9 Uhr die Lichter von Hastings passiert hatten, stoppte unser Schiff am Leuchtturm von Dungeness. Nach endlosem Hin- und Hergefunke kam endlich ein Lotsendampfer längsseits, und in einem Boot wurde ein Lotse herübergebracht, der uns in einer von Minen freien Straße bis Hoek van Holland bringen sollte. Wir fühlten uns umso beruhigter, als unser Kapitän in der vergangenen Nacht 30 Meilen herumgefahren war; er soll die englische Küste gesichtet haben und vor Schreck umgekehrt sein – so erzählte man!
Um 11 Uhr nachts konnte man gerade noch die Leuchtfeuer von Dover und Calais erkennen, an Steuerbord blinkte Gris Nez, das Vorgebirge von Boulogne, herüber, und dann ging ich völlig durchfroren in die Koje.
Der Lotse wurde vorschriftsmäßig gestern nachmittag um 5 Uhr am Feuerschiff Hoek van Holland abgesetzt; wir sollten allein weiterfahren zu dem nur 60 Meilen entfernten Feuerschiff Helder, wo wir den deutschen Lotsen bekommen sollten. Als wir gegen 10 Uhr nacht dort ankamen, war kein Lotse da! Wir ankerten bis 1 Uhr morgens in ziemlich bewegter See, Nebel kam auf, der Dampfer tutete, es bimmelte, und der Kapitän entschloss sich, wieder zurückzufahren.
So befanden wir uns heute morgen 30 Meilen zurück vor Ijmuiden, der Einfahrt nach Amsterdam. Hier kam ein Lotse an Bord, und jetzt, um 10 Uhr morgens, sind wir wieder auf der Höhe von Helder, der Einfahrt in den Zuidersee.
Was nun wird, weiß ich nicht. Es wird soviel geredet, und soviel Gerüchte werden aufgebracht, dass die Wahrheit nur schwer herauszubringen ist. Die Japaner sind in großer Fart [?], und sämtliche Offiziere machen die Brücke unsicher. Am Heck steht ein Mann, der nach Minen Ausschau hält, es wird gelotet, Anker geworfen, es wird gefunkt, gemorst und was dergleichen mehr ist.
Wann wir in Wilhemshaven – manche munkeln Bremerhaven – ankommen werden, weiß unter diesen Umständen niemand!

Am 2. März 1920 (Dienstag) an Bord beim Rote-Sand-Leuchtturm. –
Dies ist die letzte Eintrgung an Bord, dann ist es soweit!
Wir sind ohne Lotsen mit zweistündiger Verspätung durch Nebel durchgefahren, und auf der Höhe von Wangerooge sauste uns heute Morgen ein deutsches Torpedoboot entgegen: »Hurra, Hurra!« Die Tränen kamen uns in die Augen, als wir zum ersten Male wieder die deutsche Kriegsflagge sahen, und als gar ein Flieger zweimal haarscharf die Masten umkreiste, da fand die Kehle den richtigen Ton wieder!
Das Boot V 79 begleitete uns und beantwortete bereitwillig alle Fragen, sogar was das Bier kostet usw.
Zwei Tage bleiben wir im Durchgangslager (Dulag) Wilhelmshaven!
Lieb Vaterland: »Hurra, hurra, hurra!«

In den 30er Jahren (geschrieben im Juni 1966). –
Was nunmehr kommt, ist der Erinnerung, den Fotos und dem Fotoalbum entnommen, das ich in den 30er Jahren angelegt habe:
Mit Spannung blickten wir der Heimat entgegen, die wir als reiches Land verlassen hatten und nun verarmt und uneinig wiederfinden würden. Die Schleusen von Wilhelmshaven kamen in Sicht und wurden passiert. Auf der Mole, an der das Schiff anlegte, hatte man zu unserer Begrüßung eine Kompanie der Reichswehr und der Marine postiert, eine Kapelle spielte flotte Weisen; dahinter drängten sich die Zivilisten.
Zeitlebens wird mir in Erinnerung bleiben, wie sich Uniformierte und Zivilisten, Männer und Frauen um die Weißbrote rauften, die plötzlich von Bord geworfen wurden, um Weißbrote, die wir in den letzten sechs Jahren höchstens einige Tage entbehren mussten, die die Eingeborenen in Asien und Afrika nur dann entgegennahmen, wenn wir die Brote sorgsam im Korb herunterließen.

Die Ausschiffung begann, einige wurden von ihren Angehörigen begrüßt. Die Nacht mussten wir in Hängematten auf dem Wohnschiff Aegir, einer ausgedienten Korvette, verbringen, und erst am 3. März 1920 kamen wir in das Durchgangslager (Dulag), eine geräumte Matrosenkaserne.
Die Schifffahrtslinie, die Osaka Kosen Kaisha, hatte jedem von uns noch drei seidene Tüchlein und ein paar Postkarten zum Andenken überreichen lassen, und nun verbrachten wir den Tag mit Schreiberei, Zivilzeug fassen (ich habe es nur auf der Heimreise getragen!), Geldwechsel, Fahrkartenausfertigen, Proviantempfang und dergleichen. Man gab sich viel Mühe, um uns das Eingewöhnen in Deutschland zu erleichtern. An Essen wurde nicht gespart, und ein Ball mit vielen Mädchen gab Gelegenheit, wieder Tanz und Konversation zu üben. Am schönsten aber war es doch, dass man diesen Mädchen eine Freude machen konnte, indem man ihnen ein Brot mit einer dicken Scheibe Speck vorsetzte, der eigentlich für die Bahnfahrt nachhause bestimmt war. Sie waren so ausgehungert, diese Mädchen, und erzählten mit Grauen vom Steckrübenwinter 1917/8!
Hier sind die Menschen besonders missmutig, weil die Marine, die Zehntausenden Arbeit und Brot gegeben hatte, nur mehr ein Schattendasein führt. Überall war politische Hochspannung, und man sagte voraus, dass es in Berlin bald wieder »losgehen« würde.

Am 4. März endlich bestieg ich den Zug, der mich nach Würzburg bringen sollte, von wo ich nach Schweinfurt weiter wollte. Es war ein Wagen, in dem die Riemen abgeschnitten, die Messinggriffe abgeschaubt und zerbrochene Fensterscheiben durch Bleche ersetzt waren – ein und ein halbes Jahr nach Kriegsende!
Das alles vergas ich, als mir auf der Durchreise in Bremen ein Mädchen eine Tasse Kaffee überreichte und eine Ansichtskarte mit der Aufschrift: »Willkommen in der Heimat«!

[Handschriftlicher Zusatz:] Graz, im Juni 1966   [Unterschrift:] Erich Fischer
 

SCHLUSSWORT
Eine Nacht und einen Tag dauerte damals die Fahrt von Bremen nach Würzburg, wo ich umsteigen und noch eine Stunde fahren musste. In Würzburg erwarteten mich mein Bruder Werner und einige meiner ehemaligen Schulkameraden, die hier ihr Studium beendeten und den Sonntag – es war ja Samstag! – bei ihren Angehörigen in Schweinfurt verbrachten.
Am Stadtbahnhof in Schweinfurt verließ uns der letzte, mein alter Schulfreund Karl Kuffer, und mein Bruder und ich waren allein. Schnell erzählte er mir noch einiges, was inzwischen vorgefallen war, was man mir noch nicht geschrieben hatte, um mich nicht »aufzuregen« und was ich am besten garnicht erwähnen sollte!
Wir waren in der düsteren, nur von einigen Gaslampen beleuchteten Gartenstraße: Da kam meine Mutter uns entgegen, weinend, mit verhärmten Gesicht. Was wir gesprochen haben, weiß ich nicht mehr! Sie fiel mir um den Hals und war froh, ihren vierten Kriegsteilnehmer wieder bei sich zu haben – heil wie auch die anderen!
Droben in der Wohnung gab es eine männliche Begrüßung mit dem immer noch gut aussehenden Vater und dem inzwischen herangewachsenen jüngeren Bruder Günter.
Da standen sie, wenn auch an anderer Stelle, die alten Möbel, da hingen die alten Bilder, und da war der vertraute Flügel. Als dann gar trotz der schlechten Zeiten der Braten eines Schweines, das der Vater bei einem ehemaligen Landsturmmann »schwarz« hatte mästen lassen, mir vertraut in die Nase stieg, da war ich seit mehr denn sechs [acht!] Jahren wieder daheim.

[Handschriftlicher Zusatz:] Graz, im Februar 1968   [Unterschrift:] Fischer
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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