Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 8: Im Lager Kurume, zweiter Teil (1919)
 

Hinweise des Redakteurs
 
Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden achten Teil wird berichtet, wie den Gefangenen in Kurume die Warte-Zeit immer länger wurde und wie sich die letzten Wochen gestalteten, gefolgt von einem (vorläufigen) Resumee des Verfassers, die Gefangenschaft und einzelne Kameraden betreffend.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
  8. Im Lager Kurume (1919)
    1. Januar bis Juni 1919
    2. Juli bis November 1919
    3. Kulturaustausch als Ausklang (Dezember 1919)
    4. Letzte Tage in Kurume
  9. Heimreise (1920)

 

a) Januar bis Juni 1919

Kurume, den 10. Februar 1919. – Nur doch einmal wieder nur eine Stunde allein sein können, fern von allen Menschen!

(Anmerkung des Verfassers: Im Jahre 1918 habe ich das Tagebuch kaum angerührt. Wenn ich jetzt eine größere Abhandlung über dieses Jahr schreibe, so nehme ich das Fotoalbum zu Hilfe, das manche Szenen zeigt, über die ich im Lager hätte schreiben können; aber ich war wohl zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt – siehe unten. Außerdem war mir das Schreiben im Tagebuch zu lästig geworden.)

Im Januar 1918 – es mag schon einige Wochen in 1917 gewesen sein – schickten die Japaner plötzlich jeden Tag ca. 200 Mann unter der Aufsicht eines Vizes und etlicher Unteroffiziere zur Arbeit. Das war etwas ganz Neues, denn bis dahin hatten sich die Japaner um die körperliche Betätigung der Gefangenen nicht gekümmert. Im Übrigen waren wir ja Weiße, die im Osten nicht körperlich arbeiteten!
Da aber die Japaner uns monatelang nicht ausführten, war das Gedränge zum Ausarbeiten groß (Planierung eines Exerzierplatzes!). Mancher verdiente Geld, indem er einen anderen zum Arbeiten gehen ließ; auch wir Unteroffiziere scheuten uns nicht vor der Arbeit! Draußen versorgte uns ein schmuddeliger Japaner mit Sake, der zu unserer inneren Erwärmung notwendig, aber verboten war. Leider dauerte das Vergnügen nur ein paar Monate, dann war der Exerzierplatz planiert.

Das große Orchester, in dem ich am Klavier und am Harmonium saß, hatte im Jahre 1918 seinen Höhepunkt erreicht: Es stand mit ca. 30 Mann unter der Leitung von Dr. Vogt, einem Rechtsanwalt aus Tokyo. Wir wagten uns an die schwierigsten Dinge: Selbstverständlich spielten wir alle Symphonien von Beethoven, die meisten von Haydn und Mozart, einige von Schubert, Schumann, Brahms und Bruckner. Von den Richard Wagner'schen Bühnenwerken führten wir außer dem Feuerzauber, den verschiedenen Ouvertüren auch das Liebeslied der Elisabeth aus dem Tannhäuser auf, gesungen von einem Mann!
Ursprünglich wurden die Konzerte im Offiziersspeiseraum (mit Genehmigung der Japaner natürlich), später in Baracke 16 (siehe unten) veranstaltet. Die Noten für die jeweiligen Instrumente wurden aus kleineren Partituren von Dr. Vogt und meinem Freund Eduard Zeiss herausgezogen, und zwar handschriftlich! Allen machte es Freude, mitzuwirken und alle sechs Wochen ein neues Konzert zu geben. Außer den Konzerten und Theateraufführungen – wir feierten im April 1919 die 50.! – beteiligten sich hervorragende Sportler des Lagers an den jährlichen Sportwochen, bei denen den Siegern Preise winkten. Andere wieder widmeten sich der Kunst und dem Gewerbe und zeigten ihre Erzeugnisse wie Schnitzereien, Modelle und dergleichen auf Ausstellungen, die z. B. im September 1915 und im Dezember 1917 stattfanden. Es ist unerfindlich, woher manche das Werkzeug und das Material hatten!

Zu dieser [Ausstellung] wurde auch ein neuer »Roman der XII« verfasst, d.h. 12 schreibgewandte Männer, darunter auch ich, wurden aufgefordert, ein Kapitel eines Romans zu schreiben. Man bekam eine durch das Los bestimmte Nummer und musste innerhalb 14 Tagen seine Arbeit abliefen. Jeweils vom Vorgänger erhielt man den unbekannt gebliebenen, bis dahin geschriebenen Teil des Romans.
Wir bekamen einen Preis (natürlich!), aber auch eine gehässige Kritik in der Lagerzeitung, worauf ich ebenso gehässig erwiderte!1
Der September 1918 brachte uns eine große Erleichterung. Bis dahin hausten auf 28260 qm 1318 Menschen, nämlich 74 Offiziere, 63 Feldwebel bzw. Deckoffiziere , 161 Unteroffiziere und 1010 Mannschaften.2

Im August 1918 kamen 18 Offiziere, 51 Unteroffiziere und 118 Mannschaften in andere Lager, sodass noch 1136 Menschen im Lager wohnten, Nach welchen Grundsätzen der Abtransport erfolgte – einige wenige sicher aus Gründen der Familienzusammenführung! – bleibt Geheimnis der Japaner.
Jedenfalls konnte Baracke 16 geräumt werden, die nun zu Unterrichts-, Musik- und Ausstellungszwecken benützt wurde; auch stand sie zur Verfügung, falls eine Seuche im Lager ausbrechen sollte.
Gleichzeitig wurde das Lager um 3000 qm vergrößert, d.h. der Holz-Stacheldraht-Zaun an einer Seite entsprechend hinausgeschoben. Auf dieser Fläche ließ sich bequem ein Fußballplatz errichten.
Jenseits des Zaunes konnten für den Gemüsebau besonders Begabte kleine Beete einrichten und zu gewissen Stunden bearbeiten; auch zeichnen oder malen konnte man draußen.

Mehr als drei Jahre hatten wir also im engen Konzentrationslager gelebt, bis es den Japanern einfiel, unser Lager zu vergrößern und uns das Leben zu erleichtern.
Zeiss, Schnack und ich mieteten in der Stadt ein Klavier, das wir in der ehemaligen Vize[feldwebel]-Stube der Baracke 16 aufstellten und nach einem bestimmten Stundenplan benutzten. Nun konnte ich die schönsten Stücke von Beethoven, Richard Strauss etc. spielen und zu Duos die Berufsmusiker herbeiholen.
Aber mit Musik allein habe ich mich nicht beschäftigt; ich lernte Englisch und Französisch, ein wenig Russisch und Spanisch, habe viele gute Bücher gelesen und viel geschrieben – nur nicht Tagebuch [geführt]!
Ich habe ein wenig Sport (Tennis, Hockey) getrieben und meist am Abend Karten oder Mahjong gespielt.
So verging die Zeit, und manchmal schimpfte man, dass man nicht aus dem Lager herauskam.

Die schweren Tage des November 1918, da Deutschland seine Niederlage eingestehen musste und der Kaiser und die deutschen Fürsten abdankten, gingen im Lager ruhig vorüber, denn die meisten lagen apathisch in der Koje (ich nicht!) – an der asiatischen Grippe erkrankt, die damals in der ganzen Welt grassierte. Früh und abends kam der Arzt und gab ein Pülverchen, wenn das Fieber zu hoch stand. Schauergeschichten wurden über die Krankheit unter der Zivilbevölkerung erzählt, auch von anderen Gefangenenlagern, wo es Tote gegeben hat; aber bei uns nahm die Krankheit einen harmlosen Verlauf: Nach acht Tagen konnten die meisten wieder aufstehen und, wenn auch ein wenig unsicher, umhergehen.

Natürlich hatten wir bald unsern Soldatenrat, in den mich das Vertrauen meiner Kameraden der Baracke 10 berief und worauf meine Bekanntschaft mit dem Lagerführer, Major von Strantz, zurückzuführen ist.3 Aber als die Mannschaften wollten, die Unteroffiziere sollten auch Kartoffeln schälen, statt nur die Aufsicht zu führen, zog ich mich unter Protest aus dem Klub zurück!4
Der Soldatenrat trat dann – mit gemäßigten Ansichten – meines Wissens erst wieder in Erscheinung, als wir mit dem Dampfer nach Hause fuhren.
Im Jahre 1919 begann ich, mich öffentlich zu betätigen. Ich schrieb Theaterkritiken für die Lagerzeitung, veröffentlichte Einiges, was ich in der Gefangenschaft geschrieben hatte und begann, nachdem ich schon vorher nach Postkarten Holzschnitte geschnitzt hatte, Ende des Jahres zu zeichnen und zu malen. Ich erinnerte mich also wieder aller »Künste«, die ich lange, lange vernachlässigt hatte.

Damals war es auch, dass ich unserm Dolmetscher Aoyama zweimal in der Woche deutschen Unterricht gab. Wir lasen einen Roman von Hermann Hesse, den er sehr liebte, und ich musste ihn in der Aussprache verbessern. Er brachte mir jedesmal ein dem Japanischen nachempfundenes deutsches Gedicht mit. Wie es mir gefiele?! Ob ich wollte oder nicht – ich musste ihn loben! Diese »Nachhilfestunde« brachte mir manchen Extra-Briefbogen oder Spaziergang ein! Zum Schluss brachte er mir ein aus Bambus geflochtenes, lackiertes Tablett und sechs Tsubas, die dann den Grundstock zu meiner Sammlung legten.

Kurume, Dienstag, den 4. März 1919. – Gestern abends im Bett beschloss ich, wieder regelmäßig Tagebuch zu führen. Aber wo soll ich anfangen? Zurückgreifen kann und will ich nicht; vielleicht gibt sich das eine oder andere im Laufe der Zeit von selbst!

Gestern Abend hatte ich eigentlich mit mehreren Kameraden einen englischen Abend, wozu ich gar keine Lust hatte; drum habe ich eine kleine Schiebung gemacht und mit Eduard Zeiss meinen Freund, den Lagerältesten Major von Strantz, eingeladen. Als wir um 5 Uhr rüberkamen – die Einladung spielte sich natürlich in seiner Bude ab! –, empfing er uns mit den Worten: »Guten Abend, mein lieber Eduard, mein lieber Erich – na, wollen wir einen nehmen?!« Das taten wir nun nicht gleich, besorgten es aber am Abend gründlich! Strantz ist ein glänzender Gesellschafter, war zwei Jahre Adjutant des Herzogs von Coburg; im Gegensatz zu uns »Salondemokraten« ist er stockkonservativ, ein vorzüglicher Kenner des Theaters und sehr musikalisch, wenn auch kein ausübender Musiker. Er misst beinahe zwei Meter und hat einen Riesen-(Sakurabier-)Bauch, der die Bewunderung aller Japaner erweckt!

Ein Mann [Kettgen] ist an Genickstarre gestorben und wird heute nachmittag beerdigt. Große Vorsichtsmaßregeln sind getroffen worden, die Baracke ist abgesperrt, zumal bei 20 Leuten Bazillen gefunden worden sind. Hoffentlich greift die Krankheit nicht weiter um sich. In Kumamoto sind wir ausquartiert worden, weil der Typhus drohte; in den Sommern 1916/18 herrschte hier üblicherweise die Ruhr, die zur Untersuchung von und einem lebhaften Handel mit Exkrementen führte. Im Herbst 1918 lag fast das ganze Lager mit asiatischer Grippe darnieder, die viele Japaner dahinraffte, auch in anderen Gefangenlagern gewütet haben soll.
Alle diese Krankheiten haben mich verschont, so wird auch die Genickstarre an mir vorübergehen! Aber in einem Menschenhaufen, wie wir es sind, sind Seuchen unausbleiblich!

Heute abend ist politischer Abend, zu welchem Zweck wir zu sechst eine F(reie) P(olitische) V(ereinigung) gegründet haben: Zeiss, Gadow, Hake, Eggerss, Börstling und ich. Alle sechs Wochen muss jeder einen Vortrag halten. In 14 Tagen bin ich wieder dran. Ich schwitze schon Blut, da ich gar nicht weiß, worüber ich sprechen soll. Vielleicht krame ich etwas Altes aus.
Vor mir liegt Faust II. Teil, den ich endlich einmal lesen möchte; ferner Damaschkes Geschichte der Nationalökonomie, deren zweiten Teil ich durcharbeite; außerdem ein Notenheft, in das ich meine Arbeiten für den Harmonieunterricht bei Zeiss mit Kluge mache.

Nun haben wir fast fünf Jahre keine Europäerin mehr gesprochen! Als wir vor einem Jahr auf der Straße einmal zweien unserer Offiziersdamen begegneten, die zu einem kurzen Besuch bei ihren Männern zugelassen waren, schämten wir uns und wurden rot wie ein Pennäler, der seiner Angebeteten begegnet!

Kurume, den 5. März 1919. – Ich habe mich geärgert – Kleinigkeiten, zu dumm, nicht der Mühe wert, es hinzuschreiben. Nun bin ich schon wieder ruhig – und lache über alles!
Gestern war die Beerdigung des an Genickstarre Verstorbenen. Sehr feierlich war der Zug durchs Lager: Bläser und gedämpfte Trommeln. Ich war nicht mit, da nur eine beschränkte Anzahl zugelassen war.
Am Abend hielt Börstling einen Vortrag über »Wesen und Wirken der Rassen«.
Gestern bekam ich eine Karte von Kääb [?] aus der englischen Gefangenschaft: Ich sei ja nun auch ein alter Gefangener, und als solcher wüsste ich selbst, wie man dächte und fühlte, drum brauchte er wohl weiter nichts zu schreiben.

Kurume, den 6. März 1919 (Donnerstag). – Der gestrige Tag hat mich nicht recht befriedigt: Früh versuchte ich, ein wenig an meinem Vortrag zu arbeiten; aber der Versuch missglückte völlig. Dann las ich ein bißchen in dem Buch des russischen Anarchisten Fürsten Kropotkin: »Fields, Factories and Workshops«. Aber – was weiß ich, woher es kommt – ich bin kaum imstande, einen Satz inhaltlich zu erfassen. Vielleicht macht das die Frühlingsluft! Nachmittags hatte ich Tidemann zum Tee – wie vornehm das klingt.
Am Abend spielte ich zum ersten Mal die F-Dur-Sonate von Richard Strauss für Klavier und Cello. Strauss arbeitet etwas mit gewöhnlichen Mitteln, er blufft zu sehr; aber das Stück wirkt doch. Es hat mich angestrengt, jedoch macht es doch Spaß, wenn man so etwas leidlich vom Blatt spielen kann. (Wir haben nämlich in der geräumten Baracke 16 ein Klavier! Im Orchester spiele ich schon lange Klavier oder Harmonium!)
Ein Skat mit Kapitänleutnant Andree und Gadow beschloss den Abend, der für mich insofern erfolgreich war, als ich die beiden »lauste«!

Kurume, den 9. März 1919 (Sonntag). – Obwohl sich Wichtiges ereignet hat, habe ich zwei Tage nicht geschrieben.
Gestern kam nämlich von der alten Tante Ida aus München eine Karte vom 30. Dezember 1918 mit dem einfachen Satz: »Deine Brüder sind zuhause, und ich wünsche Dir vor allem – – –«. Wenn die gute Tante geahnt hätte, welche Sorge sie mir damit abgenommen hat! Sicherlich steht der Satz von meinen Brüdern Werner und Günter nur ganz zufällig da, vielleicht, weil gerade ihre Gedanken sich damit beschäftigten.
Die letzten Nachrichten stammen von Vater vom 11. November 1918, und zwar sind sie noch vor dem Waffenstillstand geschrieben, zu einer Zeit, da Werner und Günter noch im Westen waren. Nun sind also beide zuhause! Welche Freude einem eine einfache Karte machen kann!

Vorgestern fiel mein Bart, den ich mir seit dem 11. November 1918 habe stehen lassen. Vorher habe ich mich aber noch von Uhlenhuth fotografieren lassen!
Auf dem Büro lagern noch 200 Briefe, die gestern angekommen sind.
Gestern waren Leutnant Will und Oberzahlmeister Böhme bei dem Unterhaltungsabend, den ich mit Zeiss, Hallier und Alinge regelmäßig am Samstag habe. Es war recht fidel, was auf das Bier zurückzuführen ist. Zwar ist es bedauerlich, dass man sich daran »gewöhnt« hat; sind aber zwei Flaschen – das Höchste, was ich erreiche – eine »Gewöhnung«!? Doch es hilft einem über manches hinweg, und man schläft gut danach!

Kurume, den 28. März 1919 (Freitag). – Nun habe ich doch fast drei Wochen das [Tage-] Buch nicht in die Hand genommen. Viel Lust zum Schreiben habe ich auch heute nicht!
Meinen Geburtstag habe ich leidlich nett verlebt. Zum Abendessen hatte ich Zeiss, Hallier, Alinge und den »Lagerdichter« Prahl, danach zum Bierchen die Musiker Lehmann, Kühne, Gebhardt und Weissenborn eingeladen. So wurde es sehr fidel, wobei Prahl ein Festgedicht »Jüngling im März« vom Stapel ließ.

Inzwischen ging es mir recht schlecht: Rücken- und Bruchschmerzen, sodass ich schon Angst hatte, es wäre die Lunge! Es scheint aber nur ein Rheumatismus zu sein, da ich beim Atmen keine Beschwerden habe. Von Hause sind, Gott sei Dank, sehr beruhigende Nachrichten eingelaufen.
»An eine ferne Geliebte! Alle Gedanken, die ich aussende, müssen wie elektrische Funken um die Erde sausen und Dich treffen; sie müssen sich in Dein Gehirn einbohren und neue erzeugend zurückstrahlen. Neulich bist Du mir im Traum erschienen: Ich saß zwischen meinen vier Wänden, da beugte sich ein lieber Frauenkopf über meine Schultern, ich sah ihn nicht, ich fühlte ihn nur, und eine weiche Stimme flüsterte mir Worte zu, die ich nicht hörte und die nur mein Geist empfing. Ein kühler, nackter Arm schloss sich um meinen Hals – ich fühlte ihn nicht, ich wusste nur, dass er da war. Und strahlende Blauaugen sahen mich an, ein heißer Mund – da wachte ich auf!«

Kurume, den 5. April 1919. – (Die Geliebte ist so ferne, dass ich ihr im Tagebuch einen Brief schreibe. Ich weiß ja nicht, dass sie schweigt, weil sie inzwischen einen Andern gefunden hat. Sie ist mein einziger Trost in der Gefangenschaft, von der niemand weiß, wie lange sie dauert. Drum schütte ich ihr mein Herz aus mit Worten, die ich ihr einmal vorlesen will!)

Kurume, den 28. April 1919 (Montag). – (Wieder ein Seufzer!)
Es bläst – Antreten zum Abendappell!
Was treibe ich nur bis 9 Uhr? Denn bei unsern schwachen Birnen kann man nicht lesen. Ich muss mich also bei einem »Vize[feldwebel]« anmelden, die besseres Licht haben.

Kurume, den 6. Mai 1919 (Dienstag). – Gestern hat mein Freund, der Dichter Prahl, vor Zeiss, einem Pforzheimer Silberschmied namens Bührer und mir das Neueste aus seinen »Werken« vorgelesen. Er ist ein ganz bedeutendes Talent, wenn nicht ein Genie, dem ich viel geistige Anregung verdanke. In einer Skizze kam ein wunderliches Gedicht vor, das ich an die Spitze einer Gedichtsammlung stellen wollte, die nie Wirklichkeit wurde.
Ich habe ein stummes Drängen und Wühlen in mir, wieder etwas zu schreiben. In der Zeit von August bis Oktober vorigen Jahres überkam es mich, und mit einem Schlag entstanden zwei Skizzen: »Der den Tod gesehen« und »Inne«. Ohne jeden äußeren Einfluss kamen mir eines Nachts im Bett die Gedanken. Heute halte ich es selbst nicht mehr für möglich, dass ich diese Skizzen geschrieben haben könnte – mein Talent hat sich wohl darin ganz erschöpft!
Aber was sollen alle diese Spielereien; denn ich nehme mein Geschreibsel nicht ernst und betrachte es als gut für den Hausgebrauch!

Kurume, den 16. Mai 1919 (Freitag). – Gestern sind also die sämtlichen Friedensbedingungen bekannt geworden, das teuflisch-gemeinste Erzeugnis, das je von Menschengeist ersonnen wurde. Was wird nun werden?! Annehmen! Ausgeschlossen, dann lieber Bolschewismus!5
Rache bis aufs Blut, das darf der einzige Gedanke sein, den wir unsern Kindern und Kindeskindern auf den Weg geben. Aber wir guten Deutschen träumen ja von Menschheitsverbrüderung und ewigem Frieden – daher sind die Rüstungsbeschränkungen, die man uns auferlegt! Die Geheimdiplomatie wird abgeschafft – daher dürfen wir ohne die Erlaubnis der »hohen Vertragschließenden« keine Verträge schließen! Man könnte heulen!
Aber vielleicht merkt es der Deutsche nun einmal, dass das Gesamtwohl eng und unabänderlich mit dem Wohl des Einzelnen verknüpft ist. – Werden wir aus unserm Schicksal lernen? Ich glaube nicht, denn statt dass nun alles – rechts wie links! – sich eisern hinter die Regierung stellt, um zu retten, was zu retten ist, werden sich die Parteien gegenseitig bekämpfen, verhöhnen, bespötteln – schließlich mit Maschinengewehren totschießen. Es ist ein entsetzlicher Wahn, der die Menschen gepackt hat.
Und wir – wir werden hier alt und grau!

Kurume, den 6. Juni 1919 – Ich bin so voll Lebens- und Hoffensfreude.

Kurume, den 16. Juni 1919. – (Ein Geburtstagsbrief:)

Nun sind noch zwei Monate bis zu Deinem Geburtstag, den ich diesmal sicher zuhause zu erleben gehofft hatte. Es ist anders gekommen, und niemand weiß, wie es ums Jahr mit uns sein wird. Wir, die Einzelnen, haben ja kein Recht zu klagen und zu murren, wenn es sich ums Wohl und die Ehre des ganzen deutschen Volkes handelt, und ein Schuft ist, der – gerade weil es uns so schlecht geht – anders denkt! Es scheint mir, dass man auch in Deutschland nach vielem Schwärmen und Jagen nach allerlei weltpolitischen Idealen wieder zu der Ansicht zurückgekehrt ist, dass man – vorläufig wenigstens – erst einmal Deutscher ist, ehe man sich Weltbürger nennt.
»Vorläufig«, denn ein Tor, ein hoffnungsloser Lebensverneiner wäre der, der nicht von dem Glauben, der Zuversicht, Verwirklichung erhoffte, dass alle Menschen einig sind in dem Satze: Wir sind Brüder (siehe Schiller: Lied an die Freude, Beethovens 9. Sinfonie)! Von diesem Ideal sind wir noch weit entfernt, denn Brüderschaft verlangt vor allem Achtung vor dem Andern, vor seinen Vorzügen, Verzeihung, aber auch seinen Fehlern. Wie können das die Völker untereinander, die sich so wesensfremd gegenüberstehen, da sich noch nicht einmal die Volksstämme in sich zur höchsten Anschauung des Menschentums durchgerungen haben!


b) Juli bis November 1919

Kurume, den 20. August 1919. – Nun habe ich als letzte Eintragung den Geburtstagsbrief eingeschrieben, seitdem nichts mehr; der Brief ist, wie ich hoffe, bereits in Deutschland. Es ist sicher, dass wir hier noch Monate bleiben müssen, denn es besteht für uns keine Aussicht, von hier fortzukommen. Am 21. Juli bekam ich einen »Moralischen« und beschloss, wieder zu arbeiten. Die Sauferei soll aufhören: Ich hab in der letzten Zeit nämlich ein bissel viel getrunken! Man könnte hier wirklich zum Säufer werden! Aber nun ist Schluss! Ich habe die Überzeugung gewonnen, dass wir noch recht, recht lange hier sind; bis zum Februar nächsten Jahres habe ich mich nun eingerichtet. Entsetzlich!

Ich sitze zwischen meinen »vier Wänden«, und das ist so:
In meinem Rücken ist eine Strohmatte, die meinen Platz von dem meines ehemaligen Freundes Eckert trennt, wir sprechen kein Wort mehr miteinander!
Links von mir ist ein halbes Meter Fenster, vor dem in einem Kasten Bethunien blühen, und ein Meter Wand, an der Kleidungsstücke hängen.
Vor mir ist eine Decke herabgelassen, die mich von meinem andern Nachbarn Schnack scheidet; quer durch die Luft ein Bücherbrett mit einem Sammlerrahmen darunter, in dem alle Menschen vertreten sind, die ich [mag] oder die mich leiden mögen.
Rechts von mir ist mein Schrank: Unten die Wäsche und sonstiges, Mittelfach Zahnputzzeug, Kamm, Bürste usw., oben Bücher, Rauch- und Schreibzeug. Im Übrigen ist der »Schrank« nur eine mit Stoff tapezierte Bierkiste, und wenn ich den unteren Teil öffnen will, muss ich den Tisch »abbauen«, der nur aus einer Platte besteht.
An den Schrank schließt sich der Vorhang an, die.Eingangstür, die mich von der Außenwelt trennt; über mir ein Brett an der Wand und hoch oben das Gebälk, auf dem nachts große Ratten, die aus der Latrine kommen, Hochzeit feiern und manchmal auf die Betten fallen!
So – anfangs sehr viel primitiver! – hält man es nun schon vier Jahre aus!

Es ist 8 Uhr abends, und um 10 Uhr ist Zapfenstreich! Vor mir hängt eine Lampe, die mir alle vier Tage »zusteht«, und steht eine Flasche Sakura-Bier, die ich mir geleistet habe. Das ist Gefangenschaft!
Am Tisch nebenan spielen sie Karten – das hört man schon nimmer! Gemurmel tönt von andern Baracken und von Leuten, die sich vor meinem Fenster ergehen. Sonst Neues: ein Genickstarrfall – es wird wieder mit Desinfektionsmitteln gearbeitet, und die Baracke nebenan ist abgesperrt!
Mein Ohrensausen ist schlimmer, weshalb ich mir jeden Tag die Ohren einpinseln lasse; es hilft nicht viel, aber lindert. Außerdem hat der Arzt in meiner Nase einen Polypen festgestellt, weshalb ich einen Dauerschnupfen und eine verstopfte Nase habe. Was man sich in der Gefangenschaft nicht alles holt!

Kurume, 23. August 1919. – Heute hat in der Heimat jemand Geburtstag, aber das weiß niemand, nur ich!

Kurume, den 30. August 1919. – Ich habe Sorgen, obwohl man sein tägliches Brot und sein Dach über dem Kopf hat, denn ich habe so ein leises Gefühl, als ob ich verrückt werden müsste. Ob es die Einwirkung der Sonne ist, der ich jetzt im Gegensatz zu früher aus dem Wege gehe, oder allgemeines Unbehagen. Es ist etwas Fürchterliches mit mir, da ich nicht im Stande bin, meine Gedanken auf einen Punkt zu sammeln. Der Lärm in der Baracke, wo es niemals ruhig ist und den ich früher kaum empfand, stört mich.
Außerdem hat man zuviel Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen: Man hat Schmerzen am Rücken, dann ist’s Schwindsucht, am Genick, so ist’s Genickstarre, am Leib, dann hat man die Ruhr! Diese Erfahrung wird übrigens nicht nur von mir, sondern von allen gemacht.
Dann hat man natürlich Sehnsucht nach der Frau – Es passieren die übelsten Geschichten, ohne dass sich jemand sonderlich darüber aufregt.
Auch ich habe mich einem Laster ergeben, um wenigstens nachts gut schlafen zu können: Ich trinke Bier! Wenn ich allein bin, habe ich kaum das Bedürfnis, aber was soll ich denn abends in meiner dunklen Ecke anfangen? So verabredete ich mich mit »besser gestellten« Kameraden zum Karten, mit Offizieren oder Feldwebeln, die eigene Buden haben, und dabei werden ein bis zwei Flaschen Bier getrunken. Oder wir kommen nur zur Unterhaltung zusammen, dann werden drei bis vier Flaschen daraus. Das sind pro Flasche 40 Sen = Mark 2,50! Um 10 Uhr sinkt man dann selig ins Bett!
Am andern Morgen habe ich dann immer einen »Moralischen« wegen des Geldes usw.! Aber am Abend trinke ich dann doch wieder! Was soll ich trinken!? Tee trinkt man früh und zu jeder Mahlzeit, Brunnenwasser beim Baden –was man eigentlich nicht soll und ich nur selten tue. Der japanische Whisky ist schlecht und teuer! Was bleibt da übrig? Meine Laune ist noch dadurch verschlechtert, dass heute deutsche Post angekommen ist - aber nichts für mich!

Kurume, den 6. September 1919. – Meine Stimmung ist ein ganz klein wenig besser geworden, nur habe ich Sorgen vor meiner ganz unsicheren Zukunft. Was wird aus mir werden?!
Ich habe neulich wieder einmal eine Theaterkritik geschrieben und viel Beifall gefunden; man behauptet, ich sei der geborene Kritiker! Vielleicht lässt sich daraus später etwas machen?!

Kurume, den 13. September 1919. – Ich habe ein Verslein verfasst, das in einem »Gedichtbuch« steht!

Kurume, am 2. September 1919. – Ein Traum ist aufgezeichnet; aber das ist nicht interessant.
Ich bin wieder »literarisch« tätig; drum ein Verslein, das mir vor dem Schlafengehen einfiel!

»Liebchen, komm zu Spiel und Tanz,
Lass der Sorgen Not zu Hause;
Binde Blumen Dir zum Kranz,
Schmücke Dich zum Festesschmause!«

Kurume, den 26. September 1919. – Ein Schmerz ist, dass deutsche Post gekommen ist, aber nichts für mich, nicht einmal eine einfache Karte!
Nun muss ich wieder ein paar Wochen warten und hoffen – dann doch vielleicht vergebens. Aber ich hoffe, und das allein ist es, was mir bei aller inneren Unruhe Ruhe gibt!
Gestern war ein großer Ausflug, und zwar von der anderen Barackenseite, d.h. ungefähr 300 Mann. Ich will versuchen, eine kleine Beschreibung zu geben: Um 6 Uhr morgens war Appell; also stand ich um halb 6 Uhr auf – Schlafanzug aus und ein Handtuch um die Lenden, den Zahnbecher mit Wasser gefüllt, die Zahnbürste in kaiserlich-japanisches Zahnpulver getaucht, in die Lederriemen der Getas geschlüpft und raus zum Lokus – venia sit verbo! –, in dessen Nähe die Zähne geputzt werden.
Dann geht's in die Baracke zurück, mit der Waschschüssel und Seife und Schwammgurke an die Waschbank marsch – marsch! Dort steht bereits ein Wassereimer, von meinem Putzer, der treuen Seele Sagulla, mit Wasser gefüllt, sodass ich beim Pumpen nicht anstehen muss. An der Waschbank nehme ich das Handtuch ab, seife mich von Kopf bis Fuß ein, schwemme mit Wasser und Gurke die Seife ab, trockne mich mit dem Lendenschurz und kehre in die Baracke zurück. Dieser ganze Vorgang spielt sich in 10 bis 15 Minuten ab.
Die nächste Tätigkeit, das Anziehen, ist von der zu Hause üblichen so wenig verschieden, dass sich eine Beschreibung erübrigt – nur dass man sich hier leichter kleidet – dem Klima angemessen: kleine Unterhose, Khaki- oder weißen Anzug.
Inzwischen bläst das Signal zum Antreten. Ich erkundige mich bei Schnack, wer Dienst habe. Ist es der Zahlmeister, dann hat man noch Zeit; obwohl er nämlich »Zahlmeister« ist, ist er doch kein »Zählmeister«! Unsere Baracke ist die vorletzte, also eilt es nicht!
Heißt es aber »der Oberleutnant Motomura!«, dann muss man aufpassen, denn ab und zu erlaubt er sich den Scherz, von hinten anzufangen, sodass wir dann die zweite Baracke sind. Wenn dann von vorne der Ruf ertönt »Beeilen!«, dann ist »dickste« Luft, und alles saust durch den schmalen Bettgang, schnell noch den Rock zuknöpfend, in den abenteuerlichsten Beinbekleidungen, manchmal nur im Lendentuch, wenn sich einer beim Baden verspätet. Darauf wird nämlich wenig Wert gelegt – die Hauptsache ist, dass alle »da« sind.
Gestern ging es sehr rasch, denn Motomura hatte Dienst, und um 6 Uhr sollten wir aufbrechen.

Nach dem Wegtreten rüstete ich mich für den Spaziergang mit einer Cigarre, zwei Klappstullen, Mütze aus und begab mich zum Frühstück zu meinem Freunde Zeiss aus Augsburg, mit dem ich zusammen »messe«, wie der Ausdruck im Osten heißt, mit dem mich aber auch sonstige Interessen geistiger wie musikalischer Art verbinden.
Dort war unser Frühstücksgast schon anwesend, Sartori aus Garmisch-Partenkirchen, ein Sohn der Berge, Führer und Wilderer, ein prächtiger Kerl, den die Gefangenschaft besonders mitgenommen hat. Wir – Zeiss und ich – haben uns seiner angenommen, wie es unsre Pflicht als Landsleute ist, und unter dem Eindruck der bevorstehenden Heimkehr hat er ein Gutteil seines alten Humors wiedergefunden.
Es ist erstaunlich, wie viel stärker die Gefangenschaft auf einen Naturburschen wirkt als auf uns Stadtmenschen. Heimweh, bitteres Heimweh klingt aus all seinen Worten; wenn nur das Wort »Heimat« erwähnt [wird], erzählt er von seinen Bergen, von »seiner« Zugspitz, besser als der hervorragendste Dichter. Selbst fühlt man es ja ebenso; aber man ist zu sehr Verstandesmensch und drängt seine Gefühle zurück, obwohl es einen innerlich manchmal zerreißen könnte!
Also unser Frühstück: Da steht vor der Feldwebelstube – Zeiss erfreut sich als Vizewachtmeister einer solchen – im Freien ein kleines Tischchen, darauf drei Tassen, ein Kaffeetopf, zwei Brote, Schmalz, Zucker, Salz und – aus Anlass des Kräfte erfordernden Ausflugs – drei Teller mit je drei Spiegeleiern. Um den Tisch sind drei Stühle, und das Ganze ist umhegt von an Bambus und Schnüren hochgezogenen Winden, die hier im Laufe des Sommers üppig wuchern.

Gegessen wird auf deutsche Art, d.h. mit Messer und Gabel. Ich muss dies erwähnen, weil man auf den Gedanken kommen könnte, wir äßen hier »japanisch«, d.h. mit Stäbchen; so tief sind wir aber noch nicht gesunken!
Inzwischen ist es annähernd halb 7 Uhr – Zeit zum Aufbruch. Auf dem Platz vor dem Büro und der Wache wird angetreten. Ich schließe mich mit Zeiss und Sartori Baracke 7 an, und zwar Kraft meines Amtes als Deutschlehrer des Dolmetschers Aoyama, was mancherlei Vorteile bietet – wie man sieht, da unsre Seite nicht »dran« ist.
Auf dem Weg von dem Lager wird endgültig abgezählt, d.h. man tritt zu vieren an, ein Feldwebel meldet für jede Baracke die Anzahl, die von einem japanischen Sergeanten nachgeprüft wird. Das geht alles sehr gemütlich ohne Stillstehen und sonstige Mätzchen ab: Den Militarismus haben wir gründlich abgelegt!
Die Posten werden verteilt, die der Form halber mitgehen; denn wir sind lammfromm, und Ausreiße-Gedanken liegen uns fern – wo sollte man auch hin als Weißer unter den vielen Gelben?!

Dann heißt es »Marsch« – aber nur den vordersten Leuten verständlich! Kein Kommando, gewissermaßen eine schüchterne Bitte, und schon löst sich die gezwungene »Viererkolonne« auf! Man macht sich’s gemütlich; der Freund, bisher getrennt durch das harte »Vordermann«, findet sich zum Freund; hier gehen zwei in einer Reihe, dort fünf und noch mehr. Die ganze Straßenbreite wird eingenommen, da es keine Fuhrwerke oder gar Autos gibt.
Man macht sich’s bequem, zieht den Rock aus und schiebt ihn in den Hosengürtel; Naturmenschen haben kein Hemd an und zeigen ihren von der Sonne gebräunten Oberkörper den darob gar nicht erstaunten Nesans und Okusans! Ja – wenn der Körper weiß wäre, dann würden wir vielleicht Aufsehen erregen, denn Weiß gilt ja bei den Japanern als Zuchtauslese; aber so, wo doch die japanischen Frauen keinen Anstand nehmen, die Reize ihres Oberkörpers zur Schau zu tragen!
Am Lazarett und verschiedenen Kasernen geht es vorbei; ab und zu begegnen wir einem Offizier, der zum Dienst geht. Aber während früher immer auf Ehrenbezeugungen geachtet wurde, gibt es das jetzt nicht mehr. Es war auch zu ulkig, wenn ein Feldwebel oder Unteroffizier »Augen rechts!« befahl: Dann begann zwar ein sogenanntes Marschieren, aber der eine machte den schneidigsten Preußen-Parademarsch, um zu sehen, ob die Beine noch flögen; ein anderer exerzierte den japanischen Kniemarsch, den bei uns verpönten »Potsdamer«, um den Japaner anzuulken; wieder einer nahm gar keine Notiz, hatte die Pfeife im Mund, den Rock überm Arm usw.
Das alles ist jetzt abgeschafft; man kümmert sich um nichts mehr als um die umgebende Natur; wir genießen und empfinden sie um so mehr, als wir aus Planke und Draht nicht herausgekommen sind.

Kurume, den 27. September 1919. – Soweit bin ich gestern Abend gekommen: Es war halb 10 Uhr, und ich hatte solchen Hunger, dass ich noch zwei Schmalzbrote aß. Ich glaube, es ist lange her, dass ich soviel in einem Zug geschrieben habe. Dabei war es in unserer Baracke gar nicht ruhig. In einer Ecke spielte nämlich ein Phonograph die entzückendsten Weisen wie »Hupf mein Mädel« auf englisch mit dem ekelhaft gebrüllten »Hoorrah” (Hurrää); Violine-Solos von Burmester, Emmy Destinn sang bezaubernd, Two-steps, Tangos, »It's a long way to Tipperary«, Hohenfriedberger, kurz: alles durcheinander, was ein Sammelsurium amerikanischer Platten bieten kann. Aber es stört mich gar nicht, im Gegenteil, der Erfolg zeigt, dass meine Bleifeder nur so dahinflog.
Heute morgen ist alles Mögliche los, sodass ich gar nicht zur Ruhe komme: Erst musste ich den Arbeitsdienst beaufsichtigen, was eine halbe Stunde in Anspruch nahm. Dann »buchte« mich Major von Strantz mit Zeiss zu einem Frühschoppen – wir sind bei ihm die Edelkommunisten!
Darauf rannte ich bei allen möglichen Leuten umher, um meine morgige Tennisstunde zu verlegen. Wir wollen nämlich – außer der Reihe! – einen kleinen Frühspaziergang in die Gärtnereien machen! Schließlich wollte ich mir beim Arzt mein krankes Ohr bepinseln lassen – kam aber zu spät!
Ich schrieb ein bißchen, sauste wieder los, und nun ist es inzwischen dreiviertel 11 Uhr, Zeit zum Frühschoppen. Das ist übrigens eine Untugend, die ich ganz und gar nicht schätze und von der ich mich drücke, wo es immer geht, aber heute konnte ich dem Major nicht gut einen Korb geben.
Ich würde viel lieber meine Schilderung von gestern fortsetzen. Ich finde vielleicht heute Abend Gelegenheit weiterzuschreiben, indem ich gegen eine Cigarre die Lampe erhandle.

Um 7 Uhr abends. Also weiter von unserm Ausflug am 25. 9. 1919. Gleich hinter den Kasernen kommt ein Dorf, das sich sehr lange hinzieht und nur aus einer Straße besteht. Da ist ein Laden, in dem übelriechende Fischwaren (frisch, geräuchert und getrocknet) zum Kaufen einladen; dort gibt es Obst, hier Süßigkeiten; dort Bambusgeflechte, hier sitzt eine Maid am Webstuhl; dort schlägt ein Goldschmied goldene Ringe; hier ist ein Postbüro, dort ist ein Eingang zu einem Tempel.
So scheint jedes Haus seinen bestimmten Zweck zu haben. Jedes Haus ist offen, sodass man bis zum Gärtchen durchsehen kann. Die Erwachsenen kauern selbst im heißen Sommer um den Hibatchi und rauchen in scheinbarem Nichtstun ihr Pfeifchen. Sie schauen kaum mehr auf, wenn wir vorübergehen; aber die Kleinen kommen immer noch herzugerannt und schauen uns mit großen Augen an, die Kleinen, die ebenso niedlich und nett sind wie die Großen hässlich und unschön, die Kleinen, die sich ordentlich und brav benehmen, wie die Erwachsenen flegelhaft und affig!

Endlich, nach 40 Minuten, sind wir aus den Häusern heraus, und nun bietet sich unsern Augen eine weite Ebene, die mit Reis bepflanzt ist. Es ist erstaunlich, wie die Japaner es verstanden haben, die Bewässerung so gut verteilen, dass jedes Eckchen mit Wasser versorgt wird. Große Staubecken, in denen wir ab und zu baden durften, sammeln das während der Regenzeit von den Bergen kommende Wasser, das im Hochsommer allmählich abgelassen wird, da die Felder nie trocken stehen dürfen. Jetzt ist der Reis so weit, dass die Bewässerung aufhören kann; die Becken und Wassergräben enthalten fast nur mehr Schlamm!

Kurume, den 3. Oktober 1919. – Ich bin doch ein richtiges Faultier, weil ich den »Aufsatz über unsern Ausflug« noch nicht beendet habe! Vielleicht morgen! Es ist 10 Uhr abends und ich muss in die Koje!

Kurume, den 4. Oktober 1919. – Wir kamen also in die Reisgegend! Es ist schon ein gesegnetes Land hier, denn sie haben zwei Ernten: im Frühjahr Weizen und im Herbst Reis. Fruchtfolge kennen sie nicht – oder doch: In Kumamoto sahen wir nämlich gelbe Rapsfelder, wo im Herbst Reis wächst. Allerdings müssen die Bauern schwer arbeiten und schuften, vor allem im Reisbau, der kein Honiglecken ist. Bis zu den Knien stehen die Bauern im Morast, und es ist wohl ebenso anstrengend, Pflanze für Pflanze aus dem Saatbeet zu setzen, wie später die Wasserräder zu treten, um das Wasser aus niedrigeren Gräben in höher gelegene Felder zu schaffen.
Nach einer weiteren halben Stunde erreichten wir den Fluss. Für uns wird immer eine der schönsten Erinnerungen aus der Gefangenschaft das »Baden« im Kurume-Fluss sein. Nur war es ja so selten, dass wir dazu kamen!

Kurume, den 16. Oktober 1919. – Heute habe ich wieder einmal das Licht, es ist halb 8 Uhr, und ich habe gar keine Lust, im Tagebuch zu schreiben. Wie lange wird es hoch dauern, bis wir zu Hause sind? An ein Wegkommen ist gar nicht zu denken!

Kurume, den 19. Oktober 1919. – Wieder berichte ich von einem Traum. Das Komische war, dass ich im Hause nichts anhatte als unser gewöhnliches Sommerkostüm, d.h. eine kurze Badehose und ein kleines Hemd. Niemand regte sich darüber auf!

Kurume, den 20. Oktober 1919. – Heute morgen war ich in der Stadt, um Einkäufe zu machen. Es ist erstaunlich, wie sich die Stadt seit unserem Einzug 1915 geändert hat – Wir sind ja immer nur nach der andern Seite spazieren geführt worden, wo das Land lag!
Überall nach dem »Western style« eingerichtete Läden, Elektrische, Autos; dabei natürlich keine gepflasterten Straßen, keine Kanalisation, enge Straßen – kurz: Vermischung des japanischen mit dem modernen Leben, denn die Läden sind alle nach vorne offen, und die Händler sitzen drinnen auf ihren Strohmatten, rauchen Pfeife und wärmen sich die Hände. Es fängt nämlich bereits an, kühl zu werden. Und die Leute laufen immer so offenherzig herum wie im Sommer! Im Übrigen ist alles viel teurer geworden, wenn man den letzten Kurs von 1 Yen = 7,50 Mark in Betracht zieht, den uns Siemens-Schuckert, Tokyo, bei den letzten Überweisungen aufbrummte. Ich glaube, dass man zu Hause alles fast ebenso billig bzw. teuer bekommen kann!
In zwei Buchhandlungen waren wir: Es gibt eine Menge englischer und natürlich japanischer Bücher, aber keine deutschen!

Von heute ab ist um 9 Uhr Zapfenstreich – Winterfahrplan auf Wunsch des Lagers. Das Büro hätte weiterhin 10 Uhr bewilligt; aber was soll man bei der mangelhaften Beleuchtung bis 10 Uhr machen? Man bekommt nur Hunger, friert und raucht mehr. Es ist also billiger, wenn man um 9 Uhr zu Bett geht – Gefangener!

Kurume, den 26. Oktober 1919.– Ich habe anscheinend wieder einmal meine Traumperiode. Monatelang schlafe ich die ganze Nacht hindurch fest, ohne irgend etwas zu träumen, dann kommt wieder eine Zeit, in der ich jede Nacht neue Gesichter habe. Neuerdings schreibe ich die Träume auf, die meist von zuhause handeln; aber sie sind nur für den interessant, der die örtlichen und sonstigen Verhältnisse kennt.

Kurume, den 30. Oktober 1919. – Die Disziplin im Lager wird lockerer. Wir dürfen jetzt Ansichtskarten schreiben, soviel wir wollen! Aber das wird teuer! Nicht für das Porto, denn unsere Post geht nach der Genfer Konvention nach wie vor portofrei, aber die Karten kosten Geld! Ein Brief meines Bruders Günter – er war 15 Jahre, als ich ihn verließ und ist heute 20 ½! – sagt nur, dass unsere politischen Ansichten weit auseinandergehen; es wird also zuhause einen schönen Strauß geben. Ich hoffe nur von Vater unterstützt zu werden, von dem Mutter schreibt, dass »nicht die geringste Gefahr besteht, da er von den Arbeitern wegen seiner sozialen Politik in der Fabrik sehr beliebt ist«.

Kurume, den 2. November 1919. – Mir wird immer ganz anders zumute, wenn ich einen neuen Monat schreibe und wenn ich gar dran denke, dass noch ein neues Jahr davon erscheinen wird – bevor .....!
Mit unserm Wegkommen verhält es sich jetzt so: Endlich ist der Plan aufgegeben worden, eine deutsche Abnahmekommission hierher zu schicken. Was sollte sie auch hier. Es wäre nichts gewesen als eine angenehme Seereise für ein paar Seeoffiziere.
Da ist es viel richtiger, dass auf japanischen Antrag hin alle Vollmachten zur Abnahme dem schweizerischen Gesandten in Japan übertragen worden sind. Dieser hat schon mit dem Vertreter der Kriegsgefangenen, Kapitän [zur See] Saxer in Narashino bei Tokyo, Verbindungen angeknüpft, und man hofft, in nächster Zeit das erste Angebot für ein Charterschiff zu erhalten.
Nun glaube ich ja nicht, wie viele, dass wir in sechs bis acht Wochen abdampfen werden; aber immerhin rechne ich mit Januar bis Februar, also wenigstens mit einem Ziel, das man vor Augen hat.
Inzwischen werden 1000 Listen ausgefertigt: Wer hier draußen bleiben will; ob und wo er eine Anstellung hat; ob er übers Geld verfügt; wer wie lange und wohin jemand auf Urlaub fahren will; wer sich einem späteren Transport anschließen will; was mit der Familie geschehen soll usw.6 Ich habe damit garnichts zu tun, denn ich will ja nur eines: möglichst bald nach Hause. Dazu braucht es keine Listen – nur ein ganz kleines Plätzchen auf einem Dampfer Japan–Deutschland!
Nun werde ich abgelenkt, habe auch eigentlich nichts mehr zu schreiben.

Günther war eben hier und sah sich meine neuen Fotos an. Dann kam Zeiss und teilte mir mit, dass ich mit ihm zum »Alten«, d.h. Major von Strantz solle. Wir waren heute bei ihm zu Mittagessen: Es gab Omelette mit Pilzen, Schweinebraten mit Spinat und Kartoffeln, Käse und Butter, dazu Bier; hinterher Whisky (echten »Jonny Walker«) und echte ägyptische Cigaretten, dazu echten Javakaffee und echte Manilazigarren – ob es das in Deutschland gibt?! Trotzdem gäbe ich alle guten Mittagessen für meine Freiheit.
Strantz, übrigens ein hervorragender Theater- und Musikkenner, begünstigt uns in einer Weise, die mir oft lästig fällt, da ich seine Einladungen nicht vergelten kann. Da hilft eben nur eines, Zurückhaltung!

Kurume, den 5. November 1919. – Eben schickt Zeiss seinen Putzer: Ich solle sofort zum Essen kommen, denn er hätte zwei hervorragende Cotelettes!
Am Abend: Das Cotelette wurde »verdrückt«, wie man im Lager-Jargon sich ausdrückt, wenn man reichlich gegessen hatte.
Anschließend bin ich ein wenig herumgelungert, um 6 Uhr war Appell, und nun sitze ich einsam in der Stube von Zeiss. Über mir ist die elektrische Lampe, unter mir eine Heimatkiste, und vor mir liegt auf dem Tisch der vielgelästerte und zugleich vielgepriesene Heine. Uber ihn möchte ich nämlich ein paar Worte in mein Literaturbuch schreiben. Doch weiß ich nicht, wie weit oder ob ich überhaupt dazu komme; denn um 7 Uhr hat Zeiss den Major von Strantz eingeladen. Bis dahin wollten sie auf dem großen Platz spazieren gehen.
Nun fängt es an zu gießen, und schon war Zeiss da – so wird nichts daraus werden. Das was ich schreiben wollte, gehört ohnehin in mein Literaturbüchlein!

Kurume, den 6. November 1919. – So weit war ich also gestern abends gekommen, da erschien Zeiss endgültig, und ich musste Schluss machen. Jetzt, abends um 6 Uhr 20, komme ich mir vor wie ein Fürst, d.h., um keinen Irrtum aufkommen zu lassen, wie ein Fürst aus der guten alten Zeit! Ich sitze nämlich in einer Kapitänleutnants-Stube! Andree hat mir nämlich seine Bude zur Verfügung gestellt; da ich nichts anderes vorhatte und zurzeit meine Abende gerne mit Lesen verbringe, habe ich angenommen.
Nachdem ich den »Chronicle« gelesen hatte, nehme ich mir nun Heines Fragment vor: »Schnabelewopski«.

Kurume, den 13. November 1919. – Heute habe ich etwas Eigenartiges erlebt: Ich las nämlich nachmittags in Strindbergs »Gotischen Zimmern« und anderen, dass hoffnungslos Liebende zu Selbstmord neigten und zwar durch Erhängen.
Gegen Abend badete ich an der Waschbank und neben mir stand ein Landsmann Brändlein aus Schweinfurt, mit dem ich mich über Neues und gemeinsame Bekannte aus der Heimat unterhielt. Er erzählte mir unter anderem, dass Grete Bock sich erhängt habe. Sie sei verlobt gewesen, und man nehme an, dass sie es aus unglücklicher Liebe tat! Welch ungeheures Erleben mag voraus gegangen sein und welch ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass ich gerade diese Stelle im Strindberg las. Zufall? Man wird ein wenig mystisch, wenn man sich mit Strindberg beschäftigt!

Kurume, den 17. November 1919. – Die Japaner wollen anscheinend, dass wir sie in gutem Andenken behalten!
Heute machten wir wieder einen großen Ausflug, und zwar zu einem drei Stunden entfernten Tempel, der südlich des Lagers an einer Hügelkette gelegen war. Dort konnten wir zwei Stunden lang »frei« herumlaufen, d.h. es wurde uns keine Grenze vorgeschrieben; wir mussten nur zu einer bestimmten Stunde an einem bestimmten Platz sein.
Unter anderem sah ich dort zum ersten Mal ein Krematorium. Die Japaner verbrennen bekanntlich ihre Toten, und zwar schon deshalb, weil das Land so wenig Platz hat! Man darf sich freilich darunter nicht so einen großen Bau vorstellen, wie wir ihn zu sehen gewohnt sind. An einem verschwiegenen Plätzchen sind mitten in Feldern, die von Wachsbäumen beschattet sind, 10 Meter im Geviert Lebensbäume angepflanzt. Über diese ragt ein kleiner, viereckiger Schornstein etwas hinaus, der von weitem den Verbrennungsort ahnen lässt. Auf einer Seite ist die Reihe der Bäume unterbrochen; wir treten ein und sehen rechts einen Backofen und den Schornstein, links eine primitive Halle zur Aufbewahrung des Holzes. Eine gewisse Weihe gibt dem Ganzen eine aus Stein gehauene Kwannon, die Göttin der Fruchtbarkeit – der Herr hat's gegeben, er kann’s auch nehmen!
Die Verbrennung geht so vor sich, dass der Sarg auf eine schräge Eisenplatte hineingeschoben wird und die aus großen Holzscheiten entstehenden Flammen vorne den Sarg bedecken, der nachrutscht. Die Asche fällt in einen Kasten, aus dem die weißen Knochenreste ausgelesen und in die Urne gelegt werden. Es geht auch so!

Etwas über die Vögel: Man hört hier kaum einen Laut, außer ab und zu streichende Wildenten, eine Häherart und Spatzen, die ja überall auf der Welt zu finden sind. Sie piepsen – sonst ist Totenstille, was meiner Ansicht nach daher kommt, dass die Vögel hier wie in Italien schutzlos sind! Wer einen Jagdschein hat, kann schießen, was er will: Kaninchen, Wildenten, Krähen, Spatzen.
Neulich sah ich mitten in der Stadt einen Ringer, der an der dicken Gestalt und an dem hochgebundenen langen Haaren kenntlich ist, wie er an einem Hausdach anlegte und eine Ladung Blei aus einer Donnerbüchse hinaufpfefferte. Ohne Erfolg, die Spatzen flogen munter davon!
Eine besondere Art des Vogelfangs, die aber Geschicklichkeit verlangt, ist folgende: Da geht ein Mann mit einer langen Bambusstange auf der Schulter ganz harmlos des Weges, immer an den Telegraphenstangen entlang und tut, als wüsste er von nichts. Oben auf den Drähten sitzen ebenso harmlos, vielleicht von einer verflossenen Liebesnacht träumend, die Spatzen! Die Stange naht – Vogel, pass auf, denn es gilt Dein Leben! Da, ein blitzschneller Schwupp, und ein armes Viech zappelt oben am Vogelleim. Der Rest ist grässlicher Mord und Braten am Hibatchi! Auch das ist Sport!
Alles redet nur vom Abtransport! Wann wird es soweit sein? Ich glaube, ich bin hier ein besserer Mensch geworden, verzeihender, verstehender gegen meine Mitmenschen; es ist kein Eigenlob, nur eine Erfahrung des engen Zusammenlebens in der Kriegsgefangenschaft!

Kurume, den 24. November 1919. – Eigentlich wollte ich gestern abends schreiben, aber da verführte mich Börstling zum Bridge, zu dem der vierte Mann fehlte.
Ich habe wieder geträumt von einem Stoß Post aus dem letzten Jahr, der durch ein Versehen liegengeblieben war und nun auf meinem Platz lag. Aus diesem Stoß fielen unbeschriebene Ansichtskarten heraus, die Bilder von Einfamilienhäusern trugen, vom einfachsten Bauernhaus bis zur vornehmsten Villa mit Auto!
(Anmerkung des Verfassers: Daher stammt wohl meine spätere Vorliebe für Einfamilienhäuser!)
Übrigens noch etwas über Blumen: Wie die Vögel in Japan kaum singen, so duften die Blumen dort wenig. Man muss schon die Nase sehr tief hineinstecken, um den feinen Duft der Azalee, der Chrysantheme wahrzunehmen. Wenn man gar die Früchte des Lackbaumes berührt, aus denen die Japaner ihre wunderbaren Lacksachen herstellen, so bekommt man eine Entzündung der Haut!

Kurume, den 26. November 1919. – Mein Traum von der vielen Post war nicht ganz ohne Vorbedeutung, denn gestern abends erhielt ich Post aus Deutschland, die mich gleich in andere Stimmung versetzte. Es kamen ein Brief von Mutter und Vater, sowie zwei von meinem Bruder Werner. Mutter, die nun ihre drei Feldsoldaten zuhause hat, scheint sich nach mir, dem vierten, sehr zu sehnen. Werner schickte mir ein Foto von sich: Er sieht gut aus. Auch Vaters Bild, das mir Günter schickte, ist recht ordentlich. So hoffe ich nur, dass ich recht bald alle meine Lieben in der Heimat wiedersehen werde.
Ich habe bisher mit dem Bleistift geschrieben, weil es rascher ging, nun will ich mich wieder an die Tinte gewöhnen, zumal bei ihr die Gefahr des Verwischens nicht so groß ist, obwohl nichts besonders Wertvolles verloren ginge.

Kurume, den 28. November 1919. – Aus Strindbergs »Blaubuch«: »Die Jungen bilden sich ein, dass die Alten Toren sind, und die Alten wissen, dass die Jungen Toren sind!« Wenn man älter wird, sieht man ein, dass diese Worte ihre Richtigkeit haben; ich möchte sie als Gradmesser der geistigen Reife bezeichnen.
 

c) Dezember 1919: Kulturaustausch als Ausklang

Kurume, den 4. Dezember 1919. – Ich habe fünf Tage nicht geschrieben, da ich zum Sitzen keine Ruhe mehr habe; nur beim Malen und Zeichnen halte ich es noch aus, das ich jetzt eifrigst betreibe.
Gestern hatte ich aber ein Erlebnis, über das ich ausführlich berichten muss; denn es war sehr eindrucksvoll.7 Schon lange war die Rede davon, dass wir in der Stadt [Kurume] ein Konzert geben sollten; aber – Division und der Militarismus, die beide Gott verdammen möge, setzten allen Anstrengungen von uns und den Zivilisten ein unbeugsames »Nein« entgegen. Schließlich scheint aber doch dem Direktor [der Mädchenschule] der Sturm auf den Divisionär geglückt zu sein, denn gestern nachmittags um 2 Uhr war in der dortigen Aula ein Konzert angesetzt worden.
Um 11 Uhr zogen wir 40 Musiker (ich Klavier!) los. Klavier und Harmonium waren dort; die übrigen Instrumente wurden auf Wagen vorausgeschickt.

Gegen 12 Uhr kamen wir an und wurden vom Direktor in einen Schulraum geführt, der offenbar kurz vorher benutzt worden war. Dort waren über die niedrigen, 50 cm hohen Tische weiße Tischtücher ausgebreitet und gar niedrige Sessel standen davor. Neugierig, wie wir waren, hoben wir die Tücher auf und fanden darunter in den Buchfächern die Bücher, Rechenmaschinen und Tusche der kleinen Mädchen.
Der Direktor hielt eine Begrüßungsrede, die unser Dolmetscher Aoyama übersetzte: sprach vom schönen Wetter, vom Vorliebnehmen-Müssen mit dem einfachen Empfang, von Freude über unsere baldige Heimkehr und so weiter. Unterdessen hatten leichtbestrohschuhte Lehrerinnen Untertassen mit Löffeln, Kuchenteller, schließlich Tassen mit Kaffee, Milch und Zucker sowie Butter mit japanischen Kuchen ausgeteilt. Der Kaffee schmeckte zwar nach Sackleinen; aber er war eine besondere Höflichkeit uns gegenüber und wurde als solche gebührend geschätzt, da der Japaner nur Tee kennt! Inzwischen huschten auf dem Gang die 11- bis 14-jährigen Mädchen umher, kichernd und sich verbeugend, wenn sie an uns vorüberliefen. Überall in dem luftigen Holzgebäude herrschte peinliche Sauberkeit; alles machten die Mädchen selbst. Da wurde gefegt und gewischt, bis jede Fußspur auf dem Boden verschwunden war. Es war selbstverständlich, dass wir an der Eingangspforte die Schuhe auszogen!

Um 1 Uhr wurde uns in der Turnhalle von ungefähr 50 Mädchen japanisches Damenfechten vorgeführt; mit langen und kurzen Stäben, mit Holzäxten wurden Scheinkämpfe ausgeführt, die viel Sicherheit und Gewandtheit erforderten. Alles mit bloßen Füßen! Der Fechtlehrer, den eine äußerst flinke Fechtlehrerin unterstützte, zeigte uns japanische Originalwaffen: lange Messer an langen Holzstangen und das kurze zweischneidige »Damenmesser«, das am Busen der früheren Samuraidame ruhte. Es war gefährlich, mit diesen Damen anzubändeln!
Inzwischen war es 2 Uhr geworden, und wir begaben uns in die Aula. Dort war bereits das Publikum versammelt: Auf niedrigen Bänken saßen 600 bis 700 kleine Japanerinnen, alle artig die Händchen im Schoß, die großen Augen erwartungsvoll, ab und zu leise tuschelnd, wie eben Mädchen von 10 bis 14 Jahren bei uns auch sind. An der Seite saßen die Lehrer mit ihren Frauen und Säuglingen und die Lehrerinnen.

Als sich der Dirigent – Leutnant Hertling! – verbeugte, machten die Mädchen ebenfalls eine Verbeugung. Wir begannen mit der Ouvertüre zu »Don Juan«. Wie seltsam es klang, als die Mädchen klatschten; wir waren nur den dumpfen, trägen Ton kräftiger Männerhände aus dem Lager gewöhnt und vernahmen nun das frische, helle Patschen, es war rührend. Gleich in meiner Nähe saß so eine kleine Zehnjährige mit einem feinen Gesichtchen, während die meisten in dieser Gegend hässlich sind, mit einem süßen, roten Kirschenmund. Sie klatschte und patschte, dass es eine Freude war. Am liebsten hätte ich ihr einen Kuss gegeben.
Ich glaube, es kann niemand verstehen, der nicht wie wir fünf Jahre abgeschlossen war, wie rührend dankbar wir für alles waren, was außerhalb des Rahmens unseres alltäglichen Lebens stand und was uns an frühere Zeiten erinnerte.
Dann kamen zwei Sätze aus der 9. Sinfonie von Beethoven, die ebenso beklatscht wurden. Lehmann und ich spielten den 1. Satz aus der 1. Sonate von Beethoven: Es wird mir ein ewiges Erlebnis sein, wenn ich die Sonate wieder spiele und höre. Pöbel sang das Liebeslied aus der »Walküre« [von Richard Wagner] mit Orchester, und auf Wunsch des Obersten, der offenbar dabei war und gern ein Lied mit Klavier hören wollte, begleitete ich aus dem Stegreif »Leise flehen meine Lieder« von Schubert« – anhaltender Beifall!
Unser Dolmetscher übersetzte jeweils den deutschen Text auf einer Wandtafel ins Japanische.

Beim »Hochzeitsmarsch« und beim »Einzug der Gäste« hatte ich nichts zu tun, weshalb ich ins Empfangszimmer ging, um eine Zigarette zu rauchen. Dort richteten Lehrerinnen neuen Kaffee und Kuchen her. Eine Lehrerin kam auf mich zu und sagte mit ihrer feinen, zerbrechlichen Stimme: »I thank you for to-day. We have a very happy time!« Als ich aber versuchte, mich weiter mit ihr zu unterhalten, lief sie davon; denn sie fürchtete wohl den Schutzmann, der auch vor der Schule nicht Halt machte und uns auf Schritt und Tritt begleitete! Fürchterlich sind diese Kerls hier!
Inzwischen war in der Aula Schluss; der Beifall hörte nicht auf, bis ein Lehrer Ruhe gebot. Mit roten Backen zogen die Mädels von dannen; für uns aber gab es im Empfangszimmer nochmals Kuchen, eine Abschieds-Dankesrede und eine Ansichtskarte mit der Unterschrift eines Mädels und guten Wünschen für die Heimreise.
Um vier Uhr zogen wir nach Hause, von den Mädels mit Winken und »Sayonara« begrüßt.
Wie öde und trostlos war das Lager! Ob wir nun doch nicht bald wegkommen?! Es ist höchste Zeit!

Kurume, den 10. Dezember 1919. — Draußen vor meinem Fenster wird »abgebaut«. Zwei Maate, in denen sich auf einmal heftiger Tätigkeitsdrang regt, schlagen allerlei Holz, entbehrliche Tische und Stühle und was sonst in der Zwischenstreiche an Brennbarem herumliegt, klein. Wie ihre Gesichter strahlen und wie sie bereitwillige Helfer finden!
Der Mensch freut sich doch sehr am Zerstören. Aufbauen ist erheblich schwerer (siehe Deutschland!). Dieser Abbau soll aber nicht bedeuten, dass es morgen hier losgeht; wir haben jedoch sicheren Bescheid, dass wir abfahren. Nämlich die Parole ist »20«! Am 30. Dezember soll es hier weggehen, und am 31. Dezember 1919 sollen wir mit der Himalaya Maru in Moji abdampfen.
Mehr kann ich nicht schreiben; ich habe von diesen paar Zeilen Eishände bekommen, so kalt ist es geworden. Vielleicht schreibe ich heute Abend noch ein paar Zeilen.

Kurume, den 17. Dezember 1919. — Endlich ist [es] soweit! Es wird ernst mit der Abreise. Schon am 28. Dezember soll es in Moji mit der Himalaya Maru abgehen!
In der Baracke ist ein Geklopfe und Gehämmere, dass es nicht auszuhalten wäre – wenn man nicht die Gewissheit hätte, dass es in 10 Tagen losgeht.
Dabei ist noch über allerlei zu berichten: Heute und morgen Abend geht hier im Lager der »Volksfeind« von Ibsen über die Bühne, worüber ich wahrscheinlich die Kritik schreiben muss. Am Freitag, Samstag und Sonntag spielen wir im Kurumer Stadttheater vor den Japanern, und zwar erst eine Gesellschaftsszene (1. Akt aus »Leander im Frack«, wobei ich auch im Frack als Klavierspieler mitwirke!), dann eine Stunde großes Konzert auf offener Bühne, anschließend Schuhplattler usw., schließlich »Toni« von Körner.
Heute morgen war Hauptprobe. Das Theater ist ziemlich groß; es fasst ca. 2000 Personen, die allerdings nach japanischer Sitte auf Strohmatten kauern müssen. Sonst ist es wie bei uns: Parterre, Ränge und Proszeniumlogen. Etwas Besonderes: Rechts ist der berühmte Blumenweg, auf dem die Schauspieler auf- und abtreten.
Eigentlich kann ich in zwölf Wochen zuhause sein. Das ist ungefähr so lange, wie ein Semester dauerte! Was für Sehnsucht hatten wir nach der Heimat – und nun erscheint es uns nur eine kurze Frist!

Kurume, den 19. Dezember 1919. — Ich habe eine Menge Interessantes zu erzählen; denn gestern waren wir ja im Theater in der Stadt!
Aber ich fürchte, ich muss mitten in meiner Schilderung abbrechen, und zwar wegen steif-kalter Finger! Es ist nämlich barbarisch kalt; heute morgen hatten wir 5 Grad Kälte in der Baracke, und wenn man in ungeheizten Holzräumen wohnen muss, so ist das kein Vergnügen. Also erzähle ich hübsch der Reihe nach, solange es eben geht.
Es ist bedauerlich, dass wir erst jetzt, nach fünf Jahren, mit den Japanern in Berührung kommen. Wir empfinden es als unangenehm, dass wir meist nur ein paar Brocken der Landessprache können; aber es wäre natürlich eine sinnlose Belastung unseres Gehirns gewesen, wenn einer ohne Aussicht auf einen Zivil-Aufenthalt in Japan versucht hätte, die recht schwierigen Vokabeln sich einzuprägen. Die Japaner vom Büro, von der Kantine, von der Garküche, mit denen wir zu tun hatten, konnten bald »Doitzu« oder English!
Für die Benutzung unseres Klaviers mussten wir für die Stunde eine bescheidene Miete zahlen; nun ist es – es war recht gut – verkauft, und zwar an die hiesige »Girl’s Primary School«! Am letzten Sonntag nahmen Zeiss und ich mit der »Eroica« Abschied. Nun sollten wir am Theater Klavier spielen und mussten dazu proben! In Wirklichkeit konnten wir ja alles, aber wir wollten einen Extragang in die Stadt »herausschinden«!

Am Donnerstag um halb drei Uhr sollten wir in die Stadt gehen. Als wir uns auf dem Büro die »nötige« militärische Begleitung holen wollten, war weder ein Offizier noch ein Sergeant noch ein Soldat zur Verfügung. Alles war so beschäftigt, dass der Hauptmann, der Englisch spricht, meinte: »I advice you to stop this trip!«
Gut, sagten wir, wir würden this trip stop; aber zum Klavierspielen im Theater fänden sie keinen – beleidigt zogen wir »am Draht«, wie man im Militär eben sagt. Das war den Herren doch nicht ganz recht, denn um 4 Uhr kam ein Bote und holte uns zum Büro: Die neue Wache sei gekommen, und wir könnten sofort in die Stadt fahren; wir könnten bis zum Dunkelwerden üben und brauchten zum Appell nicht dazusein. Der Posten wurde instruiert, er habe uns keinerlei Vorschriften zu machen, solle uns nur in die Schule begleiten und so weiter. Alles war eitel Liebeswürdigkeit und Freundlichkeit!

So zogen wir los: Nack, der Violinspieler, Pöbel, der Sänger, der Posten und ich. Die Haltestelle der Elektrischen [Straßenbahn] war nicht weit entfernt vom Lager. Auf dem Wege dorthin merkten wir schon, dass unser Gefreiter, sicher in Zivil ein japanischer Bauer, keine Ahnung hatte, wohin wir zu gehen hatten; wir wussten den Weg auch nicht! Zum Glück trafen wir an der Haltestelle unseren Kantinier mit seiner sehr hübschen Frau, der Bescheid wusste und den Posten aufklärte. Wir fuhren also etwa 20 Minuten mit der Elektrischen, übrigens einem niedlichen Bähnchen, und bogen in eine kleine Seitenstraße ein, wo uns schon Mädels mit ihren in Tüchern eingeschlagenen Büchern entgegenkamen.
Als sie uns sahen, machten alle kehrt, sodass wir einen ganzen Schwarm hinter uns hatten, als wir zur Schule kamen. Hier empfingen uns der Direktor, ein würdiger, feister Herr, und ein paar Lehrer und Lehrerinnen. Der Direktor geleitete uns in die nicht sehr große Aula, das Klavier – anderthalb Jahre lang »unser« Klavier! – wurde in die Mitte gezogen, und die Mädels knieten im Halbkreis darum herum. Lehrer und Lehrerinnen scharten sich um das Klavier, und Herr Pöbel sang. Nach dem Stück Beifall! Wir fragten, ob es gefallen hätte, worauf ein einstimmiges »Hai!« ertönte und eine Verbeugung bis zum Boden erfolgte; es war zu niedlich!
Dann kam Nack, der ebenso beklatscht wurde, und nun brachten uns die Lehrer das von ihren Noten, was sie gerne hören wollten. So die Beethovensche Mondscheinsonate in japanischer Ausgabe. Ich spielte mit kalten Fingern schlecht und recht den 3. Satz und erntete viel Lob. Es folgten ein paar Lieder, und ein Lehrer spielte auf der Geige die »Träumerei« von Schumann. Er war sehr schwer zu begleiten, denn er rannte wie ein Besessener davon und konnte durch keinerlei Überredungskünste bewogen werden, langsamer zu spielen. Vom Rhythmus hatte er keine Ahnung! Mittlerweile war es dunkel geworden, und unter vielen Verbeugungen und Sayonaras gingen wir weg. Wir kauften noch einige Kleinigkeiten und waren um halb 7 Uhr zurück.
Ich kam gerade noch zum 2. Akt des »Volksfeind« zurecht, über den ich eigentlich ein paar Worte niederlegen müsste, falls ich die Kritik in der Bordzeitung schreiben muss.

Kurume, den 21. Dezember 1919 (Sonntag). — Meine Absicht, hier ein paar Gedanken über den »Volksfeind« niederzulegen, muss ich aufgeben, da es mir wichtiger erscheint, etwas von unseren drei Theater-Aufführungen zu erzählen.
Wir spielten dreimal, und zwar vorgestern und gestern um 4 Uhr nachmittags und heute, sonntags, um 10 Uhr morgens.
Als Gegenleistung erhielten wir: Deckung unserer sämtlichen Unkosten für Requisiten usw., außerdem bekamen wir 300 Yen, die zur Verbesserung unseres Weihnachtsessens dienen sollen. Wenn man bedenkt, dass ungefähr 2500 Personen das Theater besuchten und jeder Platz 50 sen kostete, so kann man sich ungefähr ausrechnen, was für ein Geschäft die Stadt dabei machte.
Außerdem hatten wir uns ausbedungen, dass eine altjapanische Aufführung für das ganze Lager veranstaltet würde, was für Dienstag zugesagt wurde. Um 2 Uhr nachmittags zogen am Freitag wir Schauspieler und Kapelle vom Lager in die Stadt, ungefähr im ganzen 110 Mann.
Es sah aus, als ob eine fahrende Truppe daher käme: Der eine hatte sein Päckchen im Papier, der andere im eleganten Lederkoffer; der eine hatte seine Geige im Kasten, der andere in Wachstuch untergebracht; der eine war mit Militärmantel, der andere mit feinem Zivil bekleidet; der eine hatte eine Mütze, der andere einen Hut auf.
Alle schwereren Sachen waren auf Wagen vorausgeschickt worden; das technische Personal hatte tagelang fieberhaft gearbeitet.

Um 3 Uhr kamen wir am Theater an, wo die »Parterre-Sitze« schon seit 11 Uhr vormittags von Alten und Jungen, Schönen und Nichtschönen besetzt worden waren; ins Theater geht nämlich immer die ganze Familie, vom Säugling an der Mutterbrust an. So hat jede Familie ihr logenähnliches Gehäuse, wo geplaudert, gegessen und getrunken wird. Die Preise sind überall gleich: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Besondere Platzkarten gibt es also nicht. Es ist rührend, welche Bewegungsfreiheit der Japaner den kleinen Kindern lässt; sie krabbeln überall herum, heben den Vorhang hoch, schauen dem Kulissenumbau zu, und nie habe ich gesehen, dass die Kinder von den Alten verwarnt oder gar verhauen worden wären. Fängt ein Kleines an zu schreien, nestelt einfach die Mutter ihr Kleid auf und stopft dem Schreihals mit ihrer vollen Brust den Mund. Gar oft sind die »Kleinen« zwei bis drei Jahre! Gar keine Rücksicht nimmt natürlich der japanische Mann auf die Frauen. Es fällt einem Mann nie ein, einer Frau Platz zu machen oder gar aufzustehen.
Hinter der sehr geräumigen Bühne war für uns ein Teil der Schauspielerzimmer reserviert: Entsprechend unserm Programm gab es ein »Toni-«, ein »Leander«-, ein Gaukler-, ein Kapelle- und ein Schminkzimmer.
Da war eine Kälte! Brrr! Wenn ich daran denke, schüttelt es mich heute noch! Wo an den Seiten die Kulissen sind, war alles offen, aus dem Keller und durch die Löcher in der Bühne zog es, dass ich immer Angst hatte, es werde einer der »Damen« der duftige Rock in die Höhe geblasen; aber es passierte nichts!
Da ich im Frack aufzutreten hatte, und zwar als Klavierspieler in der Gesellschaftsszene »Leander im Frack«, verfügte ich mich in den dazu bestimmten Raum. Mit Stiefeln und Schuhen gingen wir auf die sauberen Strohmatten, dass die umstehenden Japaner die Köpfe schüttelten. Aus dem bescheidenen japanischen Hibatchi-Feuer wurde ein richtiges, kräftiges deutsches gemacht. Nur so war es uns möglich, einigermaßen auszuhalten.

Um 4 Uhr ging es los: Zunächst sprach der Bürgermeister von Kurume; ich konnte den Inhalt, der nicht übersetzt wurde, nicht erfahren. Der Dolmetscher Aoyama sagte mir nur, er habe die Besucher gebeten, nicht zu rauchen, um uns Deutsche zu ehren. Aber das allein kann es nicht gewesen sein, da er lange sprach. Anschließend folgte ein Marsch der Lagerkapelle vor dem die Bühne verhüllenden kleinen Vorhang. Dann trat der Dolmetscher auf und erzählte dem p.p. Publikum den Inhalt der 1. Szene des »Leander im Frack«. Es sollte nämlich eine Gesellschaftsszene aufgeführt werden, und so wählte man diesen Mist, weil das Stück einstudiert war und man dabei eine Menge Leute auf die Bühne bringen konnte.
Es ist unglaublich, was für ein Unsinn von uns auf der Bühne verzapft wurde. Die Japaner verstanden doch nicht, weshalb die tollsten Witze gerissen wurde. Ich musste während einer langen Erzählung von Dr. Bieber eintreten und Interesse heucheln. Hinter mir rief der Souffleur andauernd: »Wenn der Bieber nur endlich das .... halten wollte.« Aber der redete immer weiter; wir grinsten. Dann kamen die Einlagen: Bobers mit seiner Zupfgeige, Nack, den ich zu einem Bluff-Stück von Sarasate für Violine und Klavier begleitete, und Pöbel, der zwei Schumannlieder sang. Dieser Teil der Vorstellung schloss mit einem Walzer, an dem ich mich nicht beteiligte.

Nun ging ich schnell ins Zimmer zurück und zog das lästige Frackzeug aus. Am Hibatchi wurde Sake gewärmt! Inzwischen traten auf der Bühne die Gaukler auf mit Arthur Bieber als Conferencier. Zwei Boxer polierten sich gegenseitig die Kinnladen, und zum Zeichen ihrer Stärke trampelten sie sich zum Schluss gegenseitig auf dem Magen herum. Vier »Rosenstock-Holderblüh«-Sänger sangen hinter einer Wand, verschwanden und streckten falsche Beine in die Höhe. Endlich tanzten Sartori und Steinbacher einen wirklich feinen Schuhplattler, für den sie großen Beifall ernteten, wie übrigens alle Darbietungen.
Während des dann folgenden Konzerts machten wir es uns auf unserer Stube gemütlich, wohin man auf zwei Hühnerstiegen gelangte. Wir, d.h. Eggerss, Tidemann und ich, ließen uns japanisches Essen kommen, das 50 sen kostete und aus einer ordentlichen Portion Reis mit Zutaten bestand: Fisch, gebratenem Hühnerfleisch, Einmach-Erbsen, sauren Gurken, Eierfrüchten, Bohnen, Lotuswurzeln und allerlei Undefinierbarem. Von allem gab es nur ein Häppchen, das mit Stäbchen fein und zierlich gegessen werden musste. Dazu gab es warmen Sake und – wenn es einen zu sehr juckte – Bier, die Flasche zu 70 sen, was nach dem neuesten Siemens-Schuckert-Kurs von 17,40 in deutschen Reichsmark 12,18 bedeutete. Nett, unser Markwert!
Bei alledem, auch bei dem neuen Kurswert, den wir bei dieser Gelegenheit erfuhren, wurde uns ordentlich warm. Wir sahen daher das dem Konzertstück folgende Hauptstück »Toni« vom Zuschauerraum aus an. An den Seitengängen standen die Leute dicht gedrängt, und von der Galerie aus konnten wir das Spiel verfolgen. Ein Japaner sprach mich mit einem englischen Wort an, das ich nach längeren Nachdenken als »Yesterday« deutete. Schließlich stellte sich heraus, dass er ein Lehrer war, der in der Girl's Primary School mit zugehört hatte; er machte mir viel Komplimente wegen meines Spiels. Dann stellte er Fragen, ob ich jeden Morgen kalt badete und jeden Abend warm. Schließlich meinte er, ob ich nicht den Mädchen in der Schule einmal etwas vorspielen wolle, was ich prompt zusagte!
Das Stück fand er »not very interesting, because I don’t understand German!«

Ich sprach noch mit mehreren Lehrern; heute mit einem aus Kurume, der in gutem Englisch vom philharmonischen Orchester in Fukuoka mit 35 Mann und einem sehr guten Geiger vorschwärmte. Die dortige Universität würde beantragen, dass die Kapelle hinführe! Ja, wir würden es schon tun – wenn auch manche sinnlose Japsenfresser in unserem Lager, vor allem deutsche Offiziere, darüber schimpfen; aber es ist zu allem zu spät, damit hätten die Herren etwas früher kommen sollen!
Es kam noch eine kleine, niedliche Lehrerin dazu und bat in gebrochenen Englisch, aber mit leuchtenden Augen – sie hatte wirklich sehr schöne, dunkelbraune Augen –, wir möchten doch »Oberon« und »Rosamunde« noch einmal spielen; es sei eine so herrliche Musik. Sie war Musiklehrerin an der hiesigen Mädchenschule, spielte Klavier und Geige und sang ein paar Takte aus Schumanns Märchenlied. Es war zu nett, wie sie mit den Händen um mehr deutsche Musik bettelte! Der Lehrer meinte, wir Deutsche hätten in der Musik soviel »Geschmack« – es war das einzige deutsche Wort, das er gebrauchte.
Wenn man bei allem Elend zuhause sieht, wie in einem so gottverlassenem Nest deutsche Musik verehrt und gepflegt wird, vielleicht nicht mit dem richtigen Verständnis, sicher aber mit viel Liebe, da kann man an uns doch nicht verzweifeln! Mag es uns jetzt auch dreckig gehen, es wird wieder anders werden. Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir lernen, uns ein wenig selbst zu beherrschen: Es tut not!
Ein kleines Bild: In eine Ecke gedrückt sitzt auf der Treppe ein Seesoldat, in Decken gehüllt ein einjähriges, schlafendes Mädchen; so hockte er unbeweglich zwei Stunden, der deutsche Barbar. Wenn man ihn fragte, so antwortete er, es sei das Kind unseres Zahlmeisters, dessen Frau unwohl geworden sei. Sie müsse sich schonen, da sie noch 12 Kinder zur Welt bringen solle, meinte er.
Gestern Abend war viel feine Gesellschaft da, auch viele Geishas, heute morgen viel Leute vom Lande.
Am Freitag und Samstag fuhren wir um halb 10 Uhr auf Stadtkosten mit vier Elektrischen ins Lager, heute nachmittag um halb 4 Uhr. Drei Tage fern dem Lager, man hatte es schon fast vergessen!
Morgen geht unser großes Gepäck weg, das mit einem andern Dampfer, mit Kifuku Maru, fährt. Und dann noch sechs Täglein!

Kurume, den 24. Dezember 1919. — Gestern war die versprochene japanische Vorstellung: Begrüßung durch den Bürgermeister von Kurume, Kino, und zwar Bilder aus Kurume, schließlich ein Drama, das von einem berühmten Mann handelte, der ein Wohltäter der Armen und Bedrückten war, am Ende jedoch erschlagen wird.
Es gab für jeden Mann drei Mandarinen und gesüßten Tee in Menge. Wir machten uns den unvermeidlichen Sake heiß, denn im Theater war es erbärmlich kalt, und innere Heizung tat not!
Um 11 Uhr begann die Vorstellung, und zwar ein Schauspiel, in dem Kinder die Rolle von Erwachsenen spielten. Es ist erstaunlich, mit welcher Sicherheit die Leute ohne Souffleur spielen; jede Bewegung scheint einstudiert, jedes Wort wird langsam und deutlich ausgesprochen!
An der Seite der Bühne sitzt erhöht unter einem Dach an einem Pult ein Vorsänger oder eine Vorsängerin mit einem Shamisen. Sie vertreten die Stelle des Chors im griechischen Theater, singen mit ihrer harten Kehlkopfstimme, bald klagend, bald monoton erzählend, bald freudvoll jauchzend. Darunter sitzt ein Mann, der auf ein Brett haut, wenn es dramatisch wird, und zwar mit zwei Hölzern, z.B. bei einem Schwerterkampf und dergleichen. Dahinter sitzt verdeckt die Kapelle mit Pauke, Klingel, Kratzinstrument usw.
Es gab dann noch eine Geschichte von einem besoffenen Ritter, der von Freunden zu Hilfe gerufen, alles totschlägt, vom Fürsten (Daimyo) belobt wird und von ihm eine Braut bekommt.
Alles war äußerst realistisch. Der Betrunkene z.B. rülpste und spuckte, dass es eine wahre Freude war, bespritzte seine Mutter mit Wasser.
Für uns etwas Besonderes ist der Blumenweg, den ich kurz erwähnte; er läuft in der linken Hälfte des Zuschauerraums zur Bühne und wird von kommenden und gehenden Schauspielern benützt.
Die Gesichter werden stark bemalt, sodass sie wie Porzellan-Figuren aussehen. Infolgedessen bleibt die Physiognomie während des ganzen Spieles ein- und diesselbe.
Gegen 3 Uhr kamen wir wieder »nach Hause«.
Abends war eine Abschiedsbrücke (= Bridge) bei Leutnant (und Rechtsanwalt in Tientsin, Corps Franconia Tübingen) Will mit Eggersh und Oberleutnant Kuhn. Wir saßen sehr gemütlich bis halb 11 Uhr bei Bier!
 

d) Letzte Tage im Lager

Kurume, den 26. Dezember 1919. — Abschiedsrede des Brigadiers, gehalten am 25. Dezember 1919 auf dem großen Platz vor dem gesamten Lager, verdolmetscht von Aoyama (wörtliches Stenogramm).
»Eigentlich sollte Herr – – – von der 18. Division Ihnen heute Abschiedsgruß geben. Er ist leider verhindert; ich spreche hier für ihn. Der Weltkrieg hat über fünf Jahre gedauert und ist nun schon aus. Sie werden nun nach Hause fahren, und ich bin kolossal begeistert von der Freude großen. Es geht ein Sprichwort in Japan: ›Nach dem Regen wird die Erde befestigt.‹ Japan hat mit Deutschland Krieg gehabt; aber der gestrige Feind ist der heutige Freund geworden. Von nun ab müssen Deutschland und Japan zusammengehen, um in der Welt die Kultur zu entwickeln. Zum Ende sage ich Ihnen, dass ich die Ehre habe, als Vertreter des japanischen Heeres und Volkes, Ihnen, dem tapferen deutschen Heere und Volke künftiges Gedeihen der Nation wünschen! Schluss!«
Rede des Lagerobersten bei der gleichen Gelegenheit: »Sie werden in kurzer Zeit transportiert und nach Hause fahren können. Es ist sehr bedauerlich, dass Sie solange in Japan und [nicht] soviel Freiheit genießen. Wir haben alles getan, was in unsern Kräften – – – –. (Ironische allgemeine Zustimmung!) Wir müssen mit Ihnen Abschied nehmen und hoffen auf Ihre glückliche Heimfahrt und Gesundheit. Während der Reise und Fahrt müssen Sie wie bisher allen Befehlen und Vorschriften nachkommen, und ich will Herr Oberstleutnant Mayeda mit Ihnen nach Hafen Kobe kommen lassen, um Ihnen Ehre bieten zu lassen. (Auf Englisch:) I pray for your health. (Auf Deutsch:) Ich wünsche Ihnen glückliche Fahrt! Adieu.«

Abschrift meines letzten Lagerbriefes an die Eltern:

»Kurume, den 26. Dezember 1919. Liebe Eltern! Ich schreibe wenige Tage vor unserer Abfahrt, vor der Stunde, die uns die endliche Erlösung aus der Gefangenschaft bringen soll. Wahrscheinlich reisen wir morgen bereits von hier nach Moji. Ein großes Gepäck (2 Kisten gezeichnet K706a und K706b) ist bereits abgegangen und wird mit einem andern Dampfer, der Kifuku Maru, befördert. Ich habe beide Kisten hier mit Wert Yen 600 versichert und gleichzeitig an die Firma Mathias Rhode (Spedition), Hamburg geschrieben, das Gepäck an Chemische Fabrik weiterzuleiten. Dasselbe geschah mit einer dritten Kiste, Wert Yen 100, gezeichnet K706c , die ich für Brändlein mitnehme, der eine Stellung in Niederländisch-Indien angenommen hat und vorläufig noch hinterm Draht bleiben muss. Heute ging eine Kiste für mich weg – mein Bordgepäck. Himalaya Maru, ein Dampfer von 6 000 tons, der Osaka Shosen Kaisha gehörend, soll das beste der gecharterten Schiffe sein: 12 Knoten in der Stunde, Holzdecks. Die Verpflegung liegt in unsern Händen (Einheitskost). Löhnung gibt’s für uns Unteroffiziere 15 Yen im Monat – langt für kleine Bedürfnisse. In Übrigem habe ich noch Geld; außerdem überwies ich an Siemens-Schuckert-Tokyo Yen 120, die zum Kurse von 17,40 Mark an Dein Konto (Vater) Chemische Fabrik überwiesen wurden.
Da von Himalaya Maru für uns nur das Zwischendeck gechartert ist, haben wir auf Reiseroute und Ladeverhältnisse keinen Einfluss. Wir laufen an: Schanghai (?), Singapore, Port Said und (?) London. Unter den gegebenen Umständen ist es selbstverständlich unmöglich, dass wir irgendwo an Land kommen. Wir werden also die 6 bis 8 Wochen an Bord aushalten müssen.
Ich hoffe, dass wir spätestens anfangs März zuhause ankommen werden, und zwar in Cuxhaven, wo wir ins dortige ›Dulag‹ kommen werden. Bei den schlechten Reisegelegenheiten daheim wird es kaum jemanden von Euch einfallen, mich in Cuxhaven abzuholen; es sei hiermit ausdrücklich verboten. Ich habe keine Ahnung, wie lange unter den heutigen Umständen eine Fahrt von Cuxhaven nach Schweinfurt dauern wird, werde Euch aber auf jeden Fall rechtzeitig benachrichtigen. Am Bahnhof, bitte ganz kleinen Empfang (Werner oder Vater) – erleichtert mir die Heimkehr möglichst, denn Ihr habt keine Ahnung, wie eklig man sich freut! Wie das mit dem Zivilzeug ist, könnt Ihr dort am besten beurteilen; ich bringe jedenfalls nichts mit, da mir, was ich davon mithatte, in Tsingtau gestohlen wurde.
Im Übrigen möchte ich den Schluss dieses letzten Briefes aus der Gefangenschaft dazu benutzen, Euch, liebe Eltern, und Euch, liebe Brüder, für alles Liebe und Gute, was Ihr mir in geistiger wie auch materieller Hinsicht erwiesen habt, herzlichst zu danken. Ich glaube, die Brüder, die ja auch lange genug vom Elternhaus fern waren, verstehen mich, wenn ich nur von Freude über empfangene Post spreche. Ich komme nun bald nach Hause und hoffe, in Kurzem meine ungebrochene Arbeitskraft zur Verfügung stellen zu können, Euch und dem deutschen Volke. Wie stets Euer treuester E.«

Auszüge aus einem Brief vom 26.12.1919 an X.:

»Es ist das letzte Mal, dass ich als Kriegsgefangener schreibe, meinen nächsten Gruss empfängst Du von mir als freiem Mann! Wir haben uns 6 Jahre nicht gesehen, eine lange Zeit, die schon unter gewöhnlichen Umständen besondere Ereignisse zu enthalten pflegt. Nun war der große Krieg, der für uns Deutsche so unglücklich ausgelaufen ist. Dieser Weltkrieg hat uns gelehrt, manches Unerträgliche erträglich zu finden, manches Unmögliche möglich zu machen ... Meinen Geburtstag hoffe ich in der Heimat feiern zu können. Das letzte Mal aus der Gefangenschaft! ...«

Kurume, den 27. Dezember 1919. — Mit der Abschrift dieser Briefe sollte das Buch sein Ende finden, da mir für die Reise ein kleineres Format geeigneter erscheint.
Heute sollte es für immer aus dem Lager weggehen; da kam gestern nachmittag die Nachricht, dass die Abfahrt der Himalaya Maru sich verzögere und dass erst mit dem 31. ab Moji gerechnet werden könne.
Ob dieser Nachricht war große Niedergeschlagenheit! Zwar sitzen wir länger als fünf Jahre hier, und man sollte meinen, dass es auf ein paar Tage nimmer ankäme; aber gerade das Gegenteil ist der Fall, was ja auch erklärlich ist, da es im höchsten Grade ungemütlich ist, nachdem das große Gepäck schon weg ist. So verbringen wir unsere Zeit mit Herumlungern, Essen, Trinken, Schlafen!
Heute ist es mir zum ersten Mal in der langen Gefangenschaft begegnet, dass ich noch im Bett lag, als um 7 Uhr der Trompeter zum Antreten blies, sodass ich ungewaschen zum Appell kam!
Die Rede des Brigadiers hatte übrigens noch ein Nachspiel! Am Abend sagten Zeiss und ich Major von Strantz Lebewohl, der mit 50 Offizieren und 50 Mann mit der Kifuku Maru, dem 2. Dampfer, fährt, da ging die Türe auf und hereintrat – der japanische Hauptmann, hinter ihm Leutnant Dr. Vogt als Dolmetscher. Der Hauptmann fing grinsend an: »I come to say you goodbye!« Hierauf sagte Vogt, dass eine Beschwerde der Division eingelaufen sei, weil keiner der Offiziere auf die doch gewiss freundschaftliche Rede geantwortet habe. Der Hauptmann schlage vor, dass die Herren vor ihrem Weggehen ein paar Zeilen an die Division hinterließen!
So musste unsern Herren noch am Schluss von den Japanern gesagt werden, was Höflichkeit sei, nachdem sie fünf Jahre lang starr und stur das Prinzip der Überlegenheit der weißen über die gelbe Rasse hochgehalten hatten. Wenn es uns hier manchmal dreckig ging, so hatten wir es nicht zum Geringsten unserm damaligen Lagerältesten, dem Major Anders, zu verdanken, der es nicht verstand, mit den Japanern umzugehen. Mit seiner Clique von zehn sogenannten Aufrechten, aktiven Offizieren, glaubte er, den Japanern gegenüber den gleichen Ton anschlagen zu können, wie er seine Rekruten anschnauzte. Die Folge war, dass er nach einem halben Jahr von den Japanern abgesetzt wurde und grollend beiseite stand.
Unter seinen eigenen Offizieren, denen er als »Detachementsführer« alle möglichen Befehle geben zu können glaubte, entstand bald ein großer Zwiespalt. Er stand mit seinen zehn Getreuen bald allein, von dener einer z.B. eine Flasche Bier als Geschenk des Mikado zurückschickte und dafür die Ohrfeige eines japanischen Offiziers einsteckte! Diese Herren hielten sich auch bis zum Ausbruch der Revolution vom Verkehr mit uns, den Mannschaften fern, und es ist noch gar nicht lange her, dass einer dieser Herren, ein Hauptmann Freiherr von Hofenfels – man wird sich den Namen merken müssen! – von den Mannschaften als von Schweinehunden sprach.
Glücklicherweise fahren alle diese Herren nicht mit unserem Dampfer, sondern mit Kifuku Maru; mit uns fahren nur zwölf Offiziere, der Transportführer stammt von einem anderen Lager, da Anders das Vertrauen des Lagers nicht genießt.
Auch von den Feldwebeln fahren die »Gewappelten«, die heute noch, dauernd die Hand an der Mütze, auf den Reserveoffizier spekulieren, mit Kifuku Maru. So hoffe ich, dass wir eine gemütliche Heimreise haben werden trotz Meyer-Waldecks (genannt Sandsack-Meyer!) schrecklichem Disziplinar-Erlaß,8 zumal unser Dampfer das beste und schnellste der drei gecharterten Schiffe sein soll.

Kurume, den 28. Dezember 1919. – Es ist ein recht erbärmliches Gefühl, das einen überkommt, wenn man sich überlegt, dass wir nach dem ursprünglichen Fahrplan eigentlich schon schwimmen sollten. Man sitzt herum, läuft herum, weiß nicht, was man anfangen soll. Man hat sich ein Hemd gepumpt von einem, der hier bleibt, damit man nicht in gar zu dreckigen Lumpen an Bord kommt.
Ich lasse hier eine große Menge guter Freunde und Bekannter zurück:
Da ist Eggersh, der für seine Firma Jebsen & Co hier draußen bleiben muss und bald wieder nach China hineinzukommen hofft, was jetzt noch mit Schwierigkeiten verknüpft zu sein scheint; ein Generalssohn, äußerst begabt, mit freien politischen Ansichten, ein wenig genial-flatterhaft, ein trefflicher Kartenspieler, guter Trinker und glänzender Gesellschafter.
Weiter Gadow, mit jungen Jahren Vertreter von Kalle & Co, Biebrich, für China, wartet auch darauf, dort hineinzukommen, ein gescheiter, energischer Kerl von etlicher Leibesfülle, mit sehr linksstehenden politischen Ansichten, die er mit äußerster Energie verficht, Züchter von Tauben, daher »Täubchen« genannt.
Dann Bernick, ein alter Ostasiate, der in frühen Jahren nach Tsingtau kam, bei Kriegsausbruch in Harbin eine Spritfabrik leitete, etwas schwerfälligen Geistes, grundehrlich und anständig, will wieder nach Harbin.
Zurück bleibt Börstling, ein kluger Kopf, sehr satirisch, mit dem ich mich oft in gutmütiger Weise stritt, da diese satirische Ader uns beiden gemeinsam ist; früher in einem Goldgräbernest in der Nähe von Harbin, sehr gut erzogen und anscheinend sehr vornehmen Eltern in Hamburg entstammend.
Einer der seltsamsten Menschen: »Papa« Gustav Thiel, Vizewachtmeister der Reserve, früher Teetester in Hankau, trotzdem unentwegter Cigarettenraucher; verheiratet, glänzender Mathematiker und schlauer Kopf, Sprachfehler (stottert), hat viel Geld verdient, der beste und anständigste Mensch, den ich kenne; will Urlaub nehmen, um seinen Bruder in Schanghai zu besuchen.
Hauptmann Grabow, Göttinger Braunschweiger, also Kartellbruder, mir gegenüber sehr liebenswürdig, im Lager wegen seiner Unnahbarkeit sehr unbeliebt, kann knauserig sein, dann wieder äußerst freigiebig, sonst Prinzipienreiter; schätzte mich sehr hoch, hielt ihm oft Moralpredigten, weil er manchmal sinnlos trank; fährt mit seiner Frau auf Familiendampfer nach Hause.
Dr. Will, Leutnant der Reserve, Tübinger Schwabe, früher Rechtsanwalt in Tientsin, hervorragender Klavierspieler, Sohn einer Spanierin und eines Deutschen mit allen Vorzügen und Fehlern eines »Mischlings«: sehr klug, liebenswürdig und freigiebig; fürchterlich, wenn er unter dem Einfluß von Alkohol steht, »benimmt sich dann dauernd vorbei«, weiß es und hält daher an sich; hat eine niedliche Frau und zwei hübsche Buben in Tientsin; fährt mit Familientransport.
Karl Vogt, Leutnant der Reserve, Rechtsanwalt in Tokyo, ausgezeichneter Japankenner, hervorragender Dolmetscher, ausgezeichnet musikalisch begabt, Leiter unseres Symphonieorchesters, Komponist trefflicher Lieder, in letzter Zeit leider kränklich; ich zählte (mit Zeiss) zu seinen wenigen näheren Bekannten; hofft auf Urlaub nach Yokohama, fährt mit Familientransport, bringt seinen Sohn (einer Japanerin) nach Deutschland.
Dr. Arthur Bieber, Leutnant der Reserve, früher Eierfabrik in Tsingtau, Gesellschaftslöwe aus Hamburger Senatorenhaus, Burschenschafter, sehr tätig im Lager, Verwalter der Siemens-Schuckert-Gelder, leitende Person am Theater, überall zu haben, wo’s zu »organisieren« gab (Ausstellung), Mitglied der Kapelle (1. Geige), redet ungeheuerlich viel, sehr freigiebig; komme ganz gut mit ihm aus, obwohl ich ihn nicht ganz gut am Theater kritisierte; will Urlaub nach Schanghai, warum, weiß kein Mensch!

Mit Kifuku Maru sind schon weg:
Kuhn, aktiver Oberleutnant, Pfälzer, was man einen feinen Kerl und ein gemütliches Haus nennt; habe sehr oft mit ihm Bridge gespielt, der einzige, von dem ich bedauere, dass er nicht mit Himalaya Maru fährt.
Von Strantz, aktiver Major, mit dem ich eine Zeit lang sehr oft beisammen war, dessen Verkehr ich aber abbrach, weil er sich in einer Sache nach meiner Ansicht nicht so benahm, wie es sich für ihn als Offizier gehört hätte.
Im Übrigen weine ich den Kifuku-Leuten keine Träne nach.
Ich schrieb diese Charakteristik nieder, weil ich weiß, wie schnell man Menschen aus dem Gedächtnis verliert, und weil ich weiß, dass ich mich später umso eher dieser Menschen erinnern werde, die immerhin eine gewisse Rolle in meinem fünfjährigen Gefangenen-Dasein spielten. Nun geht noch eine große Anzahl recht guter Freunde und Bekannter mit mir nach Hause; wenn es also ein Gewinn ist, gute Freunde zu haben, wenn man nach seinen Freunden eingeschätzt wird, dann kann ich mit mir eigentlich zufrieden sein; denn es sind wirklich treffliche, kluge Menschen, mit denen ich beisammen bin. (Ich blähe mich vor Stolz, was mir gar nicht liegt!)

Es sind hier über 1000 Menschen im Lager; da gab es, wie das überall ist, eine Oberschicht und eine Unterschicht. Die Oberschicht bestand ursprünglich aus den Offizieren und solchen Vizefeldwebeln, die dicht vorm Offizier standen. Allmählich aber drängte sich der Reserve-Unteroffizier hinein, sei es infolge seiner materiellen oder geistigen Überlegenheit, und aus der Oberschicht bröckelten einzelne Offiziere ab; schließlich drängte es auch aus den Mannschaften, und zwar erwies sich lediglich die geistige Überlegenheit als vorherrschend. Die bloße Autorität, die auf Titel und Amt beruhte, zog sich grollend zurück, und anerkannt wurde nur der, der in irgendeiner geistigen Form etwas für seine Kameraden leistete.

Es wäre nun der Ort, auch ein kurzes Bild der Kameraden zu entwerfen, mit denen ich gemeinsam nach Hause fahre; aber äußere Umstände halten mich davon ab: Ich habe nämlich kalte Finger! Gestern saß ich den ganzen Tag in Zeiss’ warmer Feldwebelstube, und die Folge war, dass ich von dem Holzkohlendunst am Abend einen solchen Gehirnschmerz (Hibatchi-Schädel!) hatte, dass ich glaubte, der Kopf würde mir platzen – es passierte aber glücklicherweise nichts!
Noch immer ist nicht bestimmt, wann wir reisen werden: Die einen sprechen von morgen; wahrscheinlich wird es übermorgen werden. Ich werde also die berühmten letzten Zeilen in diesem Buche, die ich gestern schon geschrieben zu haben glaubte, erst morgen oder übermorgen hier anbringen.

Kurume, den 29. Dezember 1919. – Schnee in Japan! Es ist, als ob bei uns Palmen wachsen und Apfelsinen reifen würden – der gleiche Widerspruch! Hier, wo man in Häuschen wohnt, die nur durch dünne Bretter und Papierwände von der Außenwelt abgeschlossen sind, wo zwischen Erde und Fußboden der Wind durchpfeift, wo man nichts vom wärmenden Ofen weiß, wo man nur die Hände mühsam über ein paar glimmenden Holzkohlen warm hält, wo Palmen und Bananenstauden im Freien wachsen, wo Mandarinen und Apfelsinen reifen – Schnee, richtiger schneeweißer Schnee!
Die Spatzen vorm Fenster suchen sich kümmerlich die Nahrung, indem sie mit viel Geschimpfe über die viele Arbeit den weißen Teppich mit den Füßchen zerkratzen; der Tannenbaum beugt sich unwillig ob der ungewohnten Last, und jetzt wirbeln gar wieder die weißen Pünktchen in der Luft durcheinander und suchen sich zu fangen und zu haschen in blinder Lust.

Ja, wir haben Schnee, man kann’s nicht leugnen. Aber das ist nichts Echtes, nichts Wahres, nichts so Erhebendes wie ein dicker, deutscher Schnee. Schon fängt es an, sich zu verändern, das weiße Bild da draußen: Hässliche braune Flecken werden in den Teppich gewirkt, und all die festen weißen Pünktchen, die sich in der Luft vergeblich zu paaren versuchten, werden nun eins in hässlichem trüben Wasser. Und vom Dach gegenüber, das noch eine dicke, weiße Decke trägt, beginnt es langsam, zögernd zu tropfen: tack, tack!
Genau so unecht wie dieser Schnee ist das japanische Leben überhaupt: die Menschen, ihre Art sich zu geben, ihre Art andere zu nehmen. Nach außen sind sie höflich bis zur Schmeichelei, innerlich mißtrauisch, scharf beobachtend und hinterlistig. Beispiele könnte ich in Menge nennen; ich kann wohl sagen, dass ich in diesem Punkte hier eine Menge Erfahrungen gesammelt habe!

Aber ich möchte mir diesen – hoffentlich, da es noch immer nicht ganz sicher ist – vorletzten Tag nicht mit trüben Erinnerungen verderben. Wir werden von hier mit dem sicheren Bewusstsein scheiden, die trübste Zeit unseres Lebens verbracht zu haben: Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Wir fahren der Heimat entgegen, einem neuen, völlig veränderten Deutschland. Wir wissen nicht, was wir dort finden werden und können uns nur ein ungefähres Bild machen von dem Hader und Zwiespalt, von der Abgerissenheit und dem Schmutz, die der verlorne Krieg über unser armes Vaterland gebracht haben.
Aber das eine wissen wir, dass nichts auf Erden ewig dauert, dass wie das Glück, so auch das Unglück nicht von steter Dauer ist, dass ein Volk wie das deutsche nicht untergehen kann, solange es selbst beim Gegner Achtung und Furcht gebietet. Schließlich sind wir mit dazu da, den gefallenen Staatskarren wieder mit auf den Weg zu zerren und aus dem Sumpf herauszuziehen. Wenn uns das hier etwas schwer drückt, wenn wir manchmal verzweifeln möchten, so kommt es wohl daher, dass uns greifbare Möglichkeiten und Erfolge fehlen, dass uns vor allem aufmunternder Zuspruch fehlt.

Kurume, den 30. Dezember 1919. – Es ist, als ob der Himmel meine Worte von gestern Lügen strafen wollte: Draußen schneit's und schneit’s und hört nicht auf zu schneien, sodass der Schnee schon höher als 10 Centimeter liegt.
Aber das schafft uns doch keine Weihnachts-Heimkehr-Stimmung; denn »Fürchterliches« hat sich ereignet! Als wir nämlich gestern abend beim Abschiedspunsch saßen, ging die Türe auf, ein Toban streckte den Kopf herein und rief: »Gadow, Büro kommen!« Er fügte hinzu: »Miogonichi kairimas!«, was soviel bedeutet wie »Abreise übermorgen!« Das war ein Schlag in’s Kontor! Also noch einen Tag länger hier, einen Tag später in der Heimat! Noch nie ist mir die Zeit so lang geworden wie diese paar Tage!
Fürchterlich ist dieser Tag mehr hier. Keine Stunde des Jahres des Heils 1919 wird uns hier in Japan geschenkt werden. Wenn alles gut geht, werden wir morgen, Neujahr, im Zug feiern; aber vielleicht kommt heute Abend wieder ein Telegramm, dass die Abfahrt der Himalaya Maru verschoben sei.
Die Leute führen sich auf wie die Kinder.
Ich habe mir vorgenommen, den gestrigen Tag zu wiederholen: jetzt schreiben, dann frühstücken, dann klöhnen, Doppelkopf und Kaffee, gemeinsames Abendessen, abends Abschiedspunsch bei »Papa« Thiel. Wenn es also so weitergeht, wird dieses Buch noch voll, und zu der inneren Berechtigung, ein neues anzufangen, käme die äußere Notwendigkeit.

Kurume, den 31. Dezember 1919. – Morgens in Eile: Hurra ! Es geht los! Der Heimat zu. Heute abend halb 11 Uhr Abfahrt hier! In 10 Wochen hoffe ich zuhause zu sein!
Himalaya Maru ist heute morgen 10 Uhr in Moji!

Nachwort
Das war also unser Gefangenenleben: Erst mehr denn ein halbes Jahr im Tempel Chokoku-ji in Kumamoto, wo wir ein zwar beengtes und ungesundes, aber gewissermaßen freies Dasein führten; dann im Konzentrationslager zu Kurume, wo ein mit Stacheldraht bewehrter Holzzaun uns von der Außenwelt abschirmte. Freilich hatten wir es besser als die Gefangenen im 2. Weltkrieg: Wir wurden nicht misshandelt, hatten immer, wenn auch unregelmäßig, Verbindung mit der Heimat, konnten uns Pakete, sogar Geld von zuhause schicken lassen und – wir hatten immer zu essen, meist besser als in Deutschland!
Aber mehr als fünf Jahre sind eine lange Zeit, in der wir, von gelegentlichen Ausflügen abgesehen, uns selbst überlassen waren. Denn wir durften nicht körperlich arbeiten, außer in einer kurzen Zeitspanne, und mussten uns die kleinen Vorteile, die das Leben ausmachen, mit der Zeit und von Fall zu Fall erst erobern!
Wenn uns jemand gesagt hätte, dass unsere Gefangenschaft über fünf Jahre dauern würde – ich weiß nicht, was dann geschehen wäre: Sicher hätten mehr Leute versucht, auszubrechen, oder sie hätten sich das Leben genommen, das auch so schon bei manchem an einem »seidenen Faden« hing.
Erst warteten wir auf Deutschlands Sieg, dann auf das Ende mit Schrecken, schließlich auf die [Heimreise].
 

Anmerkungen

1. Bei der Lagerzeitung müsste es sich um den »Rufer im Streit« handeln, der von Dr. Karl Vogt täglich verfasst wurde.

2. Die hier angegebenen Zahlen weichen von der Belegungs-Statistik des Lagers Kurume ab.

3. Strantz hatte Anders abgelöst, der von den Japanern nach dem am 18.8.1916 geschilderten Vorfall suspendiert worden war.

4. Siehe die zehnte der von Kluge überlieferten Anekdoten aus dem Lager Kurume.

5. Die Erbitterung über das »Diktat von Versailles« wurde von den meisten Deutschen geteilt, die vom Autor angedeutete Alternative eher nicht.

6. Siehe die umfangreiche Statistik zur ersten und zweiten Umfrage-Runde zu den Reisezielen; viele der Absichtserklärungen wurden freilich nicht Realität.

7. Auszüge, die hier geschilderten Veranstaltungen am 4.12. und 21.12.1919 betreffend, wurden bereits wiedergegeben; sie werden hier gleichwohl im Text belassen, um den Lesefluss nicht zu stören.

8. Es ist unklar, um welchen »Disziplinar-Erlass« es sich hier handelt und wer ihn verfasst hat.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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