Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

StartseiteAugenzeugenberichte → Fischer (Erich)


»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 4: »In der besetzten Festung Tsingtau« (1914)
 

Hinweise des Redakteurs

Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden vierten Teil berichtet der Autor – mit einigen bislang unbekannten Details – über die Verteidigung von Tsingtau von Ende September bis Anfang November 1914.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
    1. Abmarsch nach Tschantschan
    2. Das Forsthaus
    3. Die letzte Kriegswoche
    4. Gefangennahme und Sammlung zum Abtransport
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)

 

a) Abmarsch nach Tschantschan

[28. September 1914] Da waren wir nun und froh, gegen 12 [Uhr] in unsere Kaserne, die Bismarck-Kaserne, zu kommen, die wir so lange nicht gesehen hatten. Fremde Soldaten hatten dort übernachtet und die Betten über den Haufen geworfen, da man sie offenbar Knall auf Fall alarmiert hatte. Auch sonst sah es dort bös aus, und zwar insofern, als ein Volltreffer das Dach des Schweinestalls neben der Kaserne durchschlagen und den chinesischen Schweinehirt getötet hätte. Es war ein ähnlicher Durchschuss, wie wir ihn auf dem Wege in unsere Kaserne schon am Artillerie-Depot beobachtet hatten, wo das Dach tüchtige Löcher aufwies.
Die feindliche Seeartillerie hatte nämlich am Morgen des 28. September die auf dem Iltisberg gelegene schwere Iltisbatterie zum ersten Mal mit 30,5-cm-Granaten beschossen. Die Schiffe mussten sich dabei schräg legen, um die nötige Höhe zu erreichen.1 Dies war für uns günstig, weil die Beobachter immer wussten, wann eine Beschießung der Iltisbatterie und der Stadt Tsingtau erfolgte – sie zogen einen entsprechenden Signalball hoch und machten so uns und die Bevölkerung auf die bevorstehende Beschießung aufmerksam. Wenn nun eine Granate den Iltisberg nicht traf, ging sie meist vor oder hinter ihm als Blindgänger nieder, weil die Geschosse flach ankamen. Es war auf japanischer Seite eine große Verschwendung von Granaten und verlangte auf deutscher Seite die Räumung bzw. Verlegung aller wichtigen Gebäude, die in ihrer Flugbahn lagen.

Aber wir waren froh, dass wir erst einmal davongekommen waren – 107 Tote Verwundete und Vermisste (Adlernest!) hatte uns der »Ausflug« ins Vorgelände gekostet!2 – und, hungrig wie wir waren, aßen wir zu Mittag. Nachdem wir uns gebadet und geduscht hatten – schließlich muss man etwas für die Sauberkeit tun! – legten wir uns ins Bett, um den Schlaf des Gerechten zu schlafen. Uniform, Koppel und Sonstiges mussten wir alarmbereit auf den Stühlen bereitlegen, und auch das Abendessen nahmen wir schnell ein, um wieder weiterschlafen zu können.
Die ganze Nacht war Artilleriefeuer, mit dem wir verhindern wollten, dass der Feind zu nahe an das Haupthindernis herankam.

Am nächsten Morgen, am 29. September, durften wir schlafen, und am Nachmittag erhielt ich Urlaub, um wieder einmal meine Wohnung zu besuchen, zumal am Vormittag der japanische Flieger den in der Nähe gelegenen Gouvernementsplatz mit Bomben belegt hatte.
In meinem Zimmer sah es immer noch nach Umzug aus: Der Kabinenkoffer stand offen, mit Büchern und Extrauniformen halbgepackt, aber nirgends ein Fernglas, mit dem sich Boy Paul für den Monat August bezahlt gemacht hatte.
Es gab noch gut zu essen bei Basse in der »Eiche« – allerdings nicht mehr die guten, frischen Shrimps! –, aber auch gut zu trinken. Und gegen »Shits« konnte man auch noch bezahlen, d.h. man brauchte kein Bargeld, sondern setzte seinen Namen nur unter den mit dem Rechnungsbetrag ausgefüllten Zettel, der dann am Monatsende eingelöst wurde. Ob die DAB, die Deutsch-Asiatische Bank, bei der ich akkreditiert war, noch am Nachmittag ihre Schalter offen hatte, weiß ich nicht mehr, denn in der Stadt sah es traurig aus. Die meisten Frauen und die Kinder hatten ja Tsingtau verlassen, ab und zu war ein Dach oder ein Haus zerstört durch Bomben, die der japanische Flieger warf, oder durch Granaten, die die Iltisbatterie treffen sollten. So musste das Marinehospital, das in der Schusslinie lag, geräumt und statt dessen das Prinz-Heinrich-Hotel benutzt werden, wo in Friedenszeiten die vornehme Bürgerschaft Tsingtaus – und die Einjährigen! – verkehrten.
Die meisten Rikschakulis hatten sich aus dem Staub gemacht, und man konnte schon von Glück sagen, wenn man einen erwischte, der einen eine halbe Stunde zur Kaserne hinaufzog. Aber im Gouvernementsgarten war es schön wie eh und je, das Gouverneurwohnhaus grüßte herab, und vom nahen Signalberg wehte die deutsche Kriegsflagge. Vorbei ging es an der Kaserne der ersten Kompagnie, die selbst vom ersten Tage der Mobilmachung an im Infanteriewerk I war. Der Keller und der erste Stock waren dick mit Sandsäcken bepflastert, denn dort war der Stab tätig, der über das Wohl und Wehe des Pachtgebietes und der es verteidigenden Soldaten entschied. (Daher kommt es wohl auch, dass wir Soldaten unsern Gouverneur respektlos »Sandsack-Meyer« zu nennen pflegten.) Jedenfalls war ich froh, wieder in der Kaserne zu sein und mit Kameraden in der Kantine bei verdunkelten Fenstern ein Bierchen trinken zu können.

In der Nacht zum 30. September wurden wir um 5 Uhr alarmiert, ich weiß nicht warum, wahrscheinlich fürchtete man einen Angriff der Japaner. Oder man wollte uns »auf dem Laufenden« halten, da der Tag der Ruhe dem Feldwebel schon auf die Nerven ging!
Wenn wir aber der Meinung waren, nach der Rückkehr aus dem Vorgelände wieder in unsere gewohnten Infanteriewerke II und III eingewiesen zu werden, so hatten wir uns getäuscht. Denn dort hatte sich unter unserm ehemaligen Oberleutnant Ramin bzw. unter Oberleutnant der Landwehr Schliecker die 7. Kompagnie, also die Reservisten, breitgemacht. Die Japaner scheinen diese schwache Stelle erkannt zu haben, denn ausgerechnet dort sind sie durchdurchgebrochen!3

Wir aber, die 4. Kompagnie, die im Wesentlichen aus aktiven Seesoldaten bestand, wurden in die Lücke gequetscht, die der rechte Flügel zwischen dem Infanteriewerk I und dem am Meer gelegenen Dorfe Tschantschan aufwies. Das Dorf war von der 6. Kompagnie, also im Wesentlichen auch Reservisten, besetzt und war wie die übrigen Infanteriewerke durch ein sogenanntes Blockhaus geschützt. Dieses war erst im Kriege entstanden und stellte ein kleines Infanteriewerk dar. Dort hinaus marschierten wir am Morgen des 30. September durch den sogenannten Forstgarten, am Iltisberg vorbei, über einen Hügel hinunter zu unseren Schützengräben. Diese lagen ungefähr 200 m vor dem Haupthindernis, von dem die Sage ging, dass es elektrisch geladen sei – aber es war wirklich nur eine Sage; denn der Stacheldraht konnte gefahrlos berührt werden!
Wir brauchten beinahe eine Stunde von der Kaserne aus und kamen schon ein wenig müde an unserm Bestimmungsort an! Da sah es traurig aus; denn alles war nur angefangen, auch an Unterstände hinten in einer Ravine hatte man gedacht. Nachdem sich aber die 6. Kompagnie geweigert hatte, an der Vervollständigung unserer Stellung mitzuwirken, blieb uns nichts weiter übrig, als unter unsern Offizieren Oberleutnant der Landwehr Zimmermann und Leutnant der Reserve Dr. Mohr selbst zu arbeiten.4

Um 4 Uhr bekamen wir endlich gnädigerweise als 1. Zug im Infanteriewerk I unser Essen, während der 2. und 3. Zug nach Hause geschickt worden waren und in der Kaserne essen konnten! Als wir dann todmüde um 7 Uhr abends in die Kaserne kamen, wurden wir auch noch angefahren, weil wir keine Wache zurückgelassen hätten. Aber das war wirklich nicht nötig, da sich kein Japaner am Haupthindernis hatte blicken lassen.
Die Hauptsache war, dass wir wieder im Bett liegen konnten, wenn es auch nur wenig Wasser gab, da die Japaner das Wasserwerk Litsun zerstört hatten.

Am 1. Oktober rückten wir um 10 Uhr ab, und zwar gab es Befehl, alles mitzunehmen, was man im Besitz hatte. Auch die Matratzen und Betten wurden auf den Kompagniewagen geladen, kurz, wir sollten die Kaserne für immer verlassen! Tatsächlich ging unser Marsch durch den Forstgarten zum Forsthaus, das, von den Bewohnern geräumt, nur schwere Möbel und das Emblem der deutschen Försterei, das Hirschgeweih, aufwies.
 

b) »Das Forsthaus«

Der Forstgarten diente der Aufzucht und Erprobung heimischer Pflanzen und war wie im Frieden unversehrt. Wie schön war es im Frühjahr, wenn wir durch die Allee mit den japanischen Kirschbäumen zum nahen Exerzierplatz marschierten, an dessen Rand der Poloplatz lag.
Dort hatte man die Schuppen für die Flugzeuge gebaut, die immer wieder das Ziel des japanischen Fliegers waren. Wir sollten also im Forsthaus Quartier nehmen, das näher an unserer Kampflinie lag und den Granaten der feindlichen Schiffe nicht unmittelbar ausgesetzt war, da es hinter Hügeln verborgen war. Die Kaserne war aber gefährdet, wie der Treffer durch das Dach daneben gezeigt hatte.
Das Forsthaus hatte viele Zimmer und trockene Kellerräume, in denen wir nachts auf dem Boden, zwar weich auf Matratzen, aber von Moskitos gequält, schliefen. Die Schränke durften wir nicht anrühren – das war uns besonders eingeschärft worden! –, aber die aus Hongkong stammenden Korbsessel hatten die Offiziere schnell gekapert. Manche schöne Stunde haben wir dort, auf den Bänken am Haus sitzend, bei Tsingtau-Bier am Abend verlebt!

Auch in der Nacht zum 2. Oktober war es ruhig. Um 6 Uhr wurden wir geweckt, und nach einem kurzen Frühstück hieß es: hinaus zu unserer Arbeit an den Schützengräben. Wir hatten ja nur einen Marsch von einer halben Stunde, während wir von der Kaserne eine ganze brauchten.
Umso mehr waren wir erstaunt, als wir, von den Pionieren besorgt, nach dem Muster im Vorgelände 100 Kulis mit ihrem Headmaster antrafen, um beim Bau zu helfen. Wir hatten zwar die Aufsicht, aber mitarbeiten mussten wir doch. Als wir nämlich am Abend »Löhnungsappell« für die Kulis abhielten, waren es statt 100 nur noch 60! Die fehlenden 40 hatten es also vorgezogen zu verschwinden und konnten trotz guter Löhnung bei der schweren Arbeit nicht gehalten werden.
Das Essen holten wir aus Infanteriewerk I – es war schlecht. Dort war auch eine Kantine eingerichtet, in der wir zwar mancherlei kaufen konnten, aber doch das eine oder andere knapp geworden war, z.B. Butter.

In der Nacht machte der linke Flügel einen Ausfall: Der Hauptmann und Kompagnieführer Graf Hertzberg fiel. Böse Zungen behaupteten, er sei von den eigenen Leuten hinterrücks erschossen worden, weil er sie – wie uns in Cuxhaven! – in Tientsin wegen Kleinigkeiten geschunden habe!5 Der die Soldaten-Misshandlungen besprechende Reichstag war ja weit weg, und seine Mitglieder pflegten nicht so umherzureisen wie heute die Mitglieder des Bundestags. Später wusste niemand mehr etwas davon. Graf Hertzberg kam von der Infanterie und gehörte zu denen, die dank ihrer Beziehung zur Kaiserlichen Marine ihre Bezüge durch die Auslandsgelder verbesserten! Schließlich: War man nicht selbst ein Protektionskind, da sich über 45 Einjährige gemeldet haben sollten und nur 8 genommen wurden? Aber über Autos und Protektion schimpfen die, die keine haben!
Von alledem merkten wir am rechten Flügel nichts, erst im Laufe des 3. Oktober sickerte die Nachricht durch. Sonst verlief der Tag ohne besondere Ereignisse, es sei denn zu erwähnen, dass das Essen nicht mehr im unfreundlichen Infanteriewerk I geholt wurde, sondern in »unserm« Infanteriewerk II.

Der nächste Tag, Sonntag, der 4. Oktober, hatte für mich insofern eine Bedeutung, als ich rite Unteroffizier wurde. Beim III. Seebataillon galt ja die Ausbildung in Cuxhaven und auf See nicht; wir wurden daher nicht wie in der Heimat am 1. April, sondern erst am 1. Juli Gefreite und dementsprechend am 1. Oktober Unteroffizier. Ich hatte schon als sogenannter Unteroffiziers-Diensttuer vom 1. August ab eine Korporalschaft [geführt], weil mein Unteroffizier Rieck – wir nannten ihn immer den »Ravinenkreuzer«, weil er mit seinen langen Beinen die Ravinen besonders gut nahm! – mit seinem Adlatus, dem Gefreiten Podsiadly, zu den Maschinengewehren abkommandiert wurde. Rieck war immer sehr nett zu mir, sodass ich ein angenehmes Leben bei der Kompagnie führte, abgesehen von den allgemeinen Schindereien bei Übungen oder auf dem Exerzierplatz.

Im Gegensatz zu mir erregte mein Miteinjähriger-Kamerad Otto Stegemann, der alles recht machen wollte und doch so unbeholfen war, das Missfallen der Feldwebel: Bei jedem Nachexerzieren war er dabei! Ich hatte mit ihm dienstlich wenig zu tun, da er im 3., ich dagegen im 1. Zug war; wenn aber ein Sonderurlaub oder dergleichen vom Feldwebel zu erbitten war, musste ich immer gehen, da er keinen Erfolg hatte.
Sonst war der Tag recht unruhig, vom Sonntag war jedenfalls nichts zu merken! Erst gab es Löhnung – seit dem 1. August ja auch für den sogenannten Einjährigen! –, dann musste ein Teil der Kompagnie in Bereitschaft, d.h. in Stellung gehen, da unsere Geschütze heftig schossen, aber wohl nur, um den Feind zu stören. Am Abend kamen wir dazu, das Ereignis des Tages, nämlich meine Unteroffizierswerdung, gebührend zu feiern.

Am 5. Oktober erschien der japanische Flieger schon um 7 Uhr! Hauptmann Perschmann jagte uns alle in den Keller und rügte die Menge der leeren Bierflaschen vor dem Haus, da unser Aufenthalt geheim bleiben sollte. Tatsächlich fielen in der Nähe Bomben; sie galten aber nicht uns, sondern dem Flugzeugschuppen, wo ein Treffer erzielt worden sein soll, wie wir später hörten. Hinter dem getroffenen Tor war jedoch eine Attrappe: Seine Taube hatte Plüschow irgendwo anders untergestellt!
Nachmittags sahen wir in der gleißenden Sonne kurz unsern Fesselballon. Er unterstand dem Leutnant der Reserve von Weyhe und sollte die Stellungen der Japaner erkunden. Aber beim ersten Aufstieg wurde dieses kurz vor dem Krieg aus der Heimat eingetroffene Instrument so mit Schrapnells eingedeckt, dass es schleunigst wieder eingezogen und nie mehr in die Höhe geschickt wurde.

Ein Teil der Mannschaften wurde immer zur Reinigung des Forsthauses und dergleichen zurückbehalten, und zwar war meine Korporalschaft am 6. Qktober dran. Da ich aber damit nichts zu tun hatte, bekam ich mittags Urlaub. Noch während ich auf dem Weg zu meiner Wohnung war, ging der Signalball in die Höhe, andeutend, dass in Kürze mit einer Beschießung der Batterien auf den Hügeln und der Stadt zu rechnen sei.
Ich eilte also zur »Eiche« und war kaum im Keller, als die zweistündige Kanonade begann. Ich glaube aber, dass mir trotz der Anwesenheit einiger alter Chinesinnen das Essen recht gut geschmeckt hat, da das Kommissessen auf die Dauer recht eintönig war.

Beim Bau der Schützengräben war immer einer von der Pionierkompagnie anwesend, der uns gute Ratschläge geben wollte. Diese Kompagnie sammelte alles, was an chinesischen Arbeitskräften vorhanden war. Es wurden natürlich immer weniger, und auch die Kulis mussten rationiert werden, denn am Abend musste jede Kompagnie ihren Bedarf melden, der dann gegen 8 Uhr am Zementschuppen in der Nähe der Artilleriedepots abgeholt werden musste.
Am 7. Oktober hatte ich die Ehre, die Kulis in Empfang nehmen zu dürfen, natürlich weniger, als wir brauchten!
Gegen 4 Uhr nachmittags sahen wir von unserer Arbeitsstelle aus die Schein-Ballons, die wir zur Täuschung des Feindes hatten aufsteigen lassen, aber die Ballons wurden gegen das Meer getrieben und von den Japanern nicht beschossen.

Der 8. Oktober ist insofern bemerkenswert, als wir mit den nicht eingedeckten Schützengräben fast fertig waren. Gegen 11 Uhr erschien der japanische Flieger wieder so niedrig, dass man ihn erkennen konnte; aber unsere Leute hatten den strikten Befehl, nicht zu schießen. Da ging es neben uns wieder »sst, sst«, sodass wir schleunigst im Schützengraben volle Deckung nahmen; passiert ist uns und dem Flieger nichts, den wohl eines unserer Maschinengewehre aufs Korn genommen hatte (war es Rieck?). Nur einem Chinesenjungen war ein Geschoss durch die dicke Wange gedrungen: oben rein, unten raus und war schließlich, im Lauf gehemmt, in der Hand stecken geblieben! Pflaster durch den Sanitäter und ein paar Nickelmünzen machten den Schaden wieder gut.
Auch die Unterstände waren beinahe fertig, entsprachen aber weder nach Lage noch nach Zustand unsern Anforderungen; sie mussten also weiter in der Ravine neu angelegt und bombensicherer ausgebaut werden. Zu diesem Zweck wurden auf Anraten unserer Fachleute (Bergmänner!) Eisenbahnschwellen bei der Schantung-Eisenbahn bestellt und aus der Stadt geholt.

Der nächste Tag, der 9. Oktober fand uns wie der 10. Oktober bei den Schützengräben, wobei das Gerücht ging, die Japaner versuchten, sich in den Ravinen gegenüber den Infanteriewerken heranzuarbeiten, was ihnen aber erst nach fast einem Monat gelungen ist!

Am folgenden Tag, Sonntag, dem 11. Oktober, waren wir wieder bei der Arbeit. Nachmittags hatte ich Urlaub und Vizefeldwebel der Reserve Pielcke sowie Unteroffizier der Reserve Eckert zum Abendessen in der »Eiche« eingeladen. Wir tranken Tsingtau-Bier und hinterher, trotzdem wir im Kriege waren, französischen Rotwein, einen ausgezeichneten Chambertin! So kehrten wir zwar leicht beschwingt, aber unbehelligt ins Forsthaus zurück.

Der 12. Oktober war sehr merkwürdig: Die Japaner erbaten nämlich einen Waffenstillstand von 12 Uhr 40 bis 4 Uhr 20 nachmittags, um ihre Toten zu verbrennen. Da eine solche Gefechtspause auch bei uns genau eingehalten wurde – es wurde z.B. nicht an den Schützengräben gebaut! – erhielt ich wieder Urlaub in die Stadt, den ich zu einem Besuch des Hafens benutzte. Da lagen an der Mole traurig zwei Dampfer, die später ebenso gesprengt wurden wie der große Kran, der einsam zum Himmel ragte. Nur eine Barkasse schaukelte hinüber zur Kaiserin Elisabeth draußen in der Bucht, weitab von der feindlichen Artillerie, aber sie hatte mit dem Kanonenboot Jaguar unsere linke Flanke artilleristisch unterstützt und nun ihre schweren Geschütze wohl schon an die Landfront abgegeben. Auch das Torpedoboot S 90 war zu sehen; aber sonst war es still im Hafen, den sonst alle größeren Ostasienlinien anliefen und der sich in mehr als einem Jahrzehnt mächtig entwickelt hatte.
Am Abend saßen wir wieder gemütlich vor dem Forsthaus, wo es kühler geworden war und die Moskitos sich allmählich zurückzogen – aber geraucht wurde trotzdem!

Am nächsten Tag, am 13. Oktober, waren wir draußen, ohne dass sich etwas Besonderes ereignet hätte. Am Abend hörten wir jedoch von Parlamentärbesprechungen über den letzten Transport von Flüchtlingen aus Tsingtau.

Während wir am 14. Oktober bei den Schützengräben waren, sahen wir, dass die japanischen Kreuzer sich schräg legten, was bekanntlich eine Beschießung von See bedeutete. Das Feuer galt aber keineswegs uns, sondern der Iltisbatterie, die keinen Schaden erlitt; auch die Huitschuenhuk-Batterie wurde beschossen, wie uns am Abend erzählt wurde. Sie erwiderte das Feuer und erzielte einen Treffer auf dem englischen Kreuzer Triumph, einen Volltreffer, worauf das Schiff abdrehte!

Bis dahin war schönes Wetter, aber am 15. Oktober, als der amerikanische Konsul und die letzten Nichtkombattanten Tsingtau verließen, begann es zu regnen. Ich war gerade im Forsthaus, als ein heftiger Platzregen einsetzte; erst nach Stunden wurde er schwächer, und da kam auch die Kompagnie zurück, die in den Unterständen eingeweicht worden war! Aber die Japaner mussten den Regen auch spüren und waren vor allem mit dem Transport der Artillerie aufgehalten. Nach chinesischen Meldungen, die natürlich nie bestätigt wurden, sollten die japanischen Soldaten unter Dysenterie leiden und dadurch viele Ausfälle haben.
Von der Heimat lagen wieder einmal gute Nachrichten vor: Antwerpen war genommen und der Fall Warschaus sollte bevorstehen. Wenn wir auch diese Meldungen, die über einen kleinen Dampfer [Sikiang] in Schanghai kamen, meist mit einiger Skepsis aufnahmen, so trugen sie auch dazu bei, unsern »Kampfgeist« anzufeuern und unsere Stimmung zu verbessern.

Da der Regen auch am 16. Oktober anhielt, entschied der Kompagnieführer nach Rücksprache mit dem Feldwebel, dass alles im Forsthaus bleiben sollte. Wie wir verpflegt wurden, weiß ich nicht mehr; jedenfalls war die Küche des Forsthauses für die Herren Offiziere beschlagnahmt und vom Kompagnie-Feldwebel bestens versorgt, der sich bei ihnen Liebkind machen wollte.
Wir vertrieben uns die Zeit mit Lesen und Kartenspielen; draußen aber regnete es, regnete, regnete!

Am nächsten Tag, am 17. Oktober, wurde das Wetter besser, ließ der Regen nach, und wir mussten wieder hinaus zu unserer Stellung. Da stellte sich denn heraus, dass vor allem die »alten« Unterstände nichts taugten; Wasser und Sand war zwischen den dünnen Balken durchgedrungen, sie waren also mehr Gefahr als Schutz für uns, besonders wenn ein Blindgänger auf die »Bedachung« bumste! Mit aller Energie wurde daher an die »neuen« Unterstände herangegangen.
In der Nacht brach das Torpedoboot S 90, das ich noch im Hafen liegen sah, durch und versenkte dabei den japanischen Kreuzer Takaschiho!

Dies wurde uns am Sonntagmorgen, am 18. Oktober, erzählt, wobei der Hauptmann die Gelegenheit ergriff, um auf die Bedeutung des Tages hinzuweisen – wieviele wissen heute noch vom 18. Oktober? S 90 hat chinesisches Gebiet erreicht und sich an der neutralen Küste selbst gesprengt.
Mittags hatte ich Urlaub und aß gut bei Basse. Aber mit dem Mittagsschlaf im weichen Himmelbett war es nicht viel, da der Ball hochging und Beschießung von See anzeigte, die wie immer zwei Stunden dauerte. Es blieb mir also nichts übrig, als mich langsam in den Keller zu begeben, wo gerade Herr Basse den Passanten und Nachbarn vordozierte, dass infolge der Flugbahn der Granaten sein Haus, die »Eiche«, nicht getroffen werden könne. Der Keller bot allerdings nur fragwürdigen Schutz; aber Frau Basse blieb in Tsingtau und mit ihr die chinesische Amah, die in der Küche half.
Am Spätnachmittag musste ich wieder zum Forsthaus – wahrscheinlich bin ich gegangen! –, weil ich mit meiner Korporalschaft auf Wache bei den Schützengräben ziehen musste.

Es war ein grimmiges Wetter, denn in der Nacht zum 19. Oktober brach ein Sturm und Regen los, dass am Morgen an Arbeiten nicht zu denken war. Das Unwetter hielt fast den ganzen Tag an, und erst als am Spätnachmittag der Regen nachließ, kam unsere Ablösung. Es war, als ob der Regen das schöne Wetter vertrieben hätte, denn es war kalt geworden, und man konnte sein Winterzeug wohl brauchen!

Anderen Tages, am 20. Oktober, kam unsere Wache zurück und berichtete, dass die »neuen« Unterstände bis auf zwei eingestürzt seien, die »alten« aber gehalten hätten. Darüber war großes Entsetzen bei den Fachleuten, die eine tiefere Grabung empfahlen! Was blieb uns anderes übrig, als ihrem Rate zu folgen, wenn wir »sicher« sein wollten?
Von den Japanern wurde gemeldet, dass sie zum Endspurt zwei Divisionen eingeschifft hätten.

Bei einem Ausfall am 21. Oktober zwischen Infanteriewerk II und III fiel morgens der unserer Kompagnie angehörende Gefreiter Küfer! Er war ein netter Mensch und ein guter Kamerad.

Wer in Krieg und Frieden befestigte Anlagen baute, brauchte Stacheldraht. Unser Haupthindernis und die Infanteriewerke waren gespickt, und wahrscheinlich hatten auch die Batterien Stacheldraht-Schutz, damit sich kein feindlicher Spion einschleiche! Da dieser Stacheldraht im Schutzgebiet nicht hergestellt wurde, wurde er allmählich Mangelware. Einer unserer Offiziere erinnerte sich aber eines Gesprächs mit unserm Oberstleutnant von Kessinger, der zu Beginn des Krieges – man konnte nie wissen! – seine Villa mit Stacheldraht hatte umgeben lassen. Inzwischen waren Frau und Kinder evakuiert worden, der Oberstleutnant selbst in die sandsackbewehrte Kaserne übergesiedelt; der Stacheldraht hatte also seinen Sinn verloren!
Als Ortskundiger, dem sich ein paar Kameraden anschlossen, musste ich mich, mit Beißzangen und einigen Leuten bewaffnet, zur Villa am Poloplatz begeben, um den Draht zu holen. Die Männer waren gerade, dabei, den Stacheldraht auf Latten aufzuwickeln, als sich auf dem Poloplatz weiße Wölkchen zeigten, und es platterte, wie eben Schrapnells zu tun pflegen. Die Japaner hatten ihre Landartillerie schon näher herangeholt und versuchten, unsern landenden Flieger zu beschießen. Da es ein wenig dicht am Haus war, schlugen wir die Kellertüre ein und suchten volle Deckung.

Während wir so das Ende der Schießerei erwarteten, erinnerte ich mich eines Erlebnisses in Friedenszeiten: Eines Sonntags kamen wir auf den Gedanken, auszureiten und uns draußen ein wenig Bewegung zu machen, wohl weil wir unter der Woche nicht genug bewegt wurden! Es erschienen also, vom Boy Paul angeführt, vier Pferde, nein sibirische Ponies, kleine aber zähe Tiere, bei denen die Beine eines großen Reiters den Boden berührten. Wir stiegen schlecht und recht auf und ritten im Vorgelände herum, das uns ja nicht unbekannt war. Auf dem Rückweg nach zwei Stunden ritten wir am Poloplatz vorbei, wobei eines der Rösser nicht zu halten war: Der Reiter, mein Kamerad Hafels, konnte machen, was er wollte – das Pferd bog in eine Villa ein und blieb vor der Stalltüre stehen! Es war natürlich die Villa unseres Oberstleutnants, dem das Pony früher gehört hatte, und es bedurfte des guten Zuredens und des Führens des Pferdeburschen, um das Ross wieder auf den rechten Weg zu bringen.
Der Beschuss dauerte nicht lange, und fluchend wegen der Schwere der Last begaben wir uns auf den eine halbe Stunde weiten Weg zum Forsthaus. Unterwegs ging auch noch das Schießen von See aus an, das uns keinen Schaden tun konnte, da wir im Schutz der Hügel gingen.

Am 22. Oktober war ich wieder draußen beim Beaufsichtigen der Arbeiten an den Unterständen, die bomben- und wettersicherer gemacht wurden. Nachmittags wurde der Unteroffizier Diehl vom Infanteriewerk I bei einem Patrouillengang schwer verwundet. Ehe er starb, vermerkte er noch in seinem Notizbuch, er stürbe einen schweren Tod, aber er stürbe gern für seinen Kaiser! Nun, etwas mehr als vier Jahre später hatten wir kein Kaiserreich mehr, und der Kaiser selbst war im Exil in Holland!

Zum ersten Mal sind die Japaner am 23. Oktober über Tsingtau mit zwei Aeroplanen erschienen, die offenbar von See aus aus flogen. Sie wurden ohne Erfolg von den Unsrigen beschossen, wir aber waren wieder einmal im Keller!

Vom 24. Oktober verzeichnet mein Tagebuch keine besonderen Ereignisse.

Am Sonntag, dem 25. Oktober, erhielt ich den letzten Urlaub in die Stadt Tsingtau. Ich besuchte im Café »Kronprinz Wilhelm«, das zum Lazarett umgewandelt worden war, meinen Kameraden Otto Stegemann. Er war seinerzeit im Vorgelände an einer schweren Amöbenruhr erkrankt, obwohl oder weil er nicht rauchte, keinen Alkohol trank und nie rohes Obst aß, was wir alle taten. Nun lag er verhältnismäßig munter zwischen all den Kranken in dem Gebäude, das man auf dem Dache mit einem großen Roten Kreuz versehen hatte, dass es von den japanischen Fliegern nicht angegriffen würde. Heute würde man einem solchen Kranken einige Dosen Penicillin geben, damals starb aber mancher an der Ruhr, bis man darauf kam, dass das kurz vor dem ersten Weltkrieg entdeckte »Ehrlich-Hata« auch gegen die Amöbenruhr mit Erfolg verwendet werden konnte.
Otto Stegemann erzählte mir später, dass er am Sturmtage versucht habe, die Halbkranken und die Gesunden – die Drückeberger! – zum Widerstand gegen die Japaner zu begeistern – aber umsonst!

Auf dem Heimweg wurde wieder Beschießung von See angezeigt, und der am Abend von den Schützengräben heimkehrende Posten meldete, dass Infanteriewerk III von Infanteriefeuer beschossen worden sei.
Die Japaner mussten sich schon nahe an das Haupthindernis herangearbeitet haben, und in der Tat besagte der Gouvernementsbericht vom 26. Oktober – den Radiomeldungen von heutzutage vergleichbar! –, dass der Angriff Ende des Monats bevorstehe.
Wir gingen wie üblich zur Arbeit, und die Schiffe fuhren zur Beschießung der Iltisbatterie und neuerdings des Infanteriewerks I auf. Schaden wurde nicht angerichtet, wir nahmen in den erweiterten Unterständen Deckung.
Als neuestes Dessin bauten wir – die Kulis hatten uns verlassen! – mit viel Spaß ein Stauwehr in dem Rinnsal, das vom letzten Regen her von den Hügeln herabrieselte. Wie notwendig diese Maßnahme war, sollte sich bald erweisen.

Am 27. Oktober waren wir wieder bei der Arbeit. Ich glaube, an diesem Tage prägte der Kaiser in einem Telegramm den Ausdruck »Helden von Tsingtau«, der uns anhaften sollte.

Die Beschießung von See und Land war am 28. Oktober so stark, das wir kaum arbeiten konnten. Einem unserer Reservefeldwebel fiel eine 30,5-cm-Granate buchstäblich vor die Füße, als er mit ein paar Leuten – »gruppenweise« nannte man das menschenfreundlich! – zum Infanteriewerk II zum Essen gehen wollte. Es war aber nur ein Blindgänger, und so warf der Luftdruck den Feldwebel etwas unsanft auf sein dickes Hinterteil!
Im Übrigen hörten wir die langen »Musterkoffer« immer schon von weitem, da der Schall schneller war als der Flug, ohne natürlich die Flugrichtung zu kennen.
 

c) Die letzte Kriegswoche

Der 29. Oktober sah mich mit meiner Korporalschaft im Forsthaus, d.h. meist im Keller. Wir hatten den Eindruck, dass nunmehr die pausenlose Beschießung Tsingtaus und seiner Verteidigungswerke begonnen hätte, um die letzte Entscheidung herbeizuführen.

Am 30. Oktober mussten wir draußen bleiben und den ganzen Tag arbeiten, soweit es die Beschießung zuließ. Ich erinnere mich noch, dass eine Schrapnellkugel neben mir niederfiel, als ich vor dem Unterstand saß; wir Seesoldaten hatten nicht einmal einen Helm, sondern nur eine gewöhnliche Mütze, im Sommer den Tropenhelm, und Stahlhelme kannte man damals noch nicht. In der Heimat trugen die Seebatailloner an Festtagen den Tschako.
Auch nachts mussten wir draußen bleiben und bei Mondschein sowie schwächerer Beschießung bis halb 3 Uhr arbeiten, verpflegt durch unsern treuen Kompagniewagen, den die tapferen Mulis bis zum Dorfe Tschantschan brachten, wo wir die Konserven holen mussten; denn einen Weg gab es zu unserer Stellung nicht.

So kamen wir am 31. Oktober erst um 4 Uhr früh im Forsthaus an und legten uns todmüde gleich zum Schlafen hin. Um 9 Uhr wurde die Beschießung so heftig, dass die Vorgesetzten uns in den Keller jagten. Bis nachmittags 5 Uhr dauerte die Beschießung, die allerlei Schäden anrichtete, wie am Abend der Bericht des Gouverneurs sagte: an Gebäuden in Tsingtau, am Werftschuppen, an der Germaniabrauerei, an den Moltkekasernen und -Baracken, aber auch die große Bismarckbatterie wurde getroffen und eine von Österreichern besetzte Batterie, wo es Tote und Verwundete gab. Schließlich wurden noch die Öltanks am Hafen in Brand geschlossen, auch die Chinesenstadt von Tsingtau, Tapautau, sollte brennen!
Dabei warf ein japanischer Flieger einen Zettel ab, der es in schlechtem Deutsch als »dem Gottes Wille und der Menschlichkeit entgegenwirkend« bezeichnete, wenn alles zerstört würde!
Abends um 7 Uhr sind wir wieder nach Tschantschan, wo uns der Essenswagen erwartete. Da wir am Tage wegen des Beschusses kaum arbeiten konnten, mussten wir bei Nacht den Stacheldraht vor den Schützengräben anbringen. Es sollte ein Hindernis sein, es waren aber nur Stolperdrähte, die durch die feindlichen Geschosse bald in alle Winde verweht waren. Mit den Schrapnells pflegten die Japaner auch des Nachts das Gelände zu belegen, und zwar nach dem Planquadrat, sodass wir wussten, wann wir »dran waren« und volle Deckung nehmen konnten.
Übrigens kamen über das Haupthindernis die ersten verbürgten Gewehrschüsse – Japaner, die sich dort wohl schon eingenistet hatten.

Um 3 Uhr früh legten wir uns am 1. November in den »alten» Unterständen nieder, aber schon um 6 Uhr siedelten wir in die »neuen« über, als das Bombardement von Land begann. Es war wieder ein Sonntag, aber wir merkten nichts davon, denn nach wie vor strichen die Japaner das Gelände mit Schrapnells ab, denen wir aber ausweichen konnten, vor allem die Posten, die aus den Schützengräben kamen.
Eine Frühstückspause der japanischen Schiffe wollten wir dazu benützen, um bei Tage zum Forsthaus zu gelangen; die Beschießung begann aber bereits um halb 7 Uhr , als wir gerade unterwegs waren. In Gruppen mussten wir uns über den besonders gefährdeten »Hügelgrat« zum Forsthaus hinabschleichen.
Am Abend meldeten die Nachrichten starke Beschießung und den Abschuss der Kriegsflagge auf dem Signalberg, die bald wieder ersetzt wurde. Der große Kran, den ich noch gesehen hatte, wurde an diesem Tage gesprengt, ebenso das Dock und ein kleines Kanonenboot Jaguar.6

Nach den Nachrichten gingen wir wieder hinaus, um am »Drahthindernis« weiter zu arbeiten; es wurde aber wegen des Beschusses nicht viel daraus und bestimmt, dass wir die neuen Unterstände offiziell beziehen sollten, wobei ich mit meiner Korporalschaft dem Unterstand Nr. 5 zugeteilt wurde. Damals glaubten wir allerdings nicht, dass das Gros nicht mehr ins Forsthaus kommen würde, aber am 2. November wurde befohlen, das wir dauernd draußen bleiben sollten, von einzelnen Männern abgesehen, die Zeug aus dem Forsthaus holen sollten. Auch war von früh bis abends Beschießung, sodass ein Aufenthalt im Freien nur in den Pausen möglich war.
Abends versuchte unsere Führung, die Stellung besetzen zu lassen. Das Aufklatschen der Schrapnells auf Bohlen und Bretter war nicht angenehm, und als gar eine Granate vor den Schützengräben einschlug, durften wir wieder abziehen nach dem Grundsatz: »Unnützes Blutvergiessen ist zu vermeiden!«
Nachts war übrigens die Kaiserin Elisabeth versenkt worden, nachdem alle brauchbaren Geschütze an der Landfront eingebaut waren und mit ihrer Munition [dort] verwendet werden sollten.

Besonders groß war unser Groll auf die gesonderte Offiziersverpflegung: Während wir uns mit den übrigens ausgezeichneten und reichlichen Konserven trösten mussten, die primitiv warm gemacht wurden, labten sich die Herren Offiziere an frischen Hühnern, Eiern und dergleichen.7
In diesem Zusammenhang erlebte ich folgendes: Gegen 4 Uhr des 3. November weckte mich der von seinen Maschinengewehren wieder zurückgekehrte Unteroffizier Rieck in meinem Unterstand und überbrachte mir einen »dienstlichen« Befehl des Feldwebels Schumann, ich solle sofort mit 3 bis 4 Mann nach dem 20 Minuten entfernten Tschantschan marschieren und dort vom Kompagniewagen den Offiziersherd abholen. Erst fluchte ich einmal gottslästerlich, aber es blieb mir nichts anderes übrig: »Dienst war Dienst« und »Schnaps war Schnaps!« Also nahm ich aus meinem Unterstand vier »Freiwillige«, die ebenso fluchend aus dem Schlaf aufschreckten. Sie taten wohl nur so, denn meine Auseinandersetzung mit Rieck war laut und lebhaft!
Mit meinen Leuten zog ich also in die kühle Herbstluft, immer schön langsam und abstandsweise wegen der Schrapnells, gen Tschantschan hin, dong i dong, sagten wir! Dort fanden wir am Dorfeingang den Wagen mit dem Herd. Die Leute wollten möglichst wenig tragen und bewogen daher den Muliführer, etwas weiter ins Dorf zu fahren. Kaum waren die Mulis aus der Schutz der Mauer einer Hütte herausgekommen, da sackte das eine der zwei Muli tot zusammen, eine Granate hatte ihm den Kopf abgerissen! Fluchen des Muliführers, der das tote Tier abhalfterte; aber unsern Leuten blieb nichts anderes übrig, als den Herd abzuladen und das schwere Ding zu tragen. Glücklicherweise verlor der Herd bei dem Absetzen alle paar Meter ein Bein, und die Leute weigerten sich, den Herd weiter zu schleppen, da wir auch wegen der Schrapnells alle Augenblicke Deckung suchen mussten. Und so kamen wir ohne Herd zurück, der irgendwo im Gelände vor dem Dorf im Mondlicht lag. Bei der Meldung beim Feldwebel gab es zwar einen kräftigen »Anschiss«, zumal sich der Feldwebel bei seinen Offizieren nicht beliebt machen konnte, aber an der Sache war nichts mehr zu ändern.

Wir hauten uns wieder in den warmen Unterstand und schliefen fest trotz des dauernden Beschusses durch die japanische Artillerie. Nur ab und zu wachten wir auf, wenn ein Blindgänger flach in der Nähe aufschlug und die Kerze aufflackerte, die den Raum beleuchtete. Da lag Mann neben Mann, in den Mantel eingehüllt, und in Gedanken sah man den Blindgänger über die Ravine hinüberwirbeln.
Unsere eigene Artillerie antwortete wegen Munitionsmangels nur selten, nachdem sie in den letzten Tagen nocn lebhaft geschossen hatte, um den Feind zu stören und das Munitionslager zu räumen.
Zwischendurch – auch die japanische Artillerie machte ja Mittagspause – schlichen wir in Gruppen zum 20 Minuten entfernten Infanteriewerk II, um dort zu essen und die neuesten Gerüchte zu hören, die dort umherschwirrten. Jedenfalls erwartete man bald den endgültigen Angriff der Japaner! Wir waren immer froh, wenn wir aus dem Betonklotz wieder draußen waren und sich die mit Stacheldraht bewehrten Tore hinter uns schlossen.
Nachts hatte ich Wache – außertourlich, wohl weil ich den Herd nicht herbeigezaubert hatte! –, aber nicht in dem Schützengräben, wo ein Volltreffer Balken und Bretter in die Luft gejagt hatte, sondern in einem Unterstand, der als »Wachtlokal« bestimmt war.

Am nächsten Tag, am 4. November, war es sehr kalt, ein eisiger Nordwind wehte, und auf dem Wasser, das wir uns zum Waschen und zum Trinken von unserm »Stausee« holten, waren schon Eiskrusten. Das Bombardement war schwächer geworden, aber es ging das Gerücht, Infanteriewerk IV und unsere, die Bismarckkaserne, sollten einen Volltreffer erhalten haben. Wir hatten ja keine Telefonverbindung und waren auf das angewiesen, was von Tsingtau kommende offizielle oder inoffizielle Leute mitbrachten.
Am Abend wurden verschiedene Beförderungen der Mannschaften und aktiven Unteroffiziere ausgesprochen. Ich glaube, mein im Lazarett liegender Kamerad Otto Stegemann wurde damals Unteroffizier, was ihn sicher freute und ihm manches Unangenehme später ersparte. Es gab auch die letzte Löhnung, und zwar in harten, klingenden Mexikaner-Dollars, da das Gouvernement Wert darauf legte, den Japanern so wenig als möglich an Silber übergeben zu müssen.

So verbrachten wir auch den 5. November meist mit dem Beobachten der Geschosse, die, von See kommend, fast immer Blindgänger waren. Sie gingen entweder zu kurz oder zu weit und trafen selten die Kuppen der Hügel, hinter denen die Batterien eingebaut waren.
Wir hielten uns in oder vor den Unterständen auf und vernahmen von der Wache, die von den Unterständen bzw. Schützengräben zurückkam, dass sich am Haupthindernis nichts Besonderes gezeigt habe. In der Tat hatte sich das Hauptgewicht des japanischen Angriffs auf die Mitte und den linken Flügel konzentriert. Nachdem der Feind bereits das große Wasserwerk Litsun zerstört hatte, stürmte er in der Nacht zum 4. November auch das kleine Haipoer Wasserwerk; hier wurden nicht nur 24 Mann der III. Kompagnie gefangen genommen, sondern auch Tsingtau ganz vom Trinkwasser abgeschlossen.
Schrecklich war das Geheul zu hören, das ein wohl durch eine Mine schwerverletzter Japaner ausstieß. Er lag irgendwo im Vorgelände, wo ihn seine Kameraden nicht holen konnten. Wir waren froh, als er ruhig war, offenbar vom Tode umfangen! Das Bombardement wurde gegen Abend wieder stärker, sodass wir begannen, unsere Konserven anzugreifen, weil es unmöglich war, von Tsingtau Nachschub zu erhalten.
Die Gerüchte verstummten nicht, dass es die Festung Tsingtau nicht mehr lange aushalten würde, denn die Japaner hatten sich bis an das Haupthindernis vorgearbeitet und schon einen vergeblichen Sturm zwischen [dem] Infanteriewerk V und [dem] Watt versucht.
Es war weiterhin kalt, und nur in den Unterständen war es warm, da wir eine Decke vor die Eingangspforte gehängt hatten. Dieser Eingang lag nach Angabe der Fachmänner im rechten Winkel, damit eine davor explodierende Granate die Leute im Unterstand nicht treffen sollte; aber Tageslicht hatten wir natürlich nicht.
Wir empfingen die Besuche unserer Kompagnie-Reserveoffiziere Zimmermann und Dr. Mohr und ließen den »fast« letzten Tropfen in der Runde kreisen. Unser Kompagnieführer, Hauptmann Perschmann, ließ sich nicht blicken. Er war ein schüchterner, sonderbarer Herr, der immer mit Handschuhen bewaffnet einherlief.
Seit dem 1. August zeichnete sich der Unterschied zwischen den Aktiven und den Reservisten, zu denen auch ich mich zählte, immer mehr ab: Wer eben das Geld hatte, der hatte auch die Macht!8

Noch immer galt das Wort des Gouverneurs in seinem Telegramm an den Kaiser: »Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äussersten!« Was verstand man darunter, fragte sich mancher!
Auch die Nacht zum 6. November brachte eine heftige, dauernde Beschießung, aber keinen Angriff. Ebenso verlief auch der Tag, und erst später hörten wir, dass Plüschow auf seiner Rumplertaube Tsingtau in Richtung auf das neutrale China verlassen hatte und dass der Jaguar gesprengt worden war.

Am Abend besuchte uns ein Bekannter, der kleine Vizefeldwebel der Reserve Rappenecker aus Freiburg im Breisgau, den sie zum Blockhaus versetzt hatten. Er brachte schlechte Nachrichten, die noch durch einen am Arm verwundeten Matrosen bestätigt wurden. Er kam gegen 11 Uhr nachts von der Iltisbatterie und sollte sich zu einem Lazarett durchschlagen; von unserm Sanitäter wurde er notdürftig verbunden und verschwand dann wieder. Allmählich verdichtete das Gerücht, zumal wir auch fremde Laute hörten, die Japaner seien bei Infanteriewerk III gegen Mitternacht durchgebrochen. Dies wurde auch durch eine Patrouille unter Dr. Mohr und mit Unteroffizier der Reserve Eckert festgestellt: Der Feind stürmte bereits die hinter uns liegende Iltisbatterie!
Das bedeutete eine Umgehung unserer schön nach dem Haupthindernis ausgerichteten Schützengräben, soweit sie nicht von Granaten auseinandergerissen waren, und vor allem die Umgehung unserer Unterstände.
Es wurde also im Einverständnis mit K6 der Rückzug befohlen – zum letzten Male! –, um die Matrosen der Iltisbatterie aufzunehmen; diese war gesprengt worden und wurde von den Japanern nicht mehr beschossen, um die eigenen Leute nicht zu gefährden.
Wir waren also auf dem Rückzug und trotteten in der Nacht zum 7. November immer parallel zum Meer dahin. Immer wieder wurde unser Marsch unterbrochen, bis wir hörten, wie die Japaner mit lautem Gebrüll die Hügel stürmten.
Da sahen wir in der Morgendämmerung gegen 6 Uhr 30 auf dem Signalberg die weiße Flagge der Übergabe und bald darauf die weiße Flagge mit dem roten Punkt der Japaner. Es war das Zeichen, dass der Kampf um Tsingtau zu Ende war! Wir erledigten uns also aller Dinge, die den Japanern als Kriegsbeute willkommen gewesen wären, des Gewehres vor allem, dessen Schloss und Munition wir in alle Winde zerstreuten, des aus Belgien stammenden Revolvers, den ich auseinandernahm und dessen Teile ich ins Gelände warf usw.
 

d) Gefangennahme und Sammlung zum Abtransport

In der Nähe war die Iltiskaserne, und dort fand [am 7. November] unsere Gefangennahme statt: Japaner kamen an, »Banzai« schreiend, aus der Hüfte mit dem leichten Sturmgewehr schießend, mit dem Sturmgepäck und mit rot unterlaufenen Augen, als wäre ihnen vor dem Sturm Alkohol eingeflößt worden.
Wir aber standen herum, waffenlos, plötzlich von Japanern umgeben und wussten nur, dass wir künftig ihnen zu gehorchen hätten.
Vor uns lag auf dem Rücken ein toter deutscher Matrose. Da holte ein Japaner ein weißes Laken aus der Kaserne, die übrigens kein Deutscher betreten durfte; er tauchte das Tuch in das Blut des Deutschen und hatte eine japanische Kriegsflagge, die bald aus dem ersten Stock der Kaserne heraushing.

Tsingtau war gefallen, Tsingtau war Deutsch, denn dass es je wieder deutsch werden würde, glaubte keiner von uns, die von den triumphierenden Japanern umgeben waren.
»Banzai, banzai!« hallte der japanische Hurraruf uns überall entgegen und unterbrach beinahe wohltuend die ungewohnte Stille, ungewohnt, weil die Ohren noch dröhnten von den platzenden Schrapnells, dem Donnern der Geschütze, dem Zischen und Tosen der explodierenden Granaten.
Ringsum auf den stolzen Batterien wehten die weißen Fahnen, daneben die japanischen mit der blutroten Sonne. Der Bismarckberg qualmte noch schwarz, und überall wimmelte es von Japanern, deren Flagge jetzt auf dem Signalberg wehte, der fast 17 Jahre die stolze deutsche Flagge getragen hatte.
Was sollte mit uns geschehen, das war für uns die wichtigste Frage, auf die auch die uns bewachenden Japaner keine Antwort geben konnten.

Merkwürdig war, dass mich ein Landsmann ansprach, dessen Vetter ich gut kannte, ein Herr Braendlein, von dem ich nicht wusste, dass er in Ostasien war. Er kam von Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) und war dort irgendwo als Kaufmann tätig. Er eilte seinerzeit nach Tsingtau und wurde als Gefreiter der Reserve der 6. Kompagnie zugeteilt. Später kam er in dasselbe Gefangenenlager wie ich; ich habe ihn aber aus den Augen verloren und weiß nichts über sein ferneres Schicksal.

Mehrere Stunden standen wir so herum in dem eisigen Wind, frierend und hungernd; wir hatten ja nichts bei uns, als was wir am Leibe trugen, und glaubten, zu unsern Unterständen zurückzukommen, wo wir Mäntel und Decken hatten liegen lassen, was aber nur wenigen von uns gelungen ist. Nachmittags um 2 Uhr endlich wurde uns bedeutet, dass wir auf den Iltisberg marschieren sollten, wo sich der Höchstkommandierende befände und wo über unser weiteres Schicksal entschieden würde.
Dort oben saß Granatschuss neben Granatschuss, war der Boden mit Eisensplittern übersät. Es wurde uns der Bescheid, dass jenseits des Drahthindernisses Essen bereitstünde, mit anderen Worten, dass wir so schnell wie möglich aus Tsingtau zu verschwinden hätten!

Am Infanteriewerk II ging es vorbei. In der Ferne waren unsere Unterstände zu sehen an den Stellungen, wo noch die Toten lagen und die Blutspuren zu erblicken waren, schließlich durchs Haupthindernis, wo die Japaner in der Nacht durchgebrochen waren.
Eine lange Reihe waren wir, da uns eine große Anzahl von Kriegsgefangenen angeschlossen wurde. Wie ein Zug von Auswanderern kamen wir daher, die wenigen Habseligkeiten unter dem Arm.
Noch einen Blick warfen wir auf die Hügel, hinter denen Tsingtau und die schöne Kiautschou-Bucht lagen, dann ging es über die Waldersee-Höhen hinab in die Hanko-Senke.
Mittlerweile war es dunkel geworden und das Gehen auf den ausgefahrenen Wegen recht beschwerlich.
Unterwegs hatten wir Gelegenheit, die Belagerungsarbeiten der Japaner zu sehen, die sich wie Maulwürfe schön auf weite Entfernungen herangegraben hatten. In bestimmten Zwischenräumen waren Verteidigungslinien angelegt, neue Wege zur Heranbringung der Munition und des Proviants waren gebaut, wozu sich die Japaner zweirädriger Karren bedienten, die unter Begleitung eines Mannes von einem Pferdchen gezogen wurden.
Hinter den Bergen standen, gut eingedeckt, die 28er Haubitzen, die uns manchen eisernen Gruß zugesandt hatten, dicht dahinter mit entgegengesetzter Front ragten die Rohre dreier Geschütze von uns empor, die am 28. September nicht mehr rechtzeitig zurückgebracht werden konnten. Weiter zurück, außer Reichweite unserer Geschütze, kamen wir an den Hauptverbandplätzen, den Munitions- und Proviantlagern vorbei. Überall wurden wir von herbeieilenden Japanern neugierig begafft und scheu von den wenigen Chinesen betrachtet, die noch oder wieder in ihren Dörfern wohnten.

Um 8 Uhr abends langten wir endlich in unserm vorläufigen Bestimmungsort an, in Taputung. (Siehe Anhang I.9)
Bitter kalt wehte der Wind, und zu essen hatten wir den ganzen Tag über nichts bekommen. Schließlich kriegte jeder noch ein Paketchen Hartbrot, und wir legten uns auf dem nackten Tennenboden schlafen. Er war ein wenig hart, aber todmüde, wie ich war, schlief ich leidlich gut, vor allem dank der Liebenswürdigkeit meines Zugleutnants Dr. Mohr, der von seinem Burschen mit Decken versorgt worden war und mir eine abtrat. (Wo war mein Putzer Glasmacher?) Seit drei Monaten hatten wir wieder das Gefühl, durchschlafen zu können, ohne alarmiert zu werden!

Der nächste Tag, der 8. November, war ein Sonntag. Es war ein trüber Tag; aber ein Schluck »aufgesparten« Cognaks wärmte die steifen Glieder, und japanisches Hartbrot befriedigte einigermaßen den Hunger.
Um 9 Uhr brachte ein Appell die 4. Kompagnie wieder fast vollzählig zusammen, jeder erhielt eine Dose Büchsenfleisch, das einem aber infolge des süßlichen Geschmacks bald widerstand.
Nachmittag bezogen wir »Bürgerquartiere«, d.h. wir wurden in den verlassenen, öden Chinesenhütten untergebracht. Mit Strohmatten wurden Fenster und Türen verhängt, für den Boden fand sich strohähnliches Zeug, so war der Raum einigermaßen eingerichtet. Mein Mantel hatte sich inzwischen wieder eingefunden, und Eckert überließ mir eine Decke, sodass ich beruhigt der Kälte der Nacht entgegensehen konnte. Nur an das Fleisch habe ich mich nie gewöhnen können, und das Hartbrot genügte nicht, um den Hunger zu stillen.

In Taputung verbrachten wir die nächsten drei Tage, die Zeit vom 9. bis 11. November: Wir standen herum, das Wetter wurde nicht besser, nachts war es kalt, am Tage trübe, aber wir lagen wenigstens in Häusern, während ein großer Teil im Freien kampieren musste.
Wie uns gesagt wurde, waren in Tsingtau nur noch der Stab, die Kranken und Verwundeten; alles Übrige lag in den Nestern Ta- und Hsiau-putung.
Mit der Verpflegung war es mittlerweile etwas besser geworden, da aus dem Verpflegungsamt in Tsingtau für Japaner nicht verwertbarer Proviant wie Butter, Kaffee, Ölsardinen angefahren wurde.

Die Japaner betrugen sich uns gegenüber sehr anständig, besonders die Bewachung wurde nicht sehr streng durchgeführt; daher gelang es einigen Reservisten unserer Kompagnie leicht, sich durch die japanischen Posten durchzuschmuggeln, da sie die chinesische Sprache beherrschten und durch Bestechung chinesische Kleider erhielten. Sie erreichten die jenseitige chinesische Bucht, d.h. neutrales Land, und waren nie mehr gesehen!10
Jeden Morgen um 9 Uhr fand ein militärischer Appell statt; als bei dieser Gelegenheit die Abwesenheit der Männer festgestellt und vom Feldwebel Schumann dem Kompagnieführer gemeldet wurde, hielt dieser eine große Rede, dass dies Fahnenflucht sei und dass die Ausreißer nach dem Kriege vor ein Kriegsgericht kämen! Dies war die engstirnige Ansicht eines Frontoffiziers, bei dem der Begriff der »Disziplin« über den des »Patriotismus« ging!
Was aber mit uns geschehen sollte, darüber wurden wir von den Japanern stets im Unsicheren gehalten. Erst am Abend des 11. November wurde uns mitgesteilt, dass wir am nächsten Tag nach Schatsykou abmarschieren würden, von wo aus wir nach Japan verschifft werden sollten. Also die letzte Nacht in Kiautschou?

Nach langem Hin und Her sind wir am 12. November 1914 von Taputung abmarschiert. Gerüchte besagten, dass in Schatsykou fünf Dampfer liegen sollten, um uns nach Japan zu bringen. Wohin, ob nach Nagasaki oder Moji – andere Häfen standen nicht zur Diskussion –, wusste niemand.
Vor dem Abmarsch brauten wir uns noch einen Kaffee und packten die restlichen Konserven ein; ein Tross von Kulis begleitete uns, der unsere Habseligkeiten schleppte.
Das Wetter war wunderbar. Die Sonne wollte uns noch einmal das Kiautschou-Gebiet in all seiner Pracht und seiner steinernen Schönheit zeigen: hinter uns die zahllosen Zacken der Prinz-Heinrich-Berge, zur Rechten den grünen Kegel des Kaiserstuhls, vor uns in seiner ganzen Majestät den Lauschan!

Der Bucht von Schantungtou, wo wir im August/September vier schöne, aber auch schwere Wochen verlebt hatten, konnten wir noch einen Blick zuwerfen, und dann gingen wir – umgekehrt natürlich! – den alten Rückzugsweg von Hsiaho, wo wir abends die Meldung erhalten hatten, die Japaner seien bei Litsun durchgebrochen. Unterwegs begegneten uns Proviantkolonnen, die nach Tsingtau hineinfuhren, oft 100 Wagen hintereinander mit Hartbrot, Fisch, Heu, Holzkohle, Holz und dergleichen.
Unser Mittagessen waren Birnen, die von Chinesen angeboten wurden, und von den Japanern ausgegebenes Hartbrot.
Der Weg wurde immer schlechter, und manche Karre mag dort im Schlamm steckengeblieben sein. Eine Feldbahn war angelegt, und auch an einer drahtlosen Station kamen wir vorüber.
Um 2 Uhr nachmittags erreichten wir Schatsykou an der Bucht, wo tatsächlich drei Transportschiffe lagen und es im Übrigen von Sampans und kleinen Booten wimmelte. Am Strande waren riesige Mengen von Proviant und Munition aufgestapelt, und noch immer wurden neue Leichter von Soldaten entladen.
Im Sande lagen wir deutsche Soldaten und stärkten uns für die Seereise an Ölsardinen und Hartbrot, da die Japaner an unsere Verpflegung nicht zu denken schienen. Wenn wir nicht den Tsingtauer Proviant gehabt hätten, wären wir verhungert!

Es ist müßig, darüber zu streiten, wieviele japanische Soldaten an der Eroberung von Tsingtau beteiligt waren. Die einen sprechen von 63000, der Generalstabsbericht nur von 50.000 Mann; feststeht, dass der japanischen Übermacht nur 3700 Deutsche gegenüberstanden und dass der Feind sich selbst gewundert hat, nicht mehr Verteidiger vorzufinden!
 

Anmerkungen

1. Ein Schiff schrägzulegen (etwa durch Fluten von Ballast-Tanks), um den Schusswinkel der Artillerie zu erhöhen, ist zwar theoretisch denkbar, jedoch wird dies nirgendwo sonst berichtet.

2. Die Verlusthöhe ist plausibel, kann aber nicht weiter aufgeschlüsselt werden.

3. Von mehreren Seiten wurde später kolportiert, die fehlende Kampfkraft der »Reservisten« hätte dem Feind den Durchbruch erleichtert; diese Diskussion soll hier aber hier nicht geführt werden.

4. Zum Aufenthalt der 6. Kompanie in Tschantschan siehe das Vers-Epos von Bähr.

5. Dieses Gerücht wird auch nur von dem Verfasser wiedergegeben; er hat es zweifellos nicht erfunden, jedoch gibt es sonst keinen Beleg. Unstreitig ist, dass in Friedenszeiten häufig über Soldatenmisshandlungen berichtet wurde, was des Öfteren von der Opposition im Reichstag – erfolglos – thematisiert wurde.

6. Gemeint ist das abgerüstete Kanonenboot Tiger; zu Jaguar siehe die Eintragung vom 6.11.

7. Der Unterschied zwischen Mannschafts- und Offiziersverpflegung war der erste Kritikpunkt in der berühmten Denkschrift von Kantorowicz (1916).

8. Gemeint ist wohl die Tatsache, dass die Reserveoffiziere und Reserveoffiziersanwärter über mehr Geldmittel verfügten (sich mehr »leisten« konnten) als die meisten »Aktiven«.

9. Hier nicht vorhanden.

10. Genaueres über Zahl und Funktion derer, die nach der Gefangennahme ins neutrale China entwichen, gibt es verständlicherweise nicht; zu diesen gehörte z.B. auch Wiesinger. Insgesamt könnten es wohl einige Dutzend Soldaten gewesen sein.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
Zuletzt geändert am .