Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


Augenzeugenberichte

StartseiteAugenzeugenberichte → Fischer (Erich)


»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 6: Im Tempel Chokuju-ji – zweites Kumamoto-Tagebuch [16.02. bis 09.06.1915]
 

Hinweise des Redakteurs
 
Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden sechsten Teil berichtet der Autor, mitunter sehr detailliert, über die restlichen knapp vier Monate in Kumamoto; zum Teil scheint es dort recht »idyllisch« gewesen zu sein.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
    1. Februar/März
    2. April
    3. Mai/Juni
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)

 

a) Februar/März

Heute, am 16. Februar 1915, bekamen wir einen neuen japanischen Unteroffizier, der von uns »Hugo« genannt wird. Erst wenn er sich bewährt hat, erhält er den Ehrennamen seines Vorgängers: »Piefke«. Der Ober[leutnant] fragte uns, was das bedeute, denn er habe das Wort im Lexikon gesucht, aber nicht gefunden! Schließlich gab er sich mit der Erklärung zufrieden, dass es eine allgemein übliche Bezeichnung für jemand sei, den man nicht näher kennt. Aber die Mannschaften dürfen diesen Ausdruck nicht gebrauchen, nur wir Unteroffiziere! Piefke nahm mit viel Händeschütteln von uns Abschied. Er war ein sehr anstelliger Bursche, der recht gut deutsch sprechen lernte und uns bei seinen abendlichen Revisionen viel Spaß machte. Er hatte nur vier Wochen das Kommando, da die Japaner offenbar keinen warm werden lassen wollen.
Das Wetter lässt sehr zu wünschen übrig: Es ist nasskalt, die Kirsch- und Mandelbäume bekommen Knospen!
Abends sprach mich der japanische Posten an, ob ich »austreten« ginge. Da er offenbar deutsch sprach, ließ ich mich in ein Gespräch mit ihm ein. Er war ein 28-jähriger Apotheker, der im zweiten Jahr diente und furchtbar über die Engländer schimpfte, die Deutschen dagegen bewunderte. Während ich mit ihm sprach, kam ein Kuli mit einem Kind auf dem Arm und einer kleinen niedlichen Japanerin. Der Soldat stellte sie mir als Frau und Kind vor, die Mann und Vater auf der Wache besuchten. Die erforderlichen Verbeugungen zwischen mir und der Dame wurden gewechslt. Als ich ihm sagte, dass seine Frau sehr schön sei, wehrte er ab: »Nein, serr schlecht!« Er meinte wohl »hässlich«!-Eine Schmeichelei wehrt ja jeder Japaner voll Bescheidenheit ab, innerlich aber ist er doch sehr stolz! Nach Empfang einer Orange, die der Soldat aus dem Tornister zog, trennte ich mich von ihnen.

Am 17. Februar 1915 erhielt jeder Aktive Yen 1,30 als Subvention der deutschen Regierung. – Sonst nichts Neues. Das Wetter wird nicht besser!

Am 19. Februar 1915. Von gestern gibt es auch nichts Neues! Wir haben jetzt eine Bibliothek von ca. 150 Büchern und Zeitschriften, die den Mannschaften große Zerstreuung bieten. Ich selbst habe zur Zeit soviele Zeitungen und Bücher zu lesen, dass ich nicht einmal zum Englisch-Lernen komme.
Vom Kriegsschauplatz in Ostpreußen haben wir gute Nachrichten: Wieder sind 26.000 Russen gefangen worden, und Ostpreussen ist frei vom Feinde! Das gibt uns wieder ein wenig Mut und lässt uns die Gefangenschaft leichter ertragen. Denn selbst die englischen Zeitungen hatten diese Tatsachen ohne Beschönigung zugegeben. Es musste sich also um ein Ereignis von weittragender Bedeutung handeln.

Die Ankündigung der [britischen] Admiralität vom 18. Februar betreffend die Kriegszone hat uns sehr gefreut.1 Wo bleibt da die vielgerühmte englische Suprematie zur See? In Amerika freilich hat diese Erklärung böses Blut gemacht, weil es an den Geldbeutel geht! Dort macht sich jetzt der Unterschied zwischen Deutsch- und Englisch-Amerikanern sehr bemerkbar. Die Deutschen haben sich wieder auf ihre Abstammung besonnen, was glücklicherweise der Krieg bewirkt hat, und das wurmt die Engländer sehr! Sie schreiben, der Deutschamerikaner, der nach seinem »fatherland« rufe, sei eben ein Anhänger des Kaiserismus, er sei ein schlechter Demokrat, ein schlechter Amerikaner, während der Anglo-Amerikaner nie nach seinem »motherland« schreie! Aus allem spricht nur der blasse Neid: Denn die Deutschamerikaner scheinen nun zur Vernunft gekommen zu sein, nachdem man anfangs mit einer gewissen Schadenfreude beobachtet hatte, dass auch sie zu England hinneigen, also den Krieg in der Heimat nicht billigen.
Sehr »dicke Luft« herrscht nun auch zwischen Japan und China! Jenes hat seine bekannten bezw. unbekannten 21 Forderungen gestellt, und in China werden Stimmen laut, die endlich diese Forderungen mit bewaffneter Hand beantwortet wissen wollen, obwohl der Ausgang eines solchen Krieges unzweifelhaft die Niederwerfung Chinas sei. Hinter den Leuten, die in China Krieg wollen, soll nach englischen Berichten Deutschland stehen, dessen neuer Gesandter in Peking, Herr von Hintze, ihnen sehr im Magen zu liegen scheint. Diese Behauptungen sollen aber nur dazu dienen, Japan gegen Deutschland aufzuhetzen, weil man einen Wechsel der japanischen Politik befürchtet. Die Gefangenen würden zu gut behandelt, und den englischen Handelsschiffen sei erst auf wiederholte Vorstellungen erlaubt, in Tsingtau einzufahren!
Meine persönliche Ansicht ist, dass Japan, das von Deutschland nichts zu fürchten hat, längst eingesehen hat, was für ein Freund England ist. Nachdem die Japaner mit Hilfe ihres Bundesgenossen, der Engländer, ihr Ziel erreicht haben, beginnen sie, diese allmählich abzuschieben, zumal das japanische Volk ihnen nicht grün ist!
Aber – timeo Danaos, ac dona ferentes!

Über all diesen Ereignissen ist die Frage der Einwanderung von Japanern in die Vereinigten Staaten von Amerika ganz in den Hintergrund getreten, eine Frage, die sich in den letzten Monaten beträchtlich zugespitzt hatte und die vielleicht einmal nur durch einen Krieg ihre Lösung finden wird.2 Solange allerdings Japan in China so stark engagiert ist, wird dieser Krieg nicht kommen.
Eine Folge des jetzigen Krieges wird zweifellos eine starke Vermehrung der amerikanischen Kriegsflotte sein,3 denn der Weltfrieden wird trotz des angeblichen Gescheiterwerdens der Völker und ihrer Diplomaten wohl immer nur mit den Waffen entschieden werden, nicht mit Worten!
Nach diesem kleinen politischen Exkurs wieder zurück zu unserm Tageslauf! Ich halte jetzt mit Eckert den »Japan Chronicle«, eine Zeitung, über die ich bereits früher einmal berichtet hatte. Zu meiner Freude kann ich feststellen, dass das Englisch-Lernen recht gut geht, während mir das Übersetzen ins Englisch ziemliche Schwierigkeiten macht.

Heute [19. Februar] war Gericke von der Feldbatterie bei uns zum Mittagessen: Es gab Rauchfleisch mit weißen Bohnen, dazu Médoc und danach Hokkaido-Käse. Wir leben also nicht schlecht! Jetzt haben wir sogar aus Yokohama Wurstwaren bekommen, unter anderem eine Leberwurst, wie sie zuhause nicht besser sein kann.
Am Nachmittag habe ich mit Eckert und Martin im Tempel IV gescherbelt, d.h. Karten gespielt. »Was tut man nicht alles, um sich Bewegung zu machen«, steht in meinem Tagebuch. Aber »Scherbeln" ist kein Kartenspiel, sondern eine Art »Boccia«!
Am Abend war ich bei der Oksan zum Baden! Früher nannten wir sie »Omma-san«, was sich unser Hausmütterchen aber verbeten hat. Warum, weiß ich nicht: Entweder war es kein ganz komment-mäßiger Ausdruck, oder er gehört sich nur für eine verheiratete Frau. Jedenfalls badet man bei der Oksan in einem Holzfass, unter dem mit Holz gefeuert wird, etwas appetitlicher als in dem allgemeinen Volksbad. Prüderie oder falsche Scham gibt es da nicht, die Oksan steht ruhig bei den Nackedeis – schließlich ist ein Mann gebaut wie der andere!

Am 20. Februar 1915 wird mein Brude Werner 21 Jahre alt! Wie mag es ihm wohl gehen? Ich erwarte so sehr Nachrichten von zuhause.
Nachmittags machten wir wieder mal einen Ausflug, und zwar einen anstrengenden, denn wir waren viereinhalb Stunden auf den Beinen, was nur dem »viel« vorkommen mag, der zu wenig Bewegung hat. Solche Parforce-Touren sind zwar nicht gut für die Füße, aber man freut sich doch, wenn man abends mit müden Knochen unter die Decke krabbeln kann.
Diesmal ging es zu den Seen von Kumamoto. Ein breiter Damm schützt die Stadt und die Reisfelder vor Überflutung, ein Damm, der sich in etwa einer Stunde Entfernung um den südöstlichen Teil der Stadt zieht. Auf diesem Damm gingen wir entlang. Der See selbst, der sich hinter ihm ausbreitete, wurde von den Schülern der Hochschule als Übungsgewässer für die Ruderei benutzt. Landschaftlich bot der See nicht viel; vielleicht sind wir in dieser Hinsicht von Deutschland zu sehr verwöhnt!

Am 21. Februar 1915. – Bei unserem gestrigen Ausflug kamen wir auch durch enge Gässchen der Stadt, denn der Ober führt uns gerne durch Kumamoto. Schmutzige Kanäle mit trübe fließendem und stinkendem Morast durchziehen die Gassen, kaum bedeckt von Steinplatten – eine Kanalisation gibt es nicht, und es ist kein Wunder, wenn allerhand Krankheiten ausbrechen. So lag z.B. das 13. Regiment in Quarantäne wegen Typhusgefahr, und ein Feldwebel in Nagoya soll an Typhus gestorben sein.
Unsere einzige Sorge ist, dass hier keine Krankheit ausbricht. Wo soviele Leute zusammenwohnen, die keine Desinfektionsmittel besitzen – warum haben wir sie eigentlich nicht kommen lassen?! – muss man auf solche Möglichkeiten gefasst sein. Wenn im Sommer die Reisfelder überschwemmt werden und die Moskitos über uns herfallen, müssen wir noch mehr auf Sauberkeit sehen als bisher. Zum Zähneputzen nehmen wir nur abgekochtes Wasser. Ich sehne mich nach einem Schluck klaren Brunnenwassers, und zuhause hat man keine Ahnung, was die tadellosen Wasserleitungen bedeuten.
ln der Stadt Tsingtau gab es eine solche Leitung, aber außerhalb war und hier ist keinem anzuraten, nicht-abgekochtes Wasser zu trinken. Ich habe es jedoch bei unserm Pfingstausflug am Peischaho erlebt, dass die Leute, vom Durst gequält, abgestandenes, zum Teil ganz grünes Wasser aus dem trockenen, mit Pfützen durchsetzten Flussbett tranken. Man kann das nur dann verstehen,wenn [man] selbst einmal richtigen Durst gehabt hat, und begreift die Truppen in den Tropen, wo die durstigen Leute allen Warnungen zum Trotz ungekochtes Wasser getrunken haben. Der eine verträgt es, viele gehen daran zugrunde!
Heute ist wieder einmal Sonntag. Man hat doch ein feiertägliches Gefühl, weil es auf den Straßen stiller als sonst ist, wenn auch die Läden geöffnet sind. Außerdem gibt es heute keine Zeitungen und morgen keine Briefpost. Das Büro hat sich jedenfalls der westländischen Einrichtung des Sonntags schnell angepasst! – Sonst nichts Neues!

Am 22. Februar 1915 mussten wir alle in den Tempel V. Wir dachten erst, es handle sich um die Sache, die der Ober mit den Österreichern hatte; er hatte nämlich zweien von ihnen eine runtergehauen, weil sie sich widerspenstig gezeigt hatten. Er hatte schließlich Recht, zumal die Mannschaften die Ohnmacht der Unteroffiziere oft in unverschämter Weise ausnützen.
Aber der Major kam und ließ uns durch Leutnant Scriba, den [Halb-] Japaner, ein Memorandum über die Behandlung von Japanern in Deutschland vorlesen.4 Es waren die Aussagen zweier Japaner, und die französische Botschaft hatte sie protokolliert. Danach wurden sie in Deutschland widerrechtlich festgehalten, im Gefängnis hätten sie schlechtes Essen bekommen, auf der Straße seien sie angespuckt worden etc.
Wir haben keinen Zweifel, dass alles so war, wie es uns geschildert wurde, aber wir empfanden die Behandlung außer dem Spucken in dem Augenblick verständlich, da »Schuft Nr.7« auftrat, wie eine Illustrierte die japanische Nation titulierte! Jedenfalls hatten wir eine Riesenwut, als man uns einen solchen Schmarrn vorlas!
Der Major schien eine ähnliche Empfindung zu haben, denn er ließ uns sagen, es täte ihm leid, dass er uns dies habe vorlesen müssen; wir sollten keine Angst haben, dass es uns etwa schlechter gehen werde. Dem Ober haben wir unsere Meinung gesagt, dass man nämlich in Deutschland keine Zeit gehabt habe, auf ein paar Japaner besonders Rücksicht zu nehmen!

Heute war so schönes Wetter, dass wir den ganzen Tag im Garten sitzen konnten; es scheint allmählich wärmer zu werden. So sehr man sich das warme Wetter herbeiwünscht, so sehr werden wir bald über die »verdammte Hitze« schimpfen. Wie man es auch hat, man ist niemals zufrieden, und gerade jetzt muss man etwas haben, worüber man schimpfen kann, sei es über einen Cigarettenstummel, der verbotenerweise am Boden liegt, oder [über] eine drastische Bemerkung, die einer über die Fronleichnamsprozession macht.

Ich sitze heute, am 27. Februar 1915, im entferntesten Winkel unseres Gärtchens, von ferne her klingt das monotone Geräusch der klopfenden Leute. Heute ist nämlich die polizeilich angeordnete Frühjahrsreinigung! Vorgestern mussten die Bewohner der Stadt reinigen, und ein Polizist überzeugte sich persönlich, ob auch überall die Matten, die tatamis, herausgenommen und der Winterdreck – wohin? – hinaus gefegt wurde. Na, so ist auch bei uns alles herausgenommen worden, was nicht niet- und nagelfest ist. Man möchte sich am liebsten in ein Mauseloch verkriechen und flüchtet, so gut man eben kann, denn der Staub umhüllte wie eine Wolke neulich die Straße zu unserer Kantine, jetzt den ganzen Tempel!

Neulich stand im »Japan Chronicle« eine Notiz, wonach wir Kriegsgefangenen strenger behandelt werden sollten. Man darf zwar auf solche Artikel nicht viel geben, weil sie meist der Regierung nur irgendeine Massnahme empfehlen sollen; aber unser Ober ist in der letzten Zeit recht unangenehm. Vielleicht ist es nur eine Art Reaktion, da seine Gutmütigkeit von einigen Leuten zu sehr missbraucht wurde.
Ferner war gestern in der Zeitung zu lesen, dass die Kriegsgefangenen ihren Berufen und Fähigkeiten entsprechend beschäftigt werden sollten, sogar die Löhne waren bereits angegeben! In Europa ist es selbstverständlich, dass die Kriegsgefangenen körperlich arbeiten, z.B. Straßen bauen, aber im Osten erniedrigt sich der Europäer nur selten zu körperlicher Arbeit, ausgenommen dringende Fälle wie z.B. bei der Belagerung von Tsingtau. Denn der Asiate verachtet im allgemeinen den körperlich arbeitenden Europäer als Kuli – er »verliert sein Gesicht«. Ich bin gespannt, wie die Japaner die vielen Kaufleute entsprechend beschäftigen wollen. Mag es kommen, wie es will: Es würde wieder eine kleine Abwechslung sein, und vielleicht lernt man etwas von den japanischen Verhältnissen kennen, die man später irgendwie verwerten kann!
Im Übrigen wollen die Japaner nur von uns lernen, denn es sollen nur die Berufe berücksichtigt werden, die unter dem jetzigen Kriege besonders zu leiden haben, wo also Rohstoffe oder gar Europäer fehlen.
Vorgestern erhielt jeder aktive und inaktive Unteroffizier Yen 1,50, jeder der Leute Yen 1,20, und zwar aus den von der deutschen Regierung bewilligten Mitteln. (Das neulich an die Aktiven verteilte Geld entstammte dem ostasiatischen Hilfsfond, nicht dem Geld der deutschen Regierung, wie ich irrtümlich annahm.)

Kumamoto, 28. Februar 1915. Hier ist ein merkwürdiges Wetter: Gestern schrieb ich im Garten bei einem lauen Frühlingswind, heute schreibe ich um 2 Uhr mittags bei Kerzenlicht; denn die Läden sind fest geschlossen, ein eiskalter Nordwind weht und treibt den Schnee gegen die Holzplanken. Das elektrische Licht kann erst um 5 Uhr eingeschaltet werden, weshalb man sich mit Kerzen behelfen muss.
Unsere Hibatchis hatten wir gestern aus dem Zimmer entfernt, wie wir hofften, für immer. Heute haben wir aus den gesparten Holzkohlen eine tüchtige Glut aufgetürmt. Aber der Nachteil dieses »Lagerfeuers« ist, dass man auf der einen Seite zwar brät, an der dem Feuer abgekehrten Seite aber friert!
Unsere gestrige Reinigung hat den Beifall der Japaner gefunden, der Ober hat erlaubt, dass in der nächsten Woche jeder Mann zwei Briefe und zwei Karten schreiben darf, aber nur wir vom Tempel I! In den anderen Tempeln scheinen sehr üble Zustände zu herrschen, da die Mannschaften die Machtlosigkeit ihrer Unteroffiziere in einer Weise ausnützen, dass man sich vor den Japanern schämen muss, zu denen die Klagen der Unteroffiziere dringen. Die Disziplin ist natürlich nicht wie im Frieden; aber dass die Leute sich weigerten, für die Unteroffiziere Essen mitzunehmen oder die Stube mitzureinigen, wie es die im Tempel II von unserer Kompagnie untergebrachten Mannschaften getan haben, war doch zu stark! »Wenn ihr uns bezahlt!«, lautete die Antwort.-Freilich sind die Unteroffiziere selbst an dieser Verlodderung mitschuld: Die von der Reserve zahlen ohnehin für die »Dienste«, und die von der Marine haben von jeher eine sehr laxe Auffassung von der Disziplin.
Warum geht es in unserm Tempel?! Weil Martin es meisterhaft versteht, jedwedes Aufmucken der Leute gleich zu unterbinden.

Gestern abend kam der »alte« Sato-san zu uns, drückte Martin mehrmals die Hand, machte die Gebärde des Reinigens und sagte nach einigem Besinnens »Danke schön!« Gleichzeitig stellte er für alle Leute, Unteroffiziere und Mannschaften, sein Bad zur Verfügung.
Ich bin zurzeit sehr nervös, kann mich über die geringste Kleinigkeit aufregen. Wie lange wird es noch dauern? Im Übrigen ist heute Günters Geburtstag – Gott sei Dank, dass wenigstens der Eine noch zuhause bei Muttern ist!
Heute abend habe ich mir wieder einmal den »Faust« vorgenommen, von dem ich schon den ersten Teil verschlungen habe! Außerdem lese ich in einem sehr lehrreichen Buch: »Deutsche Stilkunst« von Eduard Engel, um auch etwas für meine Bildung zu tun!
Weil ich von »Faust« geschrieben habe: Keine Aufführung ist mir so im Gedächtnis geblieben wie die des »Faust« im Münchener Künstler-Theater. Es war eine Reinhardt-Inszenierung, und zwar in der guten, noch nicht von übertriebener Reklamesucht beeinflussten Ausstattung. Ich könnte jetzt wieder ein wenig über Theateraufführungen schreiben, zumal ich genug Phantasie habe; denn »Phantasielosigkeit ist gleich Dummheit«, sagt Engel!!

Heute, am 1. März 1915, beginnt ein neuer Monat und zuhause die schönste Zeit, die wir haben: Die Natur fängt an zu erwachen, ein Frühlingsahnen geht durch die Luft. In diesem Jahr aber werden die ersten warmen Tage den Beginn neuer schwerer Kämpfe bringen, die vielleicht für Deutschlands Schicksal entscheidend sind.
Zwar ist viel Arbeit geleistet worden, aber noch mehr ist zu schaffen – so spricht man hier in der japanischen Gefangenschaft, faltet großschnäuzig die Hände über dem Bäuchlein und murrt ungeduldig, wenn nicht von der Heimat Schlag auf Schlag Siegesnachrichten eintreffen!

Sato-san hat mich neulich nach dem Bade zu einem kleinen Imbiss eingeladen: Es gab ganz ausgezeichnete Sachen, nämlich mit Grünzeug in Sojasoße gebratenes Walfischfleisch, als besondere Delikatesse Lotoswurzel, eingemachte Meeralgen, süße Bohnen und eine Art Reiskuchen. Manchmal musste ich mich freilich ein wenig zwingen, um die guten Sachen hinunterzuschlucken, aber bei einigem guten Willen geht es schon, und irgendetwas zurückzuweisen wäre unhöflich! Im Übrigen muss man schon der Wissenschaft halber alles versuchen.
Am schönsten ist die ganze Aufmachung: Man kniet um einen Hibatchi, und zwar einen kleinen, d.h. wir Europäer liegen, weil wir das Knien nicht so lange aushalten. Auf dem Hibatchi bruzzelt in einer Pfanne das Fleisch oder wird in einer Flasche der Reiswein gewärmt, und zwar in einer Flasche aus Porzellan, die in Wasser steht. Dann verteilt die Oksan in kleinen Schälchen das Essen, wozu es zwei saubere Holzstäbchen gibt, die ich schon ganz gut handhaben kann. Dazu gibt es ab und zu ein Schälchen Sake als Getränk, das von einem »Prost« oder »Prosto« des alten Sato-san begleitet wird.

Heute Nacht, am 2. März 1915, war ein tüchtiges Gewitter. Der Regen klatschte an unsere Holzläden, und der Donner rollte so stark, dass ich aufwachte; aber im Tsingtauer Lagerleben habe ich mir einen sehr leichten Schlaf angewöhnt.
Wir haben jetzt die offizielle Nachricht erhalten, dass Vizefeldwebel Walter gefallen und am Fuße des Schuangschan begraben sei. Es ist schade um ihn, denn er war ein prächtiger Kerl, und gerade ich bedauere seinen Tod, weil wir uns recht gut angefreundet hatten, und zwar war es in einer Nacht auf Feldwache am Meeresstrand, wie ich es schon geschildert habe. Er erzählte mir noch, dass er seine Erkennungsmarke verloren habe, was nichts schade, weil man doch bald wüsste, dass er gefallen sei, wenn er nicht mehr komme. Er hatte bis zuletzt seine Stellung verteidigt und noch versucht, einen verwundeten Kameraden zu verbinden! – Immer die Besten muss es treffen, sagt man.
In der »China Press« war zu lesen, dass Japan eine halbe Million Yen für eine Teilmobilisierung gegen China bewilligt habe. Japan wird also die günstige Gelegenheit ausnützen und China zur Anerkennung seiner Forderungen zwingen, wenn nötig mit Waffengewalt. Das wird der Anfang vom Ende eines großen Kampfes zwischen Chinesen und Japanern sein. Wenn dann dieser Krieg sein Ende gefunden haben wird, wird man in Europa mit Recht von einer »gelben Gefahr« sprechen können.

Am 3. März war wieder prachtvolles Wetter! Nachmittags machten wir einen Ausflug zu dem Park, den wir schon einmal besucht hatten. In meinem Tagebuch bin ich nicht auf den Namen gekommen: Es war der Suizen-ji-Park mit seinen vielen Fischen im kristallklaren Wasser, den wundersam zugestutzten Bäumen und dem Denkmal im Hintergrund.
Seit unserer letzten Anwesenheit hatte sich mancherlei verändert: Wir waren damals an einem Sonnenmorgen dort, diesmal war es ein Sonnennachmittag. Die Beleuchtung verändert das Bild und die Eindrücke sehr, und die Bäume waren kahler als damals. An den Fischfutterkörben hing ein Zettel mit der deutschen Aufschrift: «Preis 4 Stück 1 Sen!«. Das letzte Mal war nämlich das Brot von den unwissenden Leuten ohne Entschädigung verfüttert worden. Daneben hing ein kleiner Zettel, auf dem in schlechtem Deutsch gebeten wurde, doch die Fische zu füttern und sich selbst eine »Lieblichkeit« oder dergleichen zu erweisen.
Mit Erlaubnis des Obers durften wir in den am See gelegenen Teehäusern Tee trinken, wie wenn man am Wannsee in einem Bierrestaurant sitzt. Aber wieviel romantischer ist das Teetrinken in den winzigen Schälchen gegenüber dem Biertrinken in den meist geschmacklosen Seideln! Einige ließen sich in den Teekannen Sake präsentieren, weil nun mal der Deutsche vom Alkohol nicht lassen kann!5

Auch am 4. März 1915 hielt die Wärme an, sodass man sich den ganzen Tag im Garten aufgehalten hat und der Nachmittagsskat beinahe unter der brennenden Sonne litt.
Es war mir daher sehr recht, dass ich an diesem schönen Nachmittag einen Spaziergang machen durfte, um bei Neumann, Shanghai, dem deutschen Schlachter, bestellte »scharfe« Sachen abzuholen.
Als wir gerade beim Essen saßen, wurden wir ein wenig unsanft auf unsern Sitzen geschüttelt: Ein Erdstoß oder etwas Ähnliches bewegte unser Haus, und so haben wir in diesem gesegneten Lande auch ein kleines Erdbeben mitgemacht, woran Japan so reich ist.
Das Gleiche wiederholte sich übrigens um 12 Uhr nachts, als wir gerade im Bett lagen. So lange haben wir nämlich gepokert, sehr zur Freude unserer Konkubinen [?]! Es ist möglich, dass an dieser Ausdauer die Rollmöpse schuld waren, auf die wir ein paar Flaschen Bier setzen mussten. Auf jeden Fall war es ein sehr interessanter Poker, bei dem des Öfteren vier von einer Sorte herauskamen und ich mit einem kleinen Defizit abschloss.

Am 5. März 1915 wurde ich in aller Frühe von Stegemann geweckt! Im Tempel II war nämlich katholischer Gottesdienst eines französischen Missionars, und Stegemann hatte sich mit durchgeschmuggelt. So bekam er bei uns wenigstens ein anständiges Frühstück, denn der arme Teufel gönnt sich sonst nichts. Neuigkeiten hat er nicht gebracht.
Nachmittags war wieder ein Ausflug; ich blieb aber zuhause, da ich soviel zu lesen und daher keine Zeit zum Spaziergang hatte. Aus dem Lesen wurde jedoch nicht viel: Ein Skat und anschließendes Kaffeekochen beanspruchten die ganze Zeit der Ruhe!

Kumamoto, 10. März 1915. Gestern wollte ich wieder einmal mein Tagebuch zur Hand nehmen, verschob es aber aus Mangel an Stoff, da der Mensch eine Entschuldigung haben muss! Immer vom Wetter reden kann man auch nicht, wie man es bei stockenden Gesprächen zu tun pflegt, obwohl dies ein dankbarer Stoff wäre. Denn einen Tag kann man sitzend im Garten zubringen, dann friert man, dass man am liebsten die Öfen in Betrieb setzt – wenn nicht alle viel zu faul wären. So ein einen Quadratmeter großer, mit Blech beschlagener und feinem Sand gefüllter Hibatchi wiegt ja allerhand!

Heute kann ich allerlei Neues berichten: Mit dem heutigen Tage ist über unsern Tempel die Quarantäne verhängt worden und zwar – wegen Typhusgefahr. Was längst vorauszusehen war, ist eingetroffen: Gestern wurde ein seit zwei Wochen fieberkranker Mann ins Lazarett geschafft, und zwar erst auf wiederholte Vorstellungen unseres Tempelältsten hin. Heute morgen in aller Frühe erschien der Militärarzt und ordnete die Überführung von zwei weiteren Leuten, die ebenfalls seit zwei Wochen mit Fieber darniederlagen, ins Lazarett an. Der eine war neulich abends zusammengebrochen, worauf wir sofort den Arzt holten; er gab nur ein paar Pülverchen und glaubte, damit seiner Kunst Genüge getan zu haben. Heute scheint unsre Leitung doch in Druck gekommen zu sein; denn der Ober und der Major erschienen, um nach dem Rechten zu sehen. Der ganze Tempel wurde ausgeräumt, das Geschirr mit Sublimat ausgewaschen, alles desinfiziert, die Temperaturen der ganzen Tempelbesatzung gemessen und – der Tempel vorläufig auf acht Tage gesperrt.
Die Ursache ist in den ganz miserablen Wasserverhältnissen zu suchen: Nur zwei Ziehbrunnen stehen uns zur Verfügung, von denen der eine wegen des Gestankes des Wassers geschlossen werden musste. Nun stinkt der überlastete zweite Brunnen auch schon, sodass wir nur abgekochtes Wasser benützen. Da wir aber zum Waschen das Wasser nicht auch noch abkochen können, holen wir es vorläufig beim Priester!-Wie mag das erst im Sommer werden! Wir hoffen nur, dass sich die Krankheit nicht weiter ausbreitet. Einige »eingebildete« Kranke haben wir schon – man nennt das wohl »Suggestion«! – und ein komisches Gefühl im Magen hat ein jeder!

Nun zu etwas Erfreulicherem: Es gab pro Mann 20 Cigarren, recht anständige »Londres«, die der Flottenverein in Manila gestiftet hatte. Sie sind jedenfalls viel besser als die mit Recht so beliebten und berühmten Vorposten-Cigarren zuhause! Hier raucht alles tüchtig, um sich auch innerlich zu desinfizieren. Einige Flaschen Cognak wären besser trotz des Abstinenzlers Harringa, dessen Buch ich mit viel Vergnügen und Interesse gelesen habe. – Aber bekehrt hat es mich leider nicht, es liegt halt so im Blut!
Blickle hat mir Lloyds geschickt und Frankfurter Zeitung bis 19. Januar, worüber ich mich sehr gefreut habe.
Heute abend haben wir Glühwein getrunken – als Medizin! Wir tun es aber ganz gerne. – Weiter gibt es nichts Neues; aber ich denke, es war genug für heute!

Kumamoto, den 12. März 1915. – Wir liegen wieder einmal auf den Strohmatten herum, zu Füßen des wärmenden Hibatchis, denn draußen gießt es in Strömen, und es ist recht kalt geworden.
Gestern haben wir uns als Gegengift gegen den Typhus Whisky besorgt, aber es war alles andere, nur kein Whisky, wie es mit allem ist, was die Japaner selbst fabrizieren. In unverschämter Weise ahmen sie nämlich europäische Etiketten nach mit unglaublichen Fehlern darauf. Dieses Zeug verkaufen sie allerdings wesentlich billiger, als was die europäische Ware kostet.
Wir haben den japanischen Whisky einigermaßen trinkbar gemacht, indem wir uns eine Art Grog davon brauten, saßen bis 9 Uhr abends im Garten und tranken, um die Bazillen zu töten. Dabei wurden die politischen Probleme äußerst lebhaft erörtert. Aber betrunken war ich nicht, was schon daraus hervorgeht, dass ich bis nach halb 11 Uhr einen ganz vernünftigen Skat spielte.

Heute kam der vierte typhusverdächtige Mann ins Lazarett. An dem fast allgemeinen Unwohlsein ist zweifellos auch der Temperaturwechsel schuld, denn mal brät man in der Sonne, mal friert man wie ein Schneider. Schon zuhause sind die Übergangszeiten für Krankheiten besonders gefährlich, umso mehr hier, wo die Temperaturunterschiede viel größer sind. Dazu kommt die Bauart der Häuser, die auf Kälte garnicht eingerichtet sind. Man muss sich schon in seine fadenscheinigen sechs Decken einwickeln, um schlafen zu können – vor 14 Tagen waren sie uns zu warm!

Heute, am 15. März 1915, ist Mutters und mein Geburtstag! Daran gedacht hat natürlich niemand, zumal ich Eckert gegenüber meinen Geburtstag auf den 18. verlegt hatte, um einer Runde aus dem Weg zu gehen. Heute habe ich ihm das historische Faktum unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, und wir haben bei einem guten Essen gefeiert. Ich mag es auch garnicht leiden, wenn jeder kommt und einem die Hand schüttelt. Schließlich tut es einer doch nur aus Pflichtgefühl oder in der Hoffnung auf eine Einladung.
Meine Gedanken waren heute besonders oft zuhause, wo man sicher auch meiner oft gedacht hat.

Abends kam eine Kiste mit Gemüsekonserven, Gewürzen, Kaffee, Suppenwürfeln etc. an, sodass es uns in der nächsten Zeit an nichts mangeln wird. Denn den »Japanfraß« essen wir kaum, seit wir einmal die Zubereitung in der Küche gesehen haben. Seit einer Woche ist bei uns die Küche fertig, die von unseren Leuten geführt werden soll; aber sie wird wohl kaum in Betrieb genommen werden.
Die Oksan besorgt uns Erbsen, Spinat, gelbe Rüben, was man aber nicht immer essen kann. Wir leben so etwas teuer, aber es ist immer noch besser, als man holt sich eine Krankheit.
Jeden Tag wird unsere Temperatur gemessen, da durchgesetzt ist, dass jeder Fieberkranke sofort ins Lazarett kommt. Ich habe täglich 36,2°!

Am 14. März 1915, einem Sonntag, führten wir ein neues Kartenspiel ein, den »Doppelkopf«. Ich erinnere mich schöner Erlanger Zeiten 1912/13, wo wir in der »Pfarrerstochter« dieses Spiel mit viel Lust und Liebe pflegten; der dicke Rauschkolb – Moenaniae –, der Pfälzer Lehmann – Frankoniae – und schließlich mein lieber Corpsbruder Stockmeier. Eigentlich verging kein Abend – meist wurde es Mitternacht, da wir vom Studieren kamen! –, an dem wir nicht Doppelkopf spielten, und manches Kreuzlein hatte ich in unserm dicken Buch zu verzeichnen. Damals habe ich allerdings nicht gedacht, dass mir dieses Spiel einmal die Zeit der Gefangenschaft in Japan verkürzrn würde.

Es wird wieder kalt, und ab und zu macht sich ein Schneesturm auf. Heute, am 20. März 1915, sind fast acht Tage vergangen, seit ich dieses Buch zur Hand genommen habe, und am liebsten würde ich es noch länger liegen lassen, wenn es nicht einiges gäbe, was zu vermerken ist. Denn je länger man wartet, desto schneller vergisst man die unklarer gewordenen Eindrücke. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, erst dann wieder Tagebuch zu führen, wenn ich Post von zuhause hätte; ich warte nämlich von Tag zu Tag darauf und bin schon ganz nervös, umso nervöser, als schon fast alle Kameraden Antwort auf ihre in Japan geschriebenen Briefe in Händen haben. Einer hat sogar in einem Feldpostpaket Kuchen aus der Heimat erhalten! Anscheinend geht die Post über Sibirien, wenigstens ist dies aus der kurzen Beförderungszeit zu schließen. Neben dieser Nervosität trägt ein ziemlich heftiger Schnupfen nicht gerade dazu bei, die Stimmung zu verbessern; ich könnte manchmal alles in Trümmer hauen!

Vorgestern kam der vierte Mann ins Lazarett! Die Brunnen sind geleert und desinfiziert worden, wobei ein schöner Dreck zum Vorschein kam.-Zwischen Japan und China scheint es doch noch zum Krachen zu kommen: Wir hätten eine große Freude daran!
Heute wurde die neue Küche, der Vorhersage zum Trotz, in Betrieb genommen. Das Eröffnungsessen – Zusammengekochtes – schmeckte ganz gut! Ich möchte wissen, wieviel der japanische Koch »gesqueezed« hat!
Das Wetter ist immer noch sehr unbeständig, Föhn wechselt mit kaltem Nordwind – für Erkältungen das richtige Wetter!

Am 21. März 1915 hatte ich eine große Freude – Post von zuhause! Es scheint allen gut zu gehen, wenigstens ist nichts Gegenteiliges erwähnt. Der Brief ist mit dem 14. Februar datiert, also über Sibirien recht schnell befördert worden. Meine Eltern hatten schon am 20. Dezember 1914 ein Telegramm erhalten, wonach ich gesund in Japan sei; ich weiß allerdings nicht, woher dieses Telegramm stammt. Auf jeden Fall bin ich jetzt eine sehr große Sorge los, und meine Laune ist bedeutend besser.
Es ist Sonntag – Frühlingsanfang! Das Wetter ist so schön, dass man den ganzen Tag im Freien zubringen kann – ein wahrer Segen!

Heute, am 22. März 1915, ist japanischer Feiertag – Frühlings-Totenfest oder so etwas Ähnliches! Für die Priester aber scheint der Weizen zu blühen, wie ich aus der Menge der Frauen schließe, die die Gräber mit frischen Blumen schmücken. Dabei fällt natürlich auch für den Priester etwas ab.
Wohl in weiser Voraussicht dessen hat sich Sato-san gestern sternhagelvoll besoffen – etwas voll ist er ja jeden Abend, aber gestern konnte er nicht mehr auf den Beinen stehen. Die Oksan hat beizeiten das Feld geräumt und sich auch heute den ganzen Tag nicht sehen lassen; sie fürchtete wohl Prügel von Sato-san, der im Suff eine echte Raubtiernatur zeigt!
Heute erging die Aufforderung, sich zur Arbeit zu melden an alle Brauer, Elektroingenieure, Apotheker, Leute, die in chemischen oder Farbenfabriken beschäftigt waren oder die Sprungfedern fabrizieren können. Aus der Wahl der Berufe, die zur Arbeit herangezogen werden sollen, geht schon hervor, dass die Japaner lernen wollen. Der eine oder andere wird sich wohl übertölpeln lassen, obwohl man den Japanern nichts zeigen sollte.

Abends brachte der »Chronicle» die Nachricht, dass vor den Dardanellen zwei englische Schiffe, Irrestible und Ocean, und ein französisches Schiff, Courbet, gesunken seien! Hurra! Also das ganze Gerede fällt zusammen, das Reuter über die Zerschießung der Dardanellenforts in die Welt gesetzt hatte! Ich gestehe offen, dass ich mich im Geheimen gefragt habe, ob es doch möglich sei, dass die Verbündeten durch die Dardanellen kommen, da türkische Misswirtschaft die Forts hatte verkommen lassen!? Aber dann musste ich mir wieder sagen, dass Deutsche an der Spitze der türkischen Armee standen und dass Deutschland die Türkei nicht zum Kriege veranlasst hätte, wenn mit den Dardanellen etwas faul gewesen wäre.
Nun ist also auch diese Sorge beseitigt, und die Verbündeten werden die Nase voll haben. Wenn Reuter schon den Untergang von drei Schiffen glatt zugibt, werden noch mehr beschädigt sein; aber das kommt immer erst allmählich heraus!
Wir waren gerade beim Kartoffelschälen, als die Nachricht kam. Zufällig war eine Flasche Whisky auch da, die unser Priesterlehrling Nogami gestern Abend besorgt hatte. Sie kostete zwar Yen 3,50, aber sie genügte, um uns sechs Männer mit Hilfe von ein paar Flaschen Bier blau zu machen. Nachts um 11 Uhr aßen wir noch Schmalzbröter und rauchten gute Cigarren. Dabei waren wir sehr heftig und sehr guter Dinge zum Leidwesen der Männer, die bereits in Morpheus Armen gelegen hatten! Auf dass bald wieder drei feindliche Schiffe zum Teufel gingen und bald wieder eine Pulle Whisky käme! Brummschädel – maski!

Am 23. März 1915 bekam ich von Siemens-Schuckert, Tokyo, einen Brief, wonach mir Mark 400.– von Hause überwiesen seien. Dies war eine indirekte Bestätigung meines Dezemberbriefes, in dem ich um Geld gebeten hatte.
Ich brauche es ja nun nicht mehr, aber ich freue mich, dass man auch in dieser Hinsicht zuhause an mich gedacht hat, und hoffe, bald einen Brief von Vater zu erhalten.
Wir haben nun zwei Geigen, und mit Eifer stürzten sich einige Unteroffiziere auf das edle Violinspiel. Da uns andern die Überei zu dumm wurde, mussten die Herren in die äußerste Ecke flüchten.
Weil wir aber gestern bis halb 12 Uhr auf und dabei nicht sehr leise waren, wird als Repressalie wieder in unserer Unteroffiziersstube geübt. Dies veranlasste unsern Meck, dazu den nötigen Paukenschlag zu intonieren, indem er auf einem Blecheimer herumtrommelte. Die Folge war ein großer Krach, aber Spaß muss sein, sonst wird man blödsinnig!

Es gab wieder Geld, am 24. März 1915, Yen 1,50 für jeden Unteroffizier und Yen l,– für den Mann.
Nachdem die Küche in deutsche Hände übergegangen ist, spart man etwas. Es gibt recht ordentliches Essen, aber zu wenig, so wenig, dass die Leute zu uns kommen, um Brot zu holen. Nur dann reicht es aus, wenn es »Zusammengekochtes« gibt. Aber täglich kann man das durch Wasser verlängerte Essen nicht haben, drum sind wir recht froh, dass wir unsere Meinicke-etc.-Konserven haben.
Ich habe mir aus Kistenbrettern einen Tisch bauen lassen und sitze im Grünen; zu meinen Füßen sprießen Veilchen – recht idyllisch!

Wieder kam am 25. März 1915 Heimatpost: Fünf Karten vom 18. 2. von E. H. und eine Karte vom 16. 2. von dem »Gefr. Werner« aus Thiaucourt in Französisch-Lothringen. Meinem Bruder Werner scheint es gut zu gehen; wenigstens hat er das Schwein, seit Oktober an demselben Ort zu sein. Wie schlecht muss es den Leuten in Polen gehen, wo es fortwährend vor und zurück heißt!
Nun warte ich noch auf Nachricht von Vater und Mutter – dann kann ich mich wirklich nicht mehr beklagen.

Am nächsten Tag, am 26. März 1915, war es fast zu viel: ein weiterer Brief von E. H. und eine Karte von Tante Ludmilla. Nachdem jetzt die Verbindung mit der Heimat aufgenommen ist, hoffe ich, regelmäßige Nachrichten von zuhause zu erhalten. Man kann den Russen die Anerkennung nicht versagen, dass sie trotz der schwierigen Transportverhältnisse den Postverkehr über Sibirien aufrechterhalten. Schließlich sind 30 Tage für einen Brief von Deutschland nach Japan nicht lange!
Das Wetter ist zwar nicht schön, aber doch so, dass man im »Zaubergarten«, wie wir den Winkel genannt haben, sitzen kann. Ich hätte nicht gedacht, dass es hier im März noch so kühl ist!

Heute, am 27. März 1915, erhielt ich einen Brief von Mutter und Großmutter. Danach ist Vater auf einer Industriereise nach Brüssel–Ostende; er wird also wahrscheinlich die chemischen Fabriken Belgiens durchstöbern!
Mutter will mir alle 14 Tage ein Paket mit »haltbaren« Sachen schicken, woran wohl die Russen ihre Freude haben werden. Ich brauche hier zwar nichts, zumal ich Geld genug habe, aber freuen würde ich mich doch, wenn ein Paket durchkäme.
Die Hauptsache ist, dass es zuhause allen gut geht!

Wieder einmal ist Sonntag, 28. März 1915, langweilig, nicht zum Aushalten – wie soll das werden? Man kann nicht dauernd lesen und arbeiten und muss das Gelesene irgendwie verdauen können! (Später habe ich mir Auszüge aus den gelesenen Büchern gemacht!)
Die Tage werden immer länger, und die Qual immer größer. Der Nachmittag will überhaupt kein Ende nehmen, und die dümmsten, sinnlosesten Gedanken kommen in einem hoch. Dazu laufen ungünstige Berichte aus der Heimat ein. Es ist zum – Verrücktwerden!
Gott strafe England – und das kräftig!

Heute, am 29. März 1915, beginnt die Osterwoche, von der man hier wenig merkt, nur die Pakete aus Ostasien enthalten manchmal ein paar Ostereier!
In der Frühe hat es geregnet, und nachmittags war schönster Sonnenschein, die beste Gelegenheit, im Zaubergarten Briefe zu schreiben. Blickle/Schanghai schickte wieder »Frankfurter« und Illustrierte, auch die hier verbotene »Zeitung für China«! Przemysl ist gefallen, wodurch, und das ist das Betrüblichste, wieder russische Truppen freiwerden.
Den »Chronicle« haben wir abgeschafft, da er oft so unverschämt lügt, dass wir ihn in Fetzen gerissen haben. Dafür halte ich die in Shanghai erscheinende »China Press«, die von einem Amerikaner in sehr neutraler, beinahe deutschfreundlicher Weise herausgegeben wird.

Die Quarantäne ist heute, am 30. März 1915, aufgehoben worden. Den Leuten im Lazarett scheint es besser zu gehen, und neue Fälle sind nicht vorgekommen. Die Untersuchung unserer Exkremente hat anscheinend auch keinen Typhusbazillus mehr zu Tage gefordert.
Wir dürfen jetzt wieder frei aus- und einspazieren, d.h. immer nur zwei Unteroffiziere zur Kantine und zurück.

Blickle schrieb mir heute, am 31. März 1915, dass ein Osterpaket für mich unterwegs sei, und so werde ich doch ein wenig an dieses Fest der Freude erinnert.
Ich habe an seine Adresse einen Brief für Mutter abgeschickt, da ich annehme, dass er so sicherer befördert wird; wenigstens habe ich die Gewissheit, dass er aus dem Büro des Zensors heraus ist, was schon viel wert ist.
Im Übrigen scheinen es aber wir Kriegsgefangenen mit der Post besser zu haben, denn Blickle meint, dass man mit einer Beförderungsdauer von 8 bis 9 Wochen rechnen müsse, während unsere Post nur 4 bis 5 Wochen unterwegs ist.
 

b) April

Heute, am 1. April 1915, ist wundervolles Wetter; kein Wölkchen ist am Himmel, und wie schön ist es, dass man im Zaubergarten sitzen kann! In der Luft liegt ein leiser Duft von Blüten, die ersten Insekten brummen mir um die Ohren, Vögel regen sich. Kurz, es ist richtiger Frühling!
Ich aber sitze hier gefangen und habe gar keine Hoffnung loszukommen!
Nebenbei – heute ist Gründonnerstag, und statt wie zuhause Spinat mit Spiegeleiern gibt es hier Gurkensalat mit Wurst aus Yokohama!

Am 2. April 1915 kam eine kleine Karfreitagsüberraschung: ein Feldpostbrief von A. H. mit 25 Cigarren, abgeschickt am 1. März. Die Cigarren waren zwar in einem üblen Zustand, und nur acht Stück waren einigermaßen rauchbar, aber das tat der Freude keinen Abbruch, und die Cigarren haben besser geschmeckt als die feinste Uppmann!

Heute, am 3. April 1915, bekam ich einen unverschämten Haufen Post von Vater, Mutter, Bruder Werner, von A. und zwei von M. – kann ich mehr verlangen? Ich komme mir ordentlich reich vor, weil es zuhause so viel liebe Leute gibt, die an mich denken. Ich frage mich unwillkürlich, ob ich das überhaupt verdient habe. – Von E. habe ich allerdings sehr einen Brief vermisst; aber in allen Briefen steht soviel Liebes und Schönes über E., dass ich ganz entschädigt bin. – Viele Bekannte sind gefallen, aber denen, die mir besonders nahestehen, geht es immer noch gut – und das ist bei allem die Hauptsache.

Der 4. April 1915 war Ostersonntag! Eine Osterüberraschung! Von Herrn Blickle kam das angekündigte Osterpaket an: eine Torte, Kuchen und Schokolade. Außerdem gab es zum Paketholen auf dem Büro einen Spaziergang an dem schönen Ostermorgen durch die frühlingsbewegte Stadt! Nachmittags kam noch ein Brief von E.
Abends saßen wir draußen an unsern Tischen bei Lampion-Beleuchtung – ein malerisches Bild! Unser »Giftmischer«, der Apotheker Harasim aus Schanghai, braute uns um 10 [Uhr] nachts noch ein neues Getränk. Ich nannte es Amylacetat, weil es mich an heimische Gerüche erinnerte; es war aber gebrannter Reisschnaps, schmeckte nicht gut und wurde doch getrunken. Ein paar Flaschen Bier und 8 (acht) tins Ölsardinen setzten wir darauf – die nötige Bettschwere war da!

Seit langer Zeit wurden wir heute, am 5. April 1915, wieder einmal ausgeführt, und zwar auf die Kumamotoer Berge in zweistündigem, schönen Spaziergang. Die Sonne brannte tüchtig, sodass mir der neue Khaki-Anzug recht gut tat; dabei wehte ein leichter Frühlingswind angenehm um die Stirne – kurz, es war herrlich.
Die Äpfel und andere Arten von Bäumen blühten, es war ein wunderschönes Bild: der Gegensatz zwischen dem Weiß der Blüten und dem Grün der Cypressen! Wir waren wieder einmal in »Freiheit« und sahen etwas anderes als die Palmen, Camelien und Bäumchen unseres Gärtchens.
Abends um 6 Uhr – wir saßen gerade beim Briefeschrieben – erfolgte ein so heftiger Erdstoß, dass z.B. das Wasser in unserm Fischteich fast überlief und die elektrischen Drähte zusammenschlugen. Begleitet war der Erdstoß von einem donnerartigen Getöse; aber das scheint auf den vulkanischen Inseln etwas Gewohntes zu sein.

Am 6. April 1915 wurden jedem Unteroffizier Yen 4,30 und jedem Mann Yen 3,50 ausbezahlt, aus welchen Fonds, das wissen die Götter!
Das Wetter ist herrlich, ich kann den ganzen Tag und Abend im Freien sitzen, was viel wert ist, weil ich die Enge des Zusammenlebens nicht so sehr empfinde.
Dass Meck, der mit Konserven um sich warf, in den Fischteich flog, hat den Fischen nicht geschadet, aber seinen Tigerpantoffeln, auf die er sehr stolz war.

Der 7. April 1915 war ein sehr unruhiger Tag!
Frühmorgens ging es los: Als die Mannschaften Tee holten, dauerte es etwas lange, da der Tee noch nicht fertig war. Die Teeholer sagten, sie brauchten keinen Tee, und einer machte eine schnoddrige Bemerkung. Er wurde dem Ober gemeldet und bestraft. (Zu diesem Mittel greifen wir nur im äußersten Notfall, weil schließlich dadurch das deutsche Ansehen geschädigt wird; aber in diesem Falle blieb nichts anderes übrig, da wir Unteroffiziere keine Befehlsgewalt mehr haben.) Statt des Tees kauften sich die Leute Bier – Geld hatten sie ja vom Vortag – und fingen an zu feiern. Nachmittags waren einige – nur einige – richtig blau und machten einen Besuch bei den anderen Tempeln. Dort wurden sie gründlich verhauen, und einer von unsern Leuten, der einen japanischen Schutzmann angriff, wurde gleich verhaftet; auch bei uns wurde ein Unteroffizier angegriffen.
Als am Abend die Leute von den anderen Tempeln Tee holten, gab es es nochmals eine Schlägerei, bei der aber zu unserer Freude die Unserigen den Kürzeren zogen; denn die anderen schlugen mit Teekannen um sich und dabei floss Blut! – Lieb' Vaterland, magst ruhig sein! – Wir hatten uns absichtlich ferngehalten und keinen Finger gerührt, um die Leute in Zucht zu halten; die Japaner sollten nämlich einsehen, dass sie nur mit der Unterstützung der Unteroffiziere auskommen. Wir freuen uns im Gegenteil über die Entwicklung der Dinge, nachdem bereits vor einigen Tagen im Tempel IV Krach war. Hier haben die Leute einiges erreicht, indem sie jetzt nicht mehr für die Unteroffiziere putzen etc. Bei uns werden sie nichts erreichen, weil die Alten unter ihnen sehr anständig sind und die Reservisten umsonst unter den Leuten hetzen.

Heute, am 8. April 1915, ist natürlich der Katzenjammer da! Vorerst ist für die Mannschaften die Kantine gesperrt, und die Bestrafung der Schuldigen soll noch erfolgen.
Nun – drei Tage strengen Arrests für den für, der den Schutzmann verhauen hat, die übrigen sind straffrei. – Das ist japanische Justiz!

Mit einem gewissen Grauen gehe ich vier Tage später an dieses Buch, am 12. April 1915, weil ich mit mir selbst so unzufrieden bin wie noch nie. Dazu tragen wohl Zerwürfnisse mit Kameraden, ein Brief aus der Heimat und – die Frühlingsluft bei. Eine schwüle Treibhausluft herrschte hier vor 5 Tagen, dass man nachts nicht schlafen konnte. Nachts um 1 Uhr fingen wir noch einmal an, Käsebrote zu essen! Am nächsten Tag war man dann schlapp, als hätte man wunders was geleistet. Dann war ein 24-stündiges Gewitter mit fast andauerndem Regen, und heute ist es einigermaßen abgekühlt.
Wie mag es erst im Sommer werden, wenn noch die Moskitos dazukommen? Schon jetzt hört man ab und zu solch ein Tierlein am Ohr vorbeisurren. Aber die eigentliche Landplage wird wohl bald über uns hereinbrechen!
So fragt man sich täglich, wie lange dieser Zustand noch dauern wird; ich glaube, man kann in der Gefangenschaft blödsinnig werden! Zuhause glaubt man natürlich, dass es uns besonders gut geht; aber wir können nicht schreiben, dass die Kost mangelhaft ist, da die Japaner zu wenig liefern, oder dass wir keine oder zu wenig Bewegung haben; denn die Japaner würden solche Briefe einfach konfiszieren!

Kumamoto, am 15. April 1915. – Nachdem wir einige Tage im Garten gesessen hatten, regnet es heute wieder einmal, sodass wir in der engen Stube sitzen müssen. Im Übrigen ist jetzt die schönste Zeit: Die Bäume fangen an, zu sprießen, und die dunklen, immergrünen Sträucher bekommen Blüten in allen Farben. Kurz – es ist ein reizvolles Bild. Noch sind wir von allem Ungeziefer verschont, wenn auch des Nachts einem gelegentlich ein Moskito um den Kopf fliegt; aber solange die Tierchen nur vereinzelt kommen, ist es nicht so schlimm, und für später ist das Moskitonetz schon da!
In unserm Gärtchen treibt sich eine Unmenge von Laubfröschen herum, und es ist ganz ulkig, so ein kleines Tierchen auf einmal neben sich zu sehen. Jetzt können die Tierlein noch nicht sprechen, aber wenn die Biester erst anfangen zu quaken, dann wird die Sache ungemütlich. Bis jetzt belästigen uns nur die Geigenspieler, die gestern z.B. von früh 10 Uhr bis abends um 6 Uhr ununterbrochen übten. Es ist entsetzlich, und man könnte verrückt dabei werden. Wenn es so weitergeht, muss ich wohl nach Beendigung der Gefangenschaft in eine Kaltwasser-Heilanstalt!
Gestern gab es für jeden III. Seebattailloner 25 Sen als Ergebnis der Konzerte unserer Kapelle in Tientsin.6

Heute, am 19. April 1915, regnet es den vierten Tag; es regnet – nach deutschen Begriffen löst ein Wolkenbruch den andern ab! Unser Gärtchen bildet mit dem Fischteich einen See, und es sollte mich nicht wundern, die Fische im Garten herumschwimmen zu sehen. Wenn es jetzt schon so sehr regnet, wie soll es erst in der Regenzeit werden!-Die Mehrzahl der Bäume behält während des Winters die grünen Blätter, verliert sie erst jetzt; aber sie sind schon durch neue ersetzt, und so fehlt einem das eigentliche »Frühlingsgefühl«!

Vorgestern wurde ein Reservist [Schilling] beigesetzt, der im Lazarett an Magenkrebs gestorben war. Er war aus Hankau, und von jedem Tempel durften nur ein Unteroffizier und neun Mann teilnehmen. Ich hätte der Beisetzung gerne beigewohnt, die im übrigen recht feierlich gewesen sein soll: Ein japanischer Mädchenchor sang, ein Japaner hielt eine französische Trauerrede, und dann wurde die Urne auf dem Militärfriedhof beigesetzt.
Am selben Tage erhielt ich vier Briefe aus der Heimat: von Vater, von A. H., von Onkel Jakob, wonach es der Firma Michelski und Co. recht befriedigend gehen soll, und [von] L. v. B. mit der Ankündigung eines Pakets.

Nach den neuesten Berichten in den japanischen Zeitungen haben die Russen in den Karpathen eine Riesenschlappe erlitten; dreieinhalb Millionen sollen auf beiden Seiten beteiligt gewesen sein. Die Japaner freuen sich, dass es den Russen dreckig geht. Unser »Gunzo« machte gestern abend in einer Sake-Laune den Vorschlag, Russland aufzuteilen: halb Deutschland und halb Japan!
Wie man sieht, ist die Volksstimmung sehr auf Seiten Deutschlands, auch die englische Freundschaft hat wegen der Ereignisse in China ein arges Loch bekommen; aber trotzdem: timeo Danaos, wie ich schon einmal schrieb!
Die Geschichte mit China scheint im Sande zu verlaufen, nach allem was man hört. Japan hatte wohl den Bogen zu straff gespannt und nicht mit dem »Erwachen« Chinas gerechnet; denn die ganze chinesische Nation scheint aufzustehen und der Regierung zu helfen, die aus allen Teilen des Landes ermuntert wird, gegen Japan loszuschlagen. Boykotte gegen japanische Waren werden veranstaltet, und man muss es der chinesischen Regierung hoch anrechnen, dass Ausschreitungen bis jetzt vermieden werden konnten, denn dann hätte Japan einen willkommenen Anlass zu militärischem Eingreifen. Yüan Shikai weiß, was dann das Schicksal des gänzlich allein stehenden Landes wäre.
Man hört und liest soviel in den Heimatbriefen, dass der Krieg Ende Mai zu Ende sei: Man glaubt es nicht und hofft es doch! Es wird immer furchtbarer hier, da allen die Nervosität in den Knochen steckt. Äußerlich ist es allerdings bedeutend ruhiger geworden, da jeder sich eine – meist geistige – Beschäftigung gesucht hat. So vertreibe ich mir eben die Zeit mit Englisch-Lernen, Lesen und Kartenspielen – Bridge ist sehr in Mode!

Morgen ist Zwangsimpfung gegen Typhus; es wird eine üble und unangenehme Sache, von der ich mich gerne drücken würde: Fieber, im Bett liegen, kein Alkohol – so wurde uns gesagt!
Wenn nur bald deutsche Zeitungen kämen, mit Siegesnachrichten natürlich! Von einer Seeschlacht an der schwedischen Küste wird gemunkelt, dann wären wir wenigstens eine Zeitlang in froherer Stimmung!

Heute, am 21. April 1915, regnet es wieder einmal, nachdem es gestern noch einigermaßen schönes Wetter gewesen war. Aber kaum war die Sonne durch die Wolken gedrungen, so herrschte eine üble Treibhausluft, eine Bruthitze!
Gestern wurde die Hälfte von uns geimpft, und abends lag sie sehr »maladio« mit Fieber zu Bett; auch die Brust, wohin die Impfung erfolgt, scheint zu schmerzen, da sich einige stöhnend auf ihrem Lager herumwälzten.
Heute morgen herrschte eine solche Krankenluft in unserm Zimmer, dass ich selbst einen eingenommenen Kopf hatte. Den meisten scheint es noch recht schlecht zu gehen, vor allem dann, wenn sie es sich trotz des Verbotes nicht versagen konnten, einen Whisky zu trinken! Unsere Oksan war nämlich fünf Tage in Nagasaki und hat von dort – nicht etwa auf unsere Bestellung hin, sondern aus sich heraus! – verschiedenes mitgebracht, z.B. Whisky, Gurken, Mohrrüben und zwei ganz prächtige Weißkohlköpfe, richtige »Grafenrheinfelder«, die offenbar von China importiert werden, da hier so etwas nicht wächst.
Die Japaner scheinen es übrigens mit der Impfung sehr genau zu nehmen, denn gestern abend war der Arzt noch einmal da und hat sich nach dem Befinden jedes Einzelnen erkundigt.
Von Vater, Mutter und von Bruder Werner habe ich sehr gute Nachrichten erhalten, die vom 20. März 1915 stammen. Geld wird mir auf alle mögliche Weise geschickt – aber ich brauche nichts mehr!

Von M. B. kam heute, am 22. April 1915, ein Feldpostbrief mit 100 Cigaretten – wieder einmal die deutsche Steuerbanderole! Herr Bl./Schanghai sandte einen Stoß der verbotenen »Zeitung für China«. Das Wetter ist wieder besser. Morgen werde ich geimpft, was bedeutet, dass ich den ganzen Tag im Bett liegen muss!

Heute, am 23. April 1915, war also die Impfung! Der Arzt machte die Sache sehr nett; erst desinfizierte er die Impfstelle an der Brust mit Jod, dann stach er die 50 Millionen Typhusbazillen hinein. Die Spritze wurde immer vorher desinfiziert und zum Schluss die Impfstelle mit Äther bestrichen.
Eigentlich sollte ich sofort im Bett liegen; aber ich sitze bei dem schönen Wetter im Garten mit einem etwas komischen Gefühl auf der rechten Brustseite. Ich wollte jedenfalls, wir wären 24 Stunden weiter.
Gestern Abend waren zwei junge Japaner an unserm Zaun, angehende Rechtsgelehrte, die recht gut deutsch sprachen. Sie besuchen hier eine Art Hochschule, und zwar die Klasse für Rechtstudierende. So bald als möglich wollen sie nach Deutschland, und zwar nach München; wir gaben ihnen deutsche Zeitungen.
Sie erzählten, sie hätten Unterricht bei einer deutschen Lehrerin, einem Fräulein Büttner. »Sie ist meine Mutter, sie ist sehr angenehm, sie sei befreundet mit dem Kultusminister. Kennen Sie die Loreley? Ich werde sie besuchen, ein schönes Lied, wir singen es auch japanisch! Kennen Sie die Wacht am Rhein?!« So ging es hin und her, so unterhielten wir uns ungefähr eine halbe Stunde, bis an der Ecke ein Schutzmann auftauchte und die Studiosi verschwanden. Von Ferne riefen sie uns noch ein gut »deutsches« Adieu zu.
Die Impferei hat auf mich weniger Einfluss als auf die meisten andern; ich saß den ganzen Tag im Garten und spielte abends sogar Karten. Die rechte Brustseite schmerzt zwar ziemlich heftig, aber es lässt sich ertragen. Das kühle Wetter ist wohl schuld, dass ich ohne Fieber durchkomme; es ist nämlich fast kalt, während es neulich sehr heiß war.

Die Nacht zum 24. April 1915 habe ich recht gut verbracht: Nur zweimal bin ich aufgewacht, als ich mich auf die rechte Seite legen wollte. Aber heute wachte ich mit einem Kopf auf, als ob ich gestern betrunken gewesen wäre, mit einem richtigen Katerschädel!
Die frische, kühle Luft tat mir gut, und als es nachmittags hieß »Auf zum Ausflug«, ließ ich mich nicht halten, obwohl ich mich schon zum Schlafen niedergelegt hatte.
Wir wurden auf Umwegen zum Homyo-ji-Tempel geführt, zum Lepra-Tempel, wo ein mächtiger Betrieb herrschte: Eine Menge Frauen knieten in dem alten Gotteshaus und plärrten ihre monotonen Gebete herunter, zwischen den Fingern den Rosenkranz reibend. Das Geschäft schien recht gut zu gehen, denn eine Masse Kupferstücke wurden in den Kasten geworfen, und mit Weihrauch und Wachskerzen wurde nicht gespart. Von dem dort aufgestellten Affen habe ich schon früher erzählt. Es gibt dort auch ein geweihtes Wasser, das die Besucher trinken und mit dem sie sich das Gesicht einreiben. Der Tempel scheint übrigens eine gewisse Berühmtheit zu haben, denn selbst aus Tokyo sollen Leute zum Beten kommen! Im Grunde ist alles der gleiche Schwindel wie bei uns!
Etwas ermattet, da beim Gehen die Brust schmerzte, kam ich nach Hause, wo unser Tempelältester den erquickenden Kaffee bereitet hatte.
Vater schrieb mir, ich solle ihm etwas über Japans Land und Leute mitteilen; wenn ich aber etwas erzähle, so gibt es ein schiefes, wenn nicht falsches Bild, da wir wegen der Zensur nicht so schreiben dürfen, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Zudem sind wir Kriegsgefangene, und unser Urteil ist stark getrübt, weil der Besiegte dem Sieger nur ungern Lob spendet und wir verhältnismäßig wenig von den Japanern sehen bzw. mit ihnen zusammenkommen.

Heute, am 28. April 1915, regnet es bereits den dritten Tag; man muss immer in der Bude sitzen, wo es kaum zum Aushalten ist, zumal ein Teil die zweite Typhusimpfung bekommen hat. Kurz – es ist entsetzlich!
Heute Nacht um 4 Uhr war »Alarm«. Der Ober war da und veranstaltete höchstpersönlich die Zählung, wobei herauskam, dass ein Reservist vom Haupttempel fehlte. Zwei Reservisten, die etwas angesäuselt waren, stiegen nämlich über den Zaun, was hier keine Kunst ist, weil wir ja nicht, wie im Konzentrationslager, mit Stacheldraht eingezäunt sind. So kommt man hier ganz gut heraus, ohne dass es jemand merkt. In der Stadt liefen die beiden einer Patrouille in die Hände, die sofort ihre Verfolgung aufnahm. Während einer noch durch den Zaun kam, wurde der andere zur Wache gebracht und etwas unsanft behandelt. Die Patrouille revidierte unsern Tempel und fand dabei das »corpus delicti«, eine nasse Litewka! Der Ober wurde gerufen, ließ antreten und fragte, wer der Mitläufer bzw. -säufer gewesen sei. Da der Reservist sich gleich meldete, war die Sache erledigt – er wurde mitgenommen!
Eben läuft die Nachricht ein, dass beide je 15 Tage erhalten hätten, womit sie wohl nicht gerechnet hatten, da kürzlich auskneifende Soldaten nur zwei Tage bekommen haben. Zur japanischen Rechtslage: Unteroffiziere bekommen, wenn sie über den Zaun gehen, 10 Tage, weil sie wissen müssen, was sie zu tun und zu lassen haben; Mannschaften 2 Tage, weil sie es nicht genau wissen; Reservisten, die den andern mit gutem Beispiel vorangehen sollen, aber 15 Tage, verschärft, wenn es das 2. Mal vorkommt! – Keine üble Rechtsauffassung!
Ein deutscher Militärrichter hätte wahrscheinlich das Vergehen an sich geprüft und das Strafmaß nach dem Gesetz bestimmt.

Am Nachmittag hat es zwar aufgehört zu regnen, aber heute, am 29. April 1915, war alles so nass, und der Himmel hing so voller Wolken, dass man nicht wagen konnte, draussen zu sitzen.
Nun wird es trocken, und bei dem prachtvollen Wetter kann man sich wieder im Zaubergarten aufhalten.
Im Briefeschreiben haben wir eine neue Beschränkung: Die Briefe dürfen nur vier Seiten kleinen oder 2 Seiten großen Formats sein. Diese Beschränkung ist darauf zurückzuführen, dass einige unverschämt lange Briefe abgaben; einer entblödete sich nicht, 23 Seiten zu schreiben. Natürlich geht dies auf Kosten der Kameraden, deren Briefe länger liegen bleiben.
Gestern, heute und morgen sind japanische Feiertage zu Ehren der im chinesisch-japanischen, im russisch-japanischen Krieg und vor Tsingtau gefallenen Soldaten. Das Üble ist, dass es keine Post und keine Zeitungen gibt!

Gestern, am 30. April 1915, war herrlichstes Wetter, passend für den japanischen Feiertag – Kaiserwetter, würden wir sagen! Aber von dem Feiertag haben wir wenig gemerkt, außer dass die Kantine geschlossen war und ab und zu eine Rakete in die Luft flog. Die Japaner scheinen wie die Chinesen mehr Freude am Knallen als an der Farbe zu haben; denn sie verpulvern diese Dinger auch am Tage!
 

c) Mai/Juni

Heute, am 1. Mai 1915,wurde mir die zweite Ladung Typhusserum eingespritzt, diesmal in die linke Brustseite und ein paar Millionen Bazillen mehr. Ich will sehen, wie es diesmal ausgeht!

Am 5. Mai 1915. Seit vier Tagen habe ich kein Tagebuch geführt; ich trage nämlich meine Tsingtauer Erlebnisse nach, um nicht alles zu vergessen, und es ist ein bischen viel, zwei Tagebücher zu schreiben!
Dauernd ist wunderschönes Wetter, nicht zu heiß, aber doch warm genug: Heute Nachmittag waren es noch 25 Grad im Schatten.
Vorgestern früh machten wir einen zweistündigen Spaziergang auf den Hana-okayama. Mit sehnsüchtigen Blicken schauten wir auf das Meer und beneideten jeden armseligen Japsenknaben, der frei herumlief.
Vor vielen Häusern in der Stadt sieht man jetzt an hohen Bambusstangen schwarze Fahnen mit den Figuren eines Fisches oder eines Kranichs, denn am 1. Mai feiern die Japaner das Jünglingsfest und jede Familie, bei der der Erstgeborne ein Sohn ist, steckt solche Fahnen mit Reissäckchen aus.

Die letzte Impfung ist mir nicht so gut bekommen; ich habe ziemliche Schmerzen an der Impfstelle, aber kein Fieber. Am Freitag folgt die letzte Spritze, dann soll man gegen Typhus gefeit sein.
Vorgestern bekam ich wieder von Siemens-Schuckert 200 Mark, die von zuhause telegraphisch angewiesen waren.
Ein kleiner Erdstoß heute um 8 Uhr abends erinnerte uns wieder einmal daran, dass wir uns auf vulkanischem Boden befinden.
Zuhause ist die große Schlacht bei Ypern geschlagen worden, auch bei den Dardanellen scheint es für die Verbündeten schlecht zu stehen.
Ich fühle mich gar nicht wohl, bin unlustig zu allem. Das mag mit der Wärme und der Impferei zusammenhängen – ein Ende ist ja nicht abzusehen!

Heute, am 8. Mai 1915, ist wieder schönstes Wetter; aber es ist schon so heiß, dass wir über unsern Platz im Garten eine Decke spannen mussten. Moskitos umsummen uns den ganzen Tag, schwarz-weiße Tierchen, die uns des Nachts merkwürdigerweise in Ruhe lassen. Die Stiche sind ekelhaft und jucken ziemlich; da die Moskitos auch Malariaträger sind, sollen wir demnächst auch gegen diese Krankheit geimpft werden.

Gestern bekam ich die dritte und letzte Typhusspritze, von der nichts zu merken war, denn ich trank mein Bier und den gewohnten »Jonny Walker«!
Vorgestern kam von Mutter ein Paketchen an, enthaltend Süßigkeiten, Weihnachtsgebäck, Lebkuchen. Es schmeckt prächtig, wenn wir bei unserm Whisky sitzen und dabei die Süßigkeiten knabbern.
Die Heimatspost hat mir im Übrigen nichts gebracht, eine große Enttäuschung!
Wir stehen jetzt um 7 Uhr auf und gehen um halb 11 Uhr zu Bett – immer noch genug Schlaf!

In Tempel III sind zweimal die Posten verhauen worden, nachdem sie vorher versucht hatten, unsere Leute mit dem Kolben zu traktieren. Man denke sich, ein deutscher Posten würde von einem Gefangenen angegriffen, welche Ungeheuerlichkeit! Aber wir Europäer fühlen uns eben den Asiaten gegenüber überlegen, und dieser Überlegenheit fügt sich der Japaner, der sie fühlt, mehr oder weniger. Ein deutscher Soldat ließe sich kaum von einem Gefangenen das Gewehr aus der Hand nehmen, wie es bei uns auf der Stube geschieht, und »auf Befehl« die Nationalhymne singen. Die Japaner werden wie unerfahrene Kinder behandelt, was sich der eine gefallen lässt, der andere nicht.
Übrigens ist jetzt das 23. Regiment auf Wache, das mit in Tsingtau war, woraus sich die Erbitterung erklären ließe.

Kumamoto, am 12. Mai 1915. – Zwei Regentage haben wir hinter uns und heute ist schönstes Wetter.
Vorgestern haben Eckert und ich die besorgten Moskitonetze angebracht, ohne sie bis jetzt zu brauchen! Sie baumeln ganz friedlich an der Decke, haben aber dank der lieblichen, himmelblauen Farbe schon manchen faulen Witz verursacht!
Heute morgen um 7 Uhr kratzte die Oksan an meiner Papiertüre: »Iwash-san, arimas!«, was heißt: »Herr Fischer, sie sind da!« Ich hatte ihr nämlich fünf Yen für Langusten gegeben, die wir beim Spaziergang in den Läden gesehen hatten. Diese Tiere sind bei uns sehr teuer, aber sie brachte einen ganzen Korb voll schöner, großer Tiere, die in dem gesegneten Land des Fischfangs nur 10 Sen das Stück kosteten. Wir haben zwar geschwelgt, aber mehr als zwei Stück konnten wir nicht verdrücken, weshalb wir den Rest an unsere Zimmerkameraden verschenkten. Zu den Langusten tranken wir Médoc und machten uns eine Majonnäse nach folgendem Rezept:
Man nehme, so man hat, etwas Butter und streiche damit das Gefäß aus; von drei Eiern nehme man nur das Gelbe und gieße unter ständigem Umrühren langsam, möglichst tropfenweise, eine halbe Tasse Salatöl zu. Um der Sache die nötige Festigkeit zu geben, füge man etwas Milch oder Rahm zu. Man setze Salz, Pfeffer und nach Geschmack Weinessig hinzu – die Majonnäse ist fertig.
Heute gab es für jeden Unteroffizier 2 Yen, für jeden Mann Yen 1,50. Große Freude herrscht bei uns darüber, dass es in Russland so flott vorangeht und dass die Lusitania versenkt ist. Natürlich schimpfen die england-freundlichen Blätter wie »Chronicle« und »Advertiser« mächtig über die German Pirates. Aber vorher haben sie immer geschrieben, die Blockade sei unwirksam, und nun haben sie den Salat! Sie schimpfen wie die Rohrspatzen–- und wir freuen uns!

Ich würde dies Buch nicht schon wieder zur Hand nehmen, wenn nicht heute, am 13. Mai 1915, ein Feiertag wäre: Christi Himmelfahrt!. Wovon wir natürlich nichts merken, aber es ist eben ein Feiertag.
Ich fühle mich zurzeit garnicht wohl: Unlust zur Arbeit, eingenommenen Kopf, Leibschmerzen etc. Aber ich glaube, die Impferei ist daran schuld, da es andern genau so geht. Vielleicht kommt es auch daher, dass man zu wenig Bewegung hat. Wann wird der Tag der Freiheit sein?

Endlich kann ich heute, am 14. Mai 1915, wieder einmal die steifen Knochen bewegen, nachdem ich gestern noch über zu wenig Bewegung geklagt hatte. Denn wir machten heute einen sehr netten Ausflug!
Zuerst ging es durch Kumamoto zum Militärfriedhof, wo wir das Grab des verstorbenen Reservisten Schilling vorfanden. Die Anlage der Gräber ist sehr eigentümlich, da die Grabsteine dicht neben einander wie eine Kompagnie in Zugfront aufgestellt sind. Die meisten sollen bei der großen Revolution gefallen sein, dann liegt hier aber auch die Asche von Soldaten, die im russisch-japanischen Krieg blieben.
Weiter ging es zu einem bewaldeten Hügel, auf dem wir uns frei bewegen durften, soweit der Wald reichte. »Aber nicht zu weit gehen!« Wohin sollten wir auch ausreißen? Durch ein wunderhübsches, von Bambushainen eingefasstes Tal marschierten wir wieder Kumamoto zu und trafen um halb 6 Uhr an unsern Tempeln ein.
Man sieht kein Haus, wo nicht Rosenstöcke oder andere Blumen in Töpfen stehen; für Blumen haben die Japaner eine große Vorliebe. Dagegen haben sie vor Schlangen große Angst; als wir nämlich den im Walde auf dem Boden sitzenden Ober fragten, ob es hier Schlangen gäbe, fuhr er ganz entsetzt auf, wo eine Schlange wäre!
Im Tempel II [Shoritsu-ji], der an einem Bach liegt, haben sie solche Dinger angeblich schon gefangen; sie schwimmen übrigens ausgezeichnet, und es sieht nett aus, wenn sie so dahinschlängeln. Sie sollen übrigens giftig sein!

Heute, am 18. Mai 1915, feiern die Eltern Silberne Hochzeit!
Man hat wenig Abwechslung und wendet daher den Dingen, die sich im Garten abspielen, besondere Aufmerksamkeit zu; z.B. dem Wachstum des Strauches, der neuen Blüte; jeder große Schmetterling ist ein Ereignis, es gibt hier eine schwarze, wunderschöne Art! Ich habe schon von den Laubfröschen geschrieben, die inzwischen größer geworden sind und immer noch in den Zweigen sitzen. Man bestaunt eine Riesenkröte, die jeden Abend schwerfällig aus dem Bambuszaun hervorkraucht, und beobachtet die verschiedenen Arten von Spinnen, wie sie kunstvoll ihre Netze bauen. Einige besonders schöne und große sind unsere Lieblinge und bekommen ab und zu ein paar Mücken. Mit Vehemenz stürzen sie sich auf ihre Opfer, sobald das Netz berührt wird, und vor dem Finger haben sie keine Angst.
Keines von diesen Tierlein wird getötet; denn wir haben einen gemeinsamen Feind, die Moskitos, die zu vertilgen uns Laubfrösche, Kröten und Spinnen helfen. Wir selbst zünden uns am Tage Räucherkerzen an, um uns die Tierlein vom Leibe zu halten; bei Nacht schützt das Moskitonetz, wenn sich nicht so ein Viech hineingeschlichen hat.
So finde ich Spaß an kleinen Dingen, an denen ich früher achtlos vorübergegangen wäre.

Es geht das bestimmte Gerücht, dass wir von Kumamoto fortkommen sollen, weil es im Sommer hier zu ungesund sei, und zwar nach Kurume; das wäre sehr schade, weil wir uns schließlich hier eingelebt hatten und wir, was sehr unangenehm wäre, dort in Baracken kämen! Na – noch ist es nicht ganz sicher!
In letzter Zeit fehlen die deutschen Nachrichten gänzlich, da eine Kabelstörung eingetreten sein soll; umso mehr weiß man die funkentelegraphische Verbindung mit Nordamerika zu schätzen!
In den Karpathen sollen in den letzten 14 Tagen 300.000 Russen gefangen genommen worden sein – es wird bald nichts mehr da sein! Die Österreicher sollen in Italien eingefallen sein!
Das sind die neuesten Nachrichten aus japanischen Zeitungen.
Post bekomme ich überhaupt nicht mehr!

Am 20. Mai 1915 war ein unruhiger Tag! Früh um 8 Uhr ging es schon los: Da kam nämlich ein altes Männchen an, mit einer Gartenschere bewaffnet. und machte uns unter unzähligen Verbeugungen durch Zeichen klar, dass er die Bäume im Garten beschneiden wolle. Es bedarf nämlich großer Mühe und Pflege, um den Bäumen die Eigenart japanischer Formen zu geben. Jedes Zweiglein wird durch Draht gezogen, jeder Trieb abgeschnitten, damit die Bäume nicht zu groß werden. Manchmal wird auch die Wurzel behandelt, und dadurch ist es erklärlich, dass die Kiefern ihre Zwergengestalt bewahren, obwohl sie vielleicht 100 oder mehr Jahre alt sind. Da sich neben unserm Platz im Zaubergarten solch ein Bäumlein befindet, wurde nicht viel aus dem Arbeiten. Ich sage »arbeiten«, aber es ist nur »lesen«, denn zurzeit lese ich englische Bücher, was recht gut geht. Man lernt auf angenehme Weise etwas, da man zum eigentlichen Lernen keine Lust hat.
Um 10 Uhr hieß es: Auf zum Spaziergang! Er führte nicht weit, nämlich zum Hana-okayama. Auf halber Höhe machten wir halt und durften uns auf dem ganzen Hügel frei bewegen. Wir streiften tüchtig umher, fotografierten und freuten uns an der grünen Landschaft. Wir waren sehr fidel und bildeten uns ein, wieder einmal in »Freiheit« zu sein, bis ein plötzlich auftauchender »hetai« uns daran erinnerte, dass wir nur Kriegsgefangenen waren.
Nachmittags um 4 Uhr war ein Vortrag des Pfarrer Schröder aus Tokyo angesagt; natürlich war es eine Andacht mit Predigt. Vor dem Tempel, aber noch unter dem Dach, war ein Tisch aufgestellt, und dahinter stand der Pfarrer in seinem Talar. Es war eine eigenartige Sache, denn im Hintergrund sah man einige Götzenbilder und die Verzierungen des Tempels. Der Pfarrer sprach gut, aber sehr viel, und mit Geduld hörten wir die christlichen Worte. Nach der Predigt erkundigte sich der Pfarrer, der frei mit uns reden konnte, angelegentlich, wie es uns ginge, und an Geist und Seele gestärkt kehrten wir zurück zu unserm Weißkohl, der gerade noch zum Abendessen fertig wurde.

Am 21. Mai 1915. – Nach dem Baden behielt uns Sato-san da. Wir besonderen Freunde unter den Unteroffizieren dürfen nämlich baden. In einem Nebenraum der Küche steht ein Holzbottich, in dem ein Feuerloch eingebaut ist, das Wasser ist also sehr heiß. In diesen Bottich steigt, nachdem er sich abgeseift und mit Wasser aus dem Bottich übergossen hatte, Sato-san! Dann kommen die Freunde unter den »kashis«, die Priesterlehrlinge, und zum Schluss die Oksan. Sie holt ab und zu ein paar Nachbarinnen, und dann gibt es ein großes Gekicher ob der weißen Nackedeis!
Also Sato-san behielt uns da bei Sake, Eierkuchen und Ingwerwurzeln und besprach mit uns die Frage der kommenden Versetzung nach Kurume. Besonders die Oksan ist ganz unglücklich, dass ihre »kashis« wegkommen. Manchmal mag der Priester über uns geschimpft haben, weil wir seinen ganzen Tempel ruinierten; aber ich glaube, er hat uns doch liebgewonnen und sieht uns nur ungern ziehen.
Auch für uns wird es recht unangenehm, in Baracken zu 150 Mann zu wohnen – da gibt es keine Langusten mehr! Auch kein Gemüse, keinen Whisky und nichts von den 1000 Sachen, die uns die Oksan besorgte. Wir haben hier ja alles bekommen, was wir wollten und brauchten nur der Oksan Bescheid zu sagen: Alles wurde hinten herum ins Haus geschmuggelt. Das schöne Bad müssen wir auch entbehren!

Gelungen ist die Art des japanischen Zutrinkens: Man überreicht dem, dem man zutrinken will, unter gegenseitigen Verbeugungen sein Sake-Schälchen. Der andere nimmt es und hält es einem hin, dann gießt man es gut voll Sake, und zwar aus dem Fläschchen, das im warmen Wasser auf dem Hibatchi steht. Unter weiteren Verbeugungen trinkt der andere und wiederholt dann dieselbe Zeremonie. Sato-san macht dabei uns Deutschen ein Zugeständnis und sagt recht oft »Prost!« oder »Prosto!«
Leider kann man sich mit den Japanern – einzelne Worte ausgenommen – nur in der Zeichensprache unterhalten. Freilich nicht immer wäre die Unterhaltung für europäische Damenohren geeignet, zumal die Japaner freimütig über Dinge reden, die den Europäern, besonders der Europäerin, fremd sind. Die Japaner empfinden eben anders und behandeln das, was wir als geschlechtliche Dinge bezeichnen, als etwas Natürliches, Selbstverständliches. Wir Europäer aber glauben, das alles mit dem Schleier der Mystischen, des Geheimnisvollen umgeben zu müssen. So hat sich kaum einer »geniert« oder sich Gedanken darüber gemacht, wenn er sich vor der Oksan oder ihren Nachbarinnen nackt auszog! Aber die »Kultur« scheint auch in Japan einzuziehen, denn in den Straßenbahnen Tokios soll z.B. ein Schild sein, wonach es nicht »Western style« sei, dass Männer ihre Oberschenkel und Frauen ihre Brüste nackt zeigen! Ob dadurch das sittliche Niveau der Japaner gehoben wird?! Ich glaube nicht, da durch solche Verbote der Japaner erst auf das »Unschickliche« seines Tuns aufmerksam gemacht wird! – Der Sake schmeckt übrigens nicht schlecht, wenn man erst mehrere Schälchen getrunken hat!

Heute, am 22. Mai 1915, war ein Regentag. Nachmittags holte ich ein Paket mit 50 Cigarren von Blickle, die gerade zur rechten Zeit kamen. Außerdem erhielt ich einen Brief von Fräulein Tellert, was insofern ein Ereignis war, als ich lange von der Heimat keine Post bekommen hatte – man wird halt anspruchsvoll!

Das Wetter am 23. Mai 1915 – Pfingstsonntag! – ist leidlich!-Wir haben gut gegessen, erstens weil Feiertag war und zweitens, weil wir unser Gepäck nach Kurume erleichtern wollten.
Es wird nämlich Ernst mit Kurume, und zwar sollen wir mit 150 Mann in eine Baracke kommen. Die schönen Zeiten sind also vorbei!
Nachmittags waren Gericke und Meyer (der spätere Meyer-Glitza) von der Feldbatterie bei uns zum Kaffee.

Pfingstmontag, 24. Mai 1915. – Heute gab es wieder Langusten und als Zwischengericht Ingwerwurzeln in Zuckersoße, die recht gut schmeckten und die die Oksan spendiert hatte. Als Nachtisch gab es Backobst und darauf einen starken Kaffee. Gericke nahm an dem keineswegs gefangenenmäßigen Essen teil.

Am 25. Mai 1915 behielt uns der Priester nach dem Bad wieder da. Es gäbe Omelette, Fisch, Ingwer – und Lotuswurzeln, Bambussprösslinge und Reisklöße, dazu Sake, Kirinbier und Vermuto.
Um 9 Uhr müssen wir beim Priester aufbrechen, weil um diese Zeit die Patrouille kommt. Wir setzten aber den angebrochenen Abend im Garten bei Whisky bis halb 12 Uhr fort.
Satosan und die Oksan sind ganz untröstlich, dass wir fortkommen. Er will unbedingt jedem von uns ein Abschiedsgeschenk machen. Aber wir wissen nicht, wie wir uns revanchieren sollen. Zunächst lassen wir uns mit ihm morgen fotografieren. Dann wird er, wie gesagt, das Bild gerahmt aufhängen und stolz seinen Freunden zeigen: »Deutso!«

In der Kantine gibt es von heute, dem 26. Mai 1915 ab, alles Mögliche zu kaufen, da man sich offenbar entlasten will: Früchte, Erdbeeren, Liköre wie Benedictiner, Vermuto etc. Man hat wohl gemerkt, dass wir uns die Sachen von Kobe kommen lassen. Pakete werden nicht mehr durchsucht, und Bestellungen gehen glatt durch die Zensur. Aber teuer ist alles: Eine halbe Flasche Benedictiner kostet Yen 2,80!
Warum soll der Kantinier nicht auch verdienen?

Heute früh, am 28. Mai 1915, kam ein Brief von M. B.
Ich schrieb einmal nach Haus, man solle mir kurze, dafür öfters Briefe schreiben. Nun bekomme ich allerdings kurze Nachrichten, aber immer wird angenommen, dass mir ein Anderer schon dies oder jenes berichtet habe. Vor lauter Annahmen erfahre ich dann nichts oder muss die Ereignisse zu erraten suchen!

Das Wetter ist dauernd herrlich, sodass wir den ganzen Tag im Garten sitzen können. Nach dem Mittagessen liegen wir halbnackt in der Hängematte unter unserm Persimonenbaum und lesen. Unser ganzes Tagesprogramm spielt sich bei gutem Wetter im Garten ab, und nun kommen wir am 9. Juni 1915 ins Konzentrationslager nach Kurume!

Hier mache ich auch die nächste Eintragung, denn in Kumamoto habe ich nicht mehr geschrieben – aus Unlust! Außerdem sind am 6. Juni 1915 unsere Gepäckstücke abgegangen, die wir nach vielem Hin und Her vorher abschicken durften. Alles wurde vom Ober untersucht, allerdings das der Unteroffiziere nur oberflächlich, das der Mannschaften aber genau. Bei einigen wurden Schälchen mit dem Tempelnamen gefunden, und im Tempel II fehlten gar 30 kleine Buddhas. Wenn es nur kleine Souvenirs gewesen wären, wäre es noch zu entschuldigen, aber ein Mann hat die Buddhas gestohlen und an andere verkauft! Kurz zuvor noch hatte unser Tempelältester gesagt, der Ober brauche gar nicht nachzusehen, wir hätten nichts und wollten von dem Zeug nichts. Was denken die Japaner von uns? Na – unser Ruf ist so nicht der Beste, und da kommt es auch darauf nicht mehr an!

In der letzten Zeit waren wir immer in richtiger Abschieds-Stimmung, ein unaufhörlicher Regen trug natürlich nicht dazu bei, unsere Laune zu verbessern.
Konzentrationslager – ein übler Begriff, dem die Engländer im Burenkrieg einen Namen gegeben haben. Unsern schönen Tempel mussten wir mit Baracken vertauschen, die milde Behandlung mit militärischer Zucht! Das letztere ist zwar nicht angenehm, aber im Interesse der Mannschaften zu wünschen, die kaum noch Disziplin kennen!
Die Oksan war natürlich untröstlich, sie brachte uns alles, was wir haben wollten. Wenn wir noch länger geblieben wären, hätte sie uns ein Flugzeug besorgt!
Sato-san schenkte jedem zum Abschied eine Henkeltasse, natürlich nur den »kashis«! Er habe sich lange besonnen, was er uns schenken solle; es sollte etwas Praktisches sein, und das Militär dürfe es nicht merken! So kam er auf die Tassen, damit wir beim Kaffeetrinken immer an ihn dächten!
Als Gegengeschenk bekam er eine Photographie, auf der alle »kashis«, der Priester in vollem Ornat, die Oksan und die Lehrlinge waren; ein geschickter Mann schnitzte zu dem Bild einen passenden Rahmen.
Die Oksan meinte in ihrer niedlichen Art, sie würde oft davor stehen und dann an ihre Freunde denken: den Ekat-san (Eckert), den Horeido (Vollweiler), den Martin-san (Martin), den Fisha-san oder Iwash-san - das bin ich) usw. (Iwash heißt nämlich auf japanisch Fischer, wie wir auf einem Holzschnitt oder Druck feststellten – es sei »onaschi«, dasselbe. Jedenfalls wurde ich von da an »Iwash-san« genannt, nicht nur von den Japanern, sondern auch von den Kameraden.) Die Oksan würde überhaupt an alle »Deutsos« denken!

Es ist anzunehmen, dass in Kurume magere Zeiten eintreten, und darum haben wir gut gelebt: Jeden Abend gab es »yüniku«, Fleisch, das wir mit Hilfe unserer Gewürze und der »carnation milk« ganz vortrefflich zuzubereiten verstanden, dazu Gurken- oder Rettichsalat und frische »Malta«-Kartoffeln, die zwar nicht von der Insel stammten, aber doch so genannt werden konnten, zumal uns ein etymologiekundiger Feldwebel einmal auseinandersetzte, die berühmte Insel sei nur nach den ebenso berühmten Kartoffeln so benannt!

Ich schließe dies Buch, das vielleicht einmal die Überschrift »Im Tempel Chokoku-ji« tragen wird, während der neue Abschnitt in meinem Gefangenenleben »Im Konzentrationslager« betitelt wird.
Am Schluss des vorhergehenden Buches I schrieb ich, dass das neue Buch das letzte sein möge, heute bin ich schon bescheidener geworden, denn das Eingreifen Italiens wird das Ende des Krieges wesentlich verzögern.
Das vorliegende Büchlein II schließe ich daher mit dem Wunsche, dass es mir in dem neuen »Heim« einigermaßen gefallen möge – gut, wage ich garnicht zu schreiben! –, dass wir uns bald einleben mögen, dass die Hitze nicht zu groß und der Moskitos nicht zu viel werden mögen. Das sind gewiss bescheidene Wünsche; aber sie sind bedeutend für uns, die die Gefangenschaft zu ertragen haben!
 

Anmerkungen

1. Anlass war die deutsche Ankündigung, durch U-Boote ab sofort auch Schiffe neutraler Nationen in der »Kriegszone« um Großbritannien herum ohne Warnung angreifen zu wollen. Dies führt im Mai (siehe unten) u.a. zur Versenkung der Lusitania, wobei 100 Bürger der USA ihr Leben verloren.

2. Hintergrund dieser durchaus weitsichtigen Bemerkung ist der Rassenkonflikt seit Ausgang des 19. Jahrhunderts, in dessen Verlauf z.B. die Kinder von japanischen Einwanderern in Kalifornien vom Schulbesuch ausgeschlossen worden waren.

3. Auch diese Bemerkung ist zutreffend: Das US-Flottenbau-Programm war darauf angelegt, mit Großbritannien gleichzuziehen und die Japaner zu überholen; auf der Washingtoner Konferenz 1921/22 wurde die Erreichung dieses Ziels kodifiziert.

4. Wie an anderer Stelle berichtet, gab es in Deutschland 1914 einige Dutzend japanische Zivilgefangene.

5. Diese an sich unzulässigeVerallgemeinerung wird freilich durch die Geschichte der Gefangenen in Japan weitgehend bestätigt.

6. Die berühmte Kapelle des III. Seebataillons trat bis Juni 1915 in China auf, ehe sie dann in die USA verbracht wurde.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
Zuletzt geändert am .