Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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»Bericht«

von Erich Fischer

– Teil 7: Im Lager Kurume – die ersten dreieinhalb Jahre [09.06.1915 bis Ende 1918]
 

Hinweise des Redakteurs
 
Der Schweinfurter Erich Fischer hat einen umfangreichen »Bericht« in Tagebuchform hinterlassen, der seine Erlebnisse von der Ausreise nach Tsingtau (1914) bis zur Heimreise aus der Gefangenschaft (1920) beschreibt. Er hat seine Erlebnisse zeitnah notiert und später in Maschinenschrift übertragen.
Die maschinenschriftliche Fassung – fast 300 DIN-A4-Seiten in zwei Bänden – gelangte vor einigen Jahrzehnten in die Sammlung von Walter Jäckisch, der sie mit Hinweisen versah und später dem Redakteur für dessen Projekt zugänglich machte.

In der vorliegenden Fassung hat der Redakteur Zwischenüberschriften eingefügt und zum Teil den Umbruch geändert. Er hat Schreibfehler berichtigt, die Rechtschreibung maßvoll modernisiert, Abkürzungen aufgelöst und sachbezogene Anmerkungen im Text (in [ ]) oder in Fußnoten hinzugefügt; im Übrigen blieb der Text unverändert.

Es erschien zweckmäßig, den Text in neun Teile zu gliedern. Im vorliegenden siebten Teil berichtet der Autor anfangs ausführlich über die Zeit im Lager Kurume, verliert jedoch im Laufe des Jahres 1916 die Lust am Tagebuchschreiben; vielen anderen Chronisten ist es ebenso ergangen. Fischer führt stattdessen zunehmend eine Art »inneren Dialog« und begnügt sich für die Jahre 1917 und 1918 mit ganz wenigen summarischen Eintragungen.
 

Inhaltsübersicht des Redakteurs

  1. Reise nach Ostasien
  2. Vor Beginn der Kämpfe in Tsingtau
  3. Wache und Kampf im Vorgelände
  4. Verteidigung der Festung
  5. Im Tempellager Kumamoto (erste Hälfte)
  6. Im Tempellager Kumamoto (zweite Hälfte)
  7. Im Lager Kurume (1915 bis 1918)
    1. Juni 1915: Abschied von Kumamoto, Einzug in Kurume
    2. Sommer 1915 bis Spätsommer 1916
    3. Sommer 1916 bis Ende 1918
  8. Im Lager Kurume (1919)
  9. Heimreise (1920)

 

a) Juni 1915: Abschied von Kumamoto, Einzug in Kurume

INTERMEZZO (Abschrift eines Briefes an meinen Bruder Günter – damals 16 Jahre alt – für meine Eltern vom 9. 6. 1915)

Am 9. Juni [1915] sind wir also von unserm Kumamoto abgefahren. Die Fahrt war fein, man empfand doch wieder einmal etwas »Freiheit«, wenn auch die japanischen Posten im Wagen daran erinnerten, dass man Kriegsgefangener war.
Bei strömendem Regen marschierten wir durch die Stadt zum Bahnhof; unser Gepäck war schon vorausgeschickt worden.
Die Unterbringung im Zuge war recht ordentlich, wir hatten reichlich Platz in den Durchgangswagen. Die Landschaft konnte man nicht so recht genießen, da dicke Nebel – die Vorläufer der Regenzeit – die Aussicht behinderten. Eine kurze Strecke fuhren wir am Meer entlang, weißt Du, an der Bucht, an der Nagasaki liegt.1

Nach fünfeinhalb-stündiger Fahrt kamen wir um halb 1 Uhr mittags in Kurume an, wo wir von unserm neuen Kommandanten empfangen wurden. In einstündigem Marsch durch Kurume ging's zu unserm neuen Heim, einem nach europäischem Muster eingerichteten Konzentrationslager. Während wir in Kumamoto von unsern Offizieren und Feldwebeln getrennt waren, liegt nun alles zusammen, in einer Baracke die Offiziere, in drei Baracken zu [je] 64 Mann wir Unteroffizere allein, die Vizefeldwebel in kleinen Stuben vor den Mannschaftsbaracken, die zu 80 Mann in einer Baracke liegen. Im ganzen sind hier 1300 Mann untergebracht! Rund um diese 16 Baracken, zu denen noch Küche, Revier, Baderaum kommen, führt ein Bretterzaun.
In den Baracken stehen rechts und links die Betten an den Wänden, wobei soviel Platz ist, dass man ab und zu einen Tisch einschieben kann. Also insofern eine Verbesserung, als wir hier Bettgestelle haben, während wir in Kumamoto unsere Matratzen auf den Fußboden legen mussten.

Kurume, den 17. Juni 1915. – Schon über eine Woche sind wir in unserm neuen »Heim«, und ebenso lange ist es her, dass ich die letzte Eintragung in meinem Tagebuch gemacht habe. Wenn aber die Ereignisse sich drängen, wenn es wirklich etwas zu schreiben gibt, dann hat man entweder keine Zeit oder keine Lust, zum Tagebuch zu greifen. Ich muss daher sehr in meinem Gedächtnis herumkramen, um das Wichtige wiederzufinden, was sich außer unserm Ausmarsch aus Kumamoto ereignet hat.

Bei strömendem Regen zogen wir am 9. Juni 1915 zum Bahnhof Kumamoto, nachdem wir von unserm Tempel einen sehr ergreifenden Abschied genommen hatten: Der Priester, der »alte« Sato-san, war sehr bewegt, der Oku-san (das »u« wird nicht gesprochen, weshalb ich immer »Oksan« geschrieben habe) kamen die Tränen, und die alte Hotschi-Kotschi-san (Hotschio-san = Helferin) gab ihren Segen.
Trotz des ungünstigen Wetters ließen es sich die verschiedenen Oku-sans, Pepin-sans (Mädchen), die sich besonderer platonischer Liebe erfreut hatten, auch die Kaufmanns- und Barbiersfrau, nicht nehmen, uns noch einmal ihr »Sayonara« zuzurufen.
Unser Zug durch das Yokote-Viertel glich also eher einem Triumphzug als einem armseligen Gefangenentransport!
(Ich glaubte, als »Intermezzo« die Schilderung einfügen zu müssen, die ich meinen Eltern bzw. meinem Bruder Günter von der Fahrt Kumamoto–Kurume gab; manches wird daher doppelt erzählt!) Ziemlich durchnässt kamen wir am Bahnhof an, denn die Mäntel waren als lästiges Gepäckstück längst in die Kisten und Koffer verpackt und vorausgeschickt worden.

Wir wurden sehr anständig in Durchgangswagen untergebracht, und zwar alle Gefangenen Kumamotos, also nicht nur wir, sondern auch die Offiziere und die Feldwebel. Um 9 Uhr vormittags setzte sich die Lokomotive in Bewegung, und als wir durch unser Yokote-Viertel fuhren, stand die Tempelstraße voll von winkenden Leuten! Unser Sato-san stand ganz allein im Garten von Tempel II und schwenkte einen großen Tropenhut; die Oku-san durfte nur vom Tempel aus mit weißen Tüchern winken.
Das Verhältnis zwischen Sato-san und Oku-san hatten wir im Laufe unseres Aufenthaltes im Chokoku-ji-Tempel recht europäisiert! Anfangs traute sich die Oku-san in Gegenwart des Sato-san kaum ein Wort zu reden; zum Schluss aber trumpfte sie tüchtig auf, weil wir sie immer unterstützten. Sato-san sah, dass wir sie mit einer gewissen Hochachtung behandelten, nicht wie die japanische Frau, die im Manne nur den Herren und Gebieter zu sehen hat. Als wir, alle Unteroffiziere, uns z.B. in den letzten Tagen mit den Japanern fotografieren ließen, passte es Sato-san garnicht, dass die Oku-san auf die Platte kam. Soviel drückte er, der im großen Ornat anrückte, wenigstens durch, dass die Oku-san nicht neben ihm saß, wie wir es wollten, sondern in einiger Entfernung und tiefer! Auch den Abschiedsgruß wollte uns ja Sato-san ganz allein im Gärtchen stehend zuwinken, während die Oku-san sich ganz bescheiden mit einem Gruß von dem etwas entfernteren Chokoku-ji-Tempel begnügen musste!

Von der schönen Landschaft hatten wir nicht viel. Wir konnten zwar in der Nähe die saftig-grünen jungen Reisfelder bewundern und die üppige Tropenlandschaft, die Ferne war aber in dichten Nebel eingehüllt, den Vorläufer der großen Regenzeit.
Nach einer Stunde Fahrt kamen wir an die See. Ganz besonders überkam einen da die Sehnsucht nach der Freiheit, denn jenseits des Meeres lag sie ja, die »goldene« Freiheit! Doch der Posten mit dem aufgepflanzten Seitengewehr, der jedem Abteil beigegeben war, erinnerte daran, dass man Kriegsgefangener war!
Da die Bahn eingleisig war, hielten wir an jedem kleinen Ort. Es musste sich herumgesprochen haben, dass wir durchfahren würden, denn überall standen Leute, die sich einmal Kriegsgefangene, noch dazu deutsche, besehen wollten.
In einem Fabrikort am Meer war offenbar ein Kohlenbergwerk. Von hier ab wandte sich die Bahn wieder landeinwärts und nach weiteren eineinhalb Stunden erreichten wir unsern Bestimmungsort – Kurume!

»Dicke Luft« war die Parole, besonders als wir sahen, dass die neuen Wachmannschaften [ihre Gewehre] scharf luden! Wir wurden auf einen freien Platz geführt, und unter dauerndem Regen wurden wir Kumamoto-Gefangenen »abgenommen«! Der neue Kommandant, eine Art Generalleutnant, der sich später als Oberst entpuppte, hielt eine lange japanische Rede, in der sehr viel von »ano Kumamoto« und »ano Kurume« vorkam. Ein Dolmetscher übersetzte, und so erfuhren wir, dass dies unsere Begrüßung sein sollte: Aus praktischen Gründen habe sich die japanische Regierung entschlossen, ein Konzentrationslager nach europäischem Muster einzurichten. Wir würden es nicht so angenehm haben wie in Kumamoto, müssten uns aber einleben. Eine starke Verwarnung wegen der Feuersgefahr schloss die Rede.
Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, und in einstündigem Marsch, der uns teilweise durch das Kumamoto ähnelnde Kurume führte, gelangten wir zu unserm neuen »Heim«! Von einem hohen Bretterzaun umgeben, machten die Holzbaracken nicht gerade einen guten Eindruck; es war eben ein Konzentrationslager, in dem vorher vor Tsingtau verwundete Japaner lagen. Man erzählte, das Lager sei »dick« voll gewesen, wohl auch die Kranken dabei!

Wir wurden von Kompanie 1 und Kompanie 3 empfangen, da beide Kompanien aus ihren Lagern in Kurume am Vortage eingezogen waren. Ich traf alte, liebe Bekannte wieder wie Hafels und Kluge, die bereits im September im Adlernest, und Tucher, der irgendwo im Vorgelände verwundet gefangen genommen worden war.
Das erste war natürlich, sich einen möglichst guten Platz zu sichern, nachdem Kompanie 3 und Kompanie 1 bereits den Anfang unserer Baracken 9 und 10 belegt hatten, die für die Unteroffiziere reserviert waren. In unserer Baracke 10 waren 64 Unteroffiziere untergebracht, während in den Mannschaftsräumen 80 Mann lagen. Die Betten standen zu beiden Seiten eines Ganges, der durch die Baracke führte; eines stand neben dem andern, doch konnte man ab und zu einen Tisch einschieben. Ich liege in der Mitte zwischen Eckert und Vollweiler, brauche mich also nicht an neue Nachbarn zu gewöhnen.
Um halb 4 Uhr, bald nach unserer Ankunft, rief uns Major Anders, der rangälteste Offizier auf dem Platz, inmitten der Baracken zusammen und hielt eine kurze Begrüßungsansprache.

Eine kleine Beschreibung unseres Lagers:
Ein Süddeutscher behauptete, die ganze Anlage erinnerte ihn sehr an das Münchener Oktoberfest, womit er nicht ganz Unrecht hatte: Wenn nämlich die verschiedenen Musikkapellen spielen, ist die Illusion vollständig – bis auf das Bier! Denn »Sakura« oder »Kirin« konnten wir zwar auch hier in der Kantine erhalten, aber es war eben kein »Münchener«, wie alles Schund ist, was die Japaner nachmachen!
Man stelle sich einen von einem Bretterzaun umgebenen Platz vor, der 250 m lang und ebenso breit ist. In Abständen von ca. 8 m waren darin auf beiden Seiten je 8 Holzbaracken, die einen mäßig freien Platz umschlossen.
Zu Häupten dieses Platzes, dem Eingang gegenüber, waren kleinere Baracken (Büros, Kammer etc.), daneben, wieder durch einen Platz getrennt, Kantine, Küche und das Badehaus. Gen Westen – die Richtung der Lager war Nord–Süd, Ost–West – des erwähnten Platzes ist eine kleinere Baracke, das [Kranken-] Revier, und damit der »Platz« nicht zu groß wird, war er in der Mitte noch durch einen Gang mit kleinen Holzhäusern getrennt, die als Bibliothek etc. dienen. An der dem Revier zu gelegenen Seite schließt sich eine lange Waschbank mit Wasserpumpe an, sodass der westliche Platz ausgefüllt ist.
Rund an den Baracken vorbei führte um den ganzen Platz eine mäßig breite, durch Wellblech gedeckte »Wandelhalle«, die bei Regen sehr praktisch sein mochte, zumal sie alle Baracken, ausgenommen Kantine, Küche und Badehaus, verband. – So also sah unser Lager aus!

Was die Unterbringung anlangte, so lag rechts von den Büros die Baracke für 60–90 Offiziere, zuerst der Speiseraum und quer dazu die Wohn- und Schlafräume, wenn man überhaupt von »Räumen« sprechen konnte, denn je drei Offiziere hatten eine kleinere, abgeteilte Bude für sich! Für Offiziere war das also eine sehr mäßige Unterbringung. An den Speiseraum der Offiziere schlossen sich die Mannschaftsbaracken [an], an deren Eingang die Stuben für je zwei Feldwebel bzw. Deck-Offiziere lagen. Der Wandelhalle folgend, waren in Baracke 8 die Österreicher mit ihren Maaten von der Kaiserin Elisabeth und in den Baracken 9 und 10, wie erwähnt, wir Unteroffiziere.

In einem solchen Massenbetrieb musste natürlich eine ganz andere Ordnung, ein anderer militärischer Ton herrschen, als er in unserm Tempelleben nötig war. Von diesem Standpunkt aus, vor allem aber von der sanitären Seite her, war die Einrichtung eines Konzentrationslagers zu begrüßen.
Barackenälteste waren Vizefeldwebel und Deckoffiziere, die ein Zwischending zwischen dem Feldwebel und dem Offizier sind und die es nur in der Marine gab. Außerdem hatte ein Portepeeträger, eben ein solcher, den Innen- und Außendienst zusammen mit einem Unteroffizier zu versehen.

Die Sache hatte aber insofern einen Haken, als nach den japanischen Bestimmungen keinerlei Vorgesetztengewalt bestand, auch nicht für Offiziere, die übrigens nur mit besonderer Erlaubnis des japanischen Kommandos mit den Mannschaften verkehren durften.
Wenn also ein Mann sich weigerte, den Befehl eines Unteroffiziers auszuführen, war dieser macht- und rechtlos. Major Anders hielt uns am 11. Juni eine Rede, in der er den Mannschaften auseinanderzusetzen versuchte, unter uns Deutschen bestehe natürlich das alte Vorgesetztenverhältnis weiter. Aber die Leute glaubten ihm nicht, und nur wenige befolgten die Disziplin!
Im Kreise der Unteroffiziere meinte Major Anders, die Japaner wollten es gewissermaßen auf eine Kraftprobe ankommen lassen, wie es mit der berühmten deutschen Disziplin bestellt wäre. Wir sollten jeden Zusammenstoß mit der Mannschaft vermeiden, Befehle nur geben, wenn sie von der japanischen Regierung kämen und im Übrigen einen gröblichen Verstoß ihm durch Protokoll melden, damit die Sache nach dem Krieg in der Heimat verfolgt werde.
Dienst, der von den Japanern verboten ist, wird nicht gemacht, also kommt man mit den Mannschaften kaum zusammen.

Die Behandlung durch die Japaner ist eine viel strengere als in Kumamoto. Vor allem werden die Vorschriften über die Feuersgefahr sehr genau gehandhabt. Rauchen ist nur innerhalb der Baracken und des Platzes erlaubt; beim Rauchen auf dem Bette zu liegen oder zu sitzen, ist streng verboten! (Einer bekam schon strengen Arrest deswegen!)
Früh um 6 Uhr ist Wecken durch einen Hoboisten der japanischen Wache, der viermal sein Signal auf dem »Platz« ertönen lässt; gleich darauf kommt die Wache und bedeutet jedem, der sich noch in der Koje aalt, sehr deutlich, aufzustehen!
Um 7 Uhr bläst es wieder, und zwar zur ersten Musterung: Der Barackenälteste überzeugt sich, ob alles da ist, und meldet dem ältesten Deckoffizier, der von den Japanern Kommandogewalt hat.
Das nächste Mal tutet es um halb 8 Uhr: Kaffeeholen. (Durch gute »Verbindung« ist es uns möglich, heißes Wasser zu bekommen und so unsern Kaffee selbst zu brauen, da der gelieferte Tee oder Kaffee mäßig ist!)
Um 9 Uhr bläst es wieder: Die Mannschaften müssen zum Kartoffelschälen und zum Arbeitsdienst antreten.
Dann ist drei Stunden Ruhe mit dem ekelhaften Geblase, und zwar bis um 12 Uhr: Backschaftshabende zum Essenholen antreten! Das Essen ist hier ganz ordentlich, abwechslungsreich und gut zubereitet, auch reichlich. Nur an Gemüse fehlt es, da es nur Fleisch und Kartoffeln gibt, abends ab und zu Eier.
Um 6 Uhr abends wird man wieder mit Blasen belästigt: Generalmusterung, die von einem japanischen Offizier abgenommen wird; alles hat vor der Baracke anzutreten!
Um halb 7 Uhr gibt es Abendessen!
Die Mannschaften müssen um 9, wir Unteroffiziere um 10, die Offiziere um 11 Uhr schlafen gehen. Eine Patrouille sorgt energisch für die Einhaltung dieser Vorschriften.
Unser Leben wird hier viel eintöniger verlaufen als in Kumamoto. Daher wird es auch für dieses Buch hier weniger geben als – vor allen Dingen zum Schluss – in Kumamoto.

Eine kurze »Chronik« über die Ereignisse der letzten 8 Tage:

Am Freitag feierte J. [?] von der Feldbatterie, die uns gegenüber liegt, seinen Geburtstag und versammelte aus diesem Anlass einen großen Kreis um sich, z.B. sehr viele »alte« Ostasiaten, einen besonderen Menschenschlag, der gern und viel trinkt, vielleicht ein wenig Sport treibt, wobei er nicht viel tut, aber umso mehr »gambelt«! Man klagt sehr viel über diese Leute, die ihr schönes Deutsch mit Englisch mischen, alles besser wissen, die mit einer gewissen Verachtung auf die Leute in der Heimat herabschauen. Es sind die Leute, die seit einem Jahrzehnt und noch länger hier draußen sind und mit denen schwer auszukommen ist.
Aber schließlich ist es auch zu verstehen, da den Leuten für draußen jede geistige Anregung fehlt. Was bleibt dem Unverheirateten anderes als sein Club?
Unter den jungen Leuten ist vieles besser geworden, z.B. ist hier ein Vizefeldwebel, der jedem seiner Reservisten, der in seiner Gegenwart ein englisches Wort gebraucht, einen Tag Arbeitsdienst aufbrummt!

Am Samstag hielt Major Anders die Rede, von der ich schon geschrieben habe. Bemerkenswert ist, dass dazu auch alle Offiziere erscheinen mussten!
Abends war ein Gesangsvortrag des Kumamotoer Gesangvereins.
Sonntag morgen war Konzert der Kapelle der Kompanie 1; die Sache klang sehr nett, da musikkundige Hoboisten mitspielten.
Auf Grund verschiedener Vorkommnisse und Klatschereien hielt Major Anders am Mittwoch nochmals eine Ansprache.
Von unserem sonstigen Leben schreibe ich ein anderes Mal. Vorläufig ist noch ein ziemlicher Krach in unserer Bude. Man sehnt sich ordentlich nach der Ruhe im »Zaubergarten«.

Kurume, den 21. Juni 1915 – Der zweite Sonntag im hiesigen Lager ist vorbei, bemerkenswert nur deswegen, weil ich jetzt ein halber Zivilist bin und einen Schlips am Sonntag trage.
Es scheint mir, als seien wir schon monatelang hier, was wohl daher kommt, dass wir schon um halb 6 Uhr aufstehen und der Tag dadurch so lang wird. Zum Arbeiten bin ich bis jetzt noch nicht gekommen, obwohl wir einen Tisch und zwei aus Kistenbrettern gemachte, tadellose »Klubsessel« haben; aber es fehlt die nötige Ruhe!

Wie gesagt, stehen wir um halb 6 Uhr auf und sausen, nur mit einer kurzen Hose und mit Schuhen bekleidet, um die Baracken. Zwei Mal, aber das war anstrengend, da man nichts mehr gewöhnt ist: die Beine, die Lunge, alles tut weh! Unsere sonstige tägliche Bewegung beschränkt sich auf die Rundgänge um die »Wandelhalle«, wobei ein Rundgang nicht ganz vier Minuten dauert!
Am Abend weiß man nicht, was man anfangen soll; denn die Beleuchtung (12-Watt-Birnen!) ist zum Lesen zu schlecht, und es ist strengstens verboten, Kerzen zu brennen. Zwar ist der Einjährigen-Kamerad Kluge Bibliotheksverwalter und hat dafür einen eigenen Raum zur Verfügung. Dort kommt man aber auch nicht zum Lesen, sondern spielt Karten oder sonst was!

Mit dem Essen können wir sehr zufrieden sein. Es ist recht ordentlich, wodurch wir das Verbot des Hibatchis leicht ertragen können. Aber schade ist es doch, da man mit dem Kochen – oder »Schmirgeln«, wie wir es nannten – ganz aus der Übung kommt.
Am Mittwoch kam ein Paket von Mutter an, abgeschickt am 30. März, also nicht ganz drei Monate unterwegs! Der Inhalt – Gänseleber, Reh-etc.-Paste, Cigaretten, Käse – kam unversehrt und tadellos an!
Auch mit der Postregelung können wir ganz zufrieden sein. Es ist uns Unteroffizieren erlaubt, monatlich zwei Briefe und eine Karte zu schreiben, Mannschaften ein Brief. Das Briefpapier wird von den Japanern geliefert und ist so groß, daß man sich anstrengen muss, um die vier Seiten vollzukriegen. Außerdem darf jeder Bestätigungskarten für Geld und Pakete extra schreiben, ebenso Bestellkarten. Die eingehende Post wird jeden Morgen und Nachmittag verteilt, Pakete werden nach Durchsicht durch die Japaner ausgegeben!

Kurume, den 21. Juni 1915. – Wie jeden Morgen, so ist auch heute wieder eine Reihe von Verboten ausgegeben worden: Es ist verboten, über den Bretterzaun zu schauen und Passanten zuzuwinken; es ist verboten, in den Baracken etwas anderes als die von den Japanern gelieferten Sandalen zu tragen, die außerhalb der Baracken nicht getragen werden dürfen.
Das ist also das »europäisch« eingerichtete Konzentrationslager, in dem die Japaner sich von ihren Ursitten nicht trennen und nicht verstehen können, dass man mit Schuhen im Zimmer herumlaufen kann. Von ihrem Standpunkt aus muss man eben das Verbot zu verstehen suchen, d.h. man sollte eigentlich gar nicht nachdenken, wie Major Anders sagte, sondern auch eine sinnwidrige Vorschrift erfüllen; aber man hat immer Angst, Plattfüße zu kriegen, wenn man immer mit Sandalen einherläuft.
Draußen gießt es, was es nur kann! Wir haben eben die Regenzeit! Die ganzen Tage schon regnet und gewittert es. Ganze Wolken fallen vom Himmel, und das Wasser steht Zentimeter hoch über dem Erdboden – ein Glück, dass unsere Baracken etc. hoch stehen!

Kurume, den 28. Juni 1915 – Es ist ganz natürlich, dass von unserem öden Barackenleben in Kurume weniger zu schreiben ist als in Kumamoto.
Fast jeden Tag wird einer eingesperrt, aber das ist nicht erwähnenswert. Es ist auch nicht der Mühe wert, vom Barackenklatsch zu schreiben, der hier in großer Blüte steht.
Vom Wetter dauernd zu reden, ist langweilig – gestern und vorgestern hat es übrigens nicht geregnet!
Also sehr viel bleibt nicht übrig.

Ich habe schon einmal von dem Verbot geschrieben, Kerzen zu brennen. Nun haben aber die Herren Japaner an den letzten Abenden von 8 bis 9 Uhr für das ganze Lager das Licht ausgedreht. Man vermutete natürlich »Squeeze« oder Schikane; in Wirklichkeit wird es Kurzschluss oder irgendeine Reparatur gewesen sein. Also haben wir einfach Kerzen angezündet; vorläufig geht es ja noch, weil wir in Kumamoto uns einen Vorrat besorgt haben, aber in der hiesigen Kantine dürfen keine verkauft werden!
Noch ein treffliches Verbot: Es ist die Wahrnehmung gemacht worden, dass allenthalben im Lager Kisten, Tische, Stühle gebaut werden; da hierdurch der Platz beschränkt wird – in Wirklichkeit die Übersicht gefährdet wird! – , ist es verboten, sich fernerhin Gebrauchsgegenstände zu zimmern. Das Handwerkszeug ist auf dem Büro abzugeben.
Diese Vorschrift kann man natürlich auch vom Standpunkt der Japaner verstehen, denn sie kennen fast keine Möbel; ein kleines Gestell, der Wandschrank für den Hausaltar und das Kakemono, der Hibatchi und ein paar Kissen sind alles, was man in einem japanischen Zimmer sehen kann. Die Japaner begreifen natürlich nicht, dass wir Europäer etwas mehr brauchen. Wir haben uns schon einen Tisch und, wie erwähnt, zwei bequeme Stühle bauen lassen, sodass wir wenigstens zwischen Fenster und Bett unseren eigenen Platz haben.
Um das Schuh- bzw. Stiefelverbot kümmert sich kein Mensch mehr! Anfangs machten die Japaner den Versuch, es durchzusetzen und schrieben alle Leute auf, die mit unvorschriftsmäßigem Schuhzeug herumliefen; aber es waren anscheinend doch zu viele, da eine Bestrafung bis jetzt nicht erfolgt ist.
Von Vater erhielt ich vorgestern einen Brief mit Zeitungsausschnitten und einer gepressten Schlüsselblume aus Feindesland. Ein Artikel über Japan fehlte; offenbar hat ihn sich der Zensor vom Büro angeeignet! Im Gegensatz zu Kumamoto, wo man für Gedrucktes aller Art kein Interesse zeigte, gibt es hier einen Dolmetscher, der Liebhaber und Sammler aller deutschen Artikel über Japan ist. Dagegen kann man natürlich nichts machen! Übrigens kam der Brief sehr verspätet an, denn er war vom 25. April!

Kurume, den 30. Juni 1915 – Anfangs habe ich das Essen sehr gelobt; aber es ist immer bei den Japanern am Anfang alles schön und gut, später wird es Schund. Wenn die Kantine etwas Neues bringt, ist es herrlich – meist europäische Ware. Der Nachschub besteht dann aus japanischem Mist, der aber für dasselbe gute Geld verkauft wird und bei oberflächlicher Betrachtung aussieht wie die europäische Ware, nur es nicht ist!
Das Essen ist an und für sich noch ordentlich, und es ist nichts dagegen einzuwenden, dass uns das Büchsenfleisch vorgesetzt wird, das die Japaner in Tsingtau erbeutet und für das sie keine Verwendung haben. Aber übel ist es, dass sie unsere Brotportion um die Hälfte gekürzt haben und dass es stattdessen harten Schiffszwieback gibt. Vor allem für die Mannschaften ist es unangenehm, da sie kaum mit dem Brot auskamen. Wir haben uns jetzt aus Moji Schwarzbrot bestellt. Eigentlich ist es kläglich für die Japaner, dass sich die Kriegsgefangenen ihr Brot selbst kaufen müssen!

An dem Schwarzen Brett, das jetzt in unserem Lager angebracht ist, steht zu lesen, dass drei Unteroffiziere fünf Tage und zwei Gefreite drei Tage »Strengarrest« erhielten, weil sie trotz der bestehenden Feuersgefahr bei Kerzenlicht Karten spielten. Dasselbe Schicksal hätte auch uns treffen können; das elektrische Licht brennt zwar jetzt ununterbrochen den ganzen Abend, aber es ist so dunkel, dass wir unmöglich an unserem Tisch lesen können. Kluges Bude ist die einzige, wohin wir uns zurückziehen; aber auch dort herrscht nicht immer die Ruhe, die man nun einmal zum Lesen braucht.
Das Wetter ist etwas besser geworden, zwei Tage hatten wir keinen Regen, was in der Regenzeit etwas heißen will!
 

b) Sommer 1915 bis Sommer 1916

Kurume, den 4. Juli 1915 – Sonntag – ein weiterer Kommentar ist eigentlich überflüssig. Vom Wetter: Regen und Wind! Damit wäre alles Wichtige von heute erzählt!

Gestern rief der Major Kashimura die Unteroffiziere nach Baracke 9 zusammen. Er stellte sich auf einen Tisch, neben sich den Dolmetscher Makino, und sprach ein paar Worte, die Makino mit lauter Stimme und falscher Betonung schlecht übersetzte. Immerhin wirkte alles recht komisch, obwohl der Dolmetscher den Sinn traf. Der Major sagte ungefähr folgendes: Es seien in der letzten Zeit wegen »Vorbeugung der Feuergefahr« Bestrafungen vorgekommen; wir sollten doch alles vermeiden, was Missverständnisse zwischen den japanischen Soldaten und uns hervorrufen könne. Die japanischen Sitten seien von den deutschen grundverschieden, und wenn wir etwas lästig finden, sollten wir es den Japanern sagen lassen; sie wollten uns so gut als möglich behandeln, soweit es die Vorschriften erlaubten!
Wahrscheinlich hat der Major von oben eine Cigarre wegen der vielen Bestrafungen bekommen. Die Schikane der Japaner war auch in letzter Zeit zu toll: Wegen der geringsten Kleinigkeit wurde ein großes Verbot erlassen!
Jedenfalls die schönen Zeiten von Kumamoto sind nun vorüber; man hört und sieht nichts mehr von der Welt, kommt nicht über seinen Bretterzaun hinaus. Früher konnte man wenigstens frei auf die Straße gehen und sah, wenn auch Japaner, so doch menschenähnliche Gebilde; aber jetzt fehlt es fast vollkommen an Anregung, da man sich mit den Bekannten bald ausgesprochen hat.

Das einzige, was uns aufrecht erhält, sind die glänzenden Nachrichten aus der Heimat: Die Russen sind aus Galizien bald draußen, an der doch sicher geschwächten Westfront gibt es Erfolge statt Rückschlägen, vor den Dardanellen gibt es »nichts Neues«! Selbst Reuter bringt jetzt die wahren Siegesnachrichten der Deutschen, wenn er auch alles ein wenig bemäntelt! Aber man hat es nimmer so schwer, zwischen den Zeilen zu lesen. Auf dem Balkan werden sich bald die Völker gegenseitig prügeln, und die Italiener erreichen nichts an der österreichischen Grenze, während ihre Flotte bei den Dardanellen Hiebe beziehen wird!
Von zuhause habe ich Post bekommen und zwar von Vater, Bruder Günter und A. und M., von jener wieder einmal, allerdings zerdrückte, Cigarren; Cigaretten von dieser stehen noch aus. – Von E. habe ich lange nichts mehr erhalten, sie scheint überhaupt recht schreibfaul zu sein!

Kurume, den 22. Juli 1915 – Obwohl wir aus den vier Barackenwänden nicht herauskommen, sozusagen lebendig begraben sind, hätte ich genug zu schreiben, weil sich bei 1300 Leuten fast täglich etwas ereignet, was erwähnenswert wäre.Aber sei es die Hitze oder sonst etwas – ich habe sehr, sehr wenig Lust zum Schreiben!
Nach den Regenwochen haben wir nun seit fast drei Wochen eine ordentliche Hitze, 50 bis 55 Grad ist so die Durchschnittstemperatur unter Mittag in unserer Baracke. Infolge der Hitze ist auch der Durst sehr groß, und ich gebe allerlei Geld für Bier und Hirano-Wasser aus. Wir sehnen uns nach einer schönen, kühlen »Weißen mit Schuss« oder einem kalten Schorle-Morle! Das Getränk ist zwar auch kalt, da es in der Kantine Eis gibt, aber man bekommt das Bier satt, dessen Qualität immer schlechter wird, weil die guten Rohstoffe fehlen! Man ist eben Kriegsgefangener!
Auch Fruchteis ist in der Kantine zu haben. Ich weiß zwar nicht, woraus es hergestellt wird, aber man isst es in Ermangelung von etwas Besserem!

Gestern gaben die Offiziere ein Konzert, zu dem die Vizes und die Unteroffiziere eingeladen waren; die Mannschaften durften sich die Sache im Gang vor den Fenstern anhören! Eine Stunde vor Beginn wurden wir Unteroffiziere ausgeladen, da angeblich kein Platz in der Baracke vorhanden sei. Zum Zuhören stünde uns der auf der anderen Seite liegende Tennisplatz zur Verfügung; aber wir müssten die Schuhe ausziehen, damit Boden und Striche nicht vertreten werden! Wofür wir ergebenst gedankt haben!

Neulich kamen für mich aus Deutschland zwei Pakete an: von C. und von Mutter mit Süßigkeiten, Cigaretten etc. Ich habe mich selten so wie an diesem Tage gefreut.
Die meisten Briefe bekomme ich von meinem Vater, der auch interessante Fotografien beilegt, z.B. gestern, wie er mit Oberst Mayerhofer vor seinem Schloss in Belgien steht; beide sind mit einem Sektglas bewaffnet, bei dessen Anblick ich ordentlich neidisch werde!
Von E. habe ich immer noch keine Nachricht!

Kurume, den 25. Juli 1915 – Gestern fand die Beisetzung des am 21. Juli nachts verstorbenen Vizefeldwebels der Reserve Dr. Emoan statt. Er war in Goehsheim bei Schweinfurt geboren und starb an einer Eiterkrankheit, die er sich schon früher zugezogen haben musste. Um 4 Uhr ging der Trauerzug hier ab: der Sängerchor, dann die Urne, Kranzträger, Offiziere, Vizes, die ganze vierte Kompagnie und seine Bekannten.
Zum ersten Mal seit sechs Wochen kamen wir aus unserem Bretterzaun heraus. Ich muss offen gestehen, ich hatte nicht so recht das Gefühl, einem Leichenbegängnis beizuwohnen als die Freude, wieder einmal die Natur bewundern zu können.
Eine Stunde zogen wir so dahin durch verschiedene Dörfer, bis wir zum sehr hübsch am Abhang eines Hügels gelegenen Militärfriedhof kamen. Am Grabe hielt ein Vizefeldwebel der Reserve, von Beruf Missionar, eine kaum christlich angehauchte Rede; der Verstorbene hatte nämlich noch in den letzten Tagen den Beistand des katholischen französischen Paters abgewiesen. Dann hielt der japanische Oberleutnant eine sehr gute, kurze Rede und schließlich Major Anders. Ein Vortrag des Sängerchors, der die Feier eröffnet hatte, schloß die Beisetzung.
Mit einem tüchtigen Hunger kamen wir nach Hause, und es war wohl etwas unchristlich, nach der Feier daran zu denken – aber es war so!

Kurume, den 29. Juli 1915 – Endlich gibt es wieder einmal etwas Neues!
Das Essen ist miserabel: Tag für Tag gibt es »Blechochsen« (corned beef) mit Dörrkartoffeln. Das kann man sehr gut ab und zu mal essen, aber täglich ist es eine ziemliche Zumutung! Außerdem haben wir neulich Maden in der Suppe festgestellt!
In letzter Zeit half sich unsere Backschaft, d.h. der Tisch, an dem wir acht von der Reserve essen, dadurch, dass wir von der Feldwebelküche Essen holen lassen; das kostet zwar jedes Mal 50 Sen; aber wir werden wenigstens satt!
Gestern ist nun den Mannschaften die Geduld gerissen: Sie haben kein Essen geholt und den paar Leuten, die Essen holen wollten, das Essen ausgeschüttet. Der japanische Leutnant kam, die Wache kam, große Volksversammlung. Major Anders wurde gerufen und nun will ich sehen, was wird!
Auch gab es gestern Briefpapier für den Monat August: Statt 24 Zeilen hat jetzt jede Seite nur 15 Zeilen, was für die Japaner bezeichnend ist: Erst ist alles schön und gut, dann faul!
In der vergangenen Woche waren verschiedene Revisionen, u.a. ist es verboten, in der Baracke eigene Tische aufzustellen – warum? Schikane?!

Gestern hat es seit Wochen zum ersten Mal geregnet, ein kleines Gewitter ging nieder, das keine Abkühlung brachte; denn wir haben in der Baracke immer 52 bis 55 Grad, eine schwüle Hitze, bei der uns selbst dann der Schweiß aus den Poren bricht, wenn wir halb nackt auf den Betten liegen. Infolge der Hitze hat man zu nichts Lust. Jetzt sind wir doch froh, dass wir nicht mehr in Kumamoto sind, wo es wahrscheinlich bedeutend heißer wäre.
Die Nachrichten von zuhause sind glänzend. Obwohl der deutsche Überseedienst nicht funktioniert, erfahren wir die Wahrheit, da Reuter die deutschen Berichte bringt: »The Germans claim ....!« – Wann fällt Warschau?!

Kurume, den 9. August 1915 – In den letzten Tagen sind die Pakete hier angekommen, die im Februar/März zuhause abgeschickt worden waren. Wo sie liegen blieben, wird natürlich nicht an den Tag kommen, ob in Genf oder in Moji, wie behauptet wird, ob das Gerücht sich bewahrheitet, dass die Pakete auf einem italienischen Dampfer waren, wo sie von einem Franzosen beschlagnahmt wurden. Jedenfalls sind die Pakete hier, und der Zustand lässt sehr zu wünschen übrig, soweit es sich um verderbliche Dinge handelt: Würmer, Maden und Feuchtigkeit haben das ihre getan, um die Leckereien aus der Heimat unbrauchbar zu machen; nur was verlötet war, ist gut angekommen.
So habe auch ich längst aufgegebene Pakete bekommen, drei von Mutter, je eines von E. und v. B. Bis auf die Süßigkeiten und die Schokolade war alles in Ordnung!

Am 5. August fiel Warschau! Diese Freudenbotschaft hatte in unserem Lager einige Folgen. Als nämlich am 6. August mittags die Meldung gekommen war, war in der Kantine das Sakurabier bald ausverkauft, und abends wurden Siegesfeste gefeiert. Wir Einjährigen Hafels, Kluge, Tucher, Stegemann, ich und Eckert hatten verabredet, ein Schinkenessen mit Spargel und Bier zu veranstalten. Wir waren nicht sehr angeheitert, als wir um einviertel 11 Uhr in die Falle krochen. In der Baracke nebenan aber hatten die Unteroffiziere um 10 Uhr noch nicht genug, und im Dunkeln spielte das Grammophon immer und immer wieder den Radetzky-Marsch. Der Barackenälteste brachte ein Hoch auf die Kameraden im Felde aus, das Deutschland-Lied wurde gesungen – und schon kam die Wache und der diensthabende japanische Oberleutnant! Das Grammophon wurde konfisziert, Krach wurde geschlagen, wobei von deutscher Seite das japanische Schimpfwort »baka« (Esel!) und anderes mehr gefallen sein soll.
Am andern Morgen, einem Sonntag, war große Untersuchung, bei der natürlich nichts herauskam.

Beim Seebataillon waren wir acht Einjährige: Außer den fünf Einjährigen, die auf oben namentlich genannt sind, waren es noch Gadebusch und Richter von der ersten Kompanie, die meist mit ihren Unteroffizieren und Vizes verkehrten. Dann war da noch als achter ein gewisser Härtle von der dritten Kompanie, sodass wir alle acht im Lager Kurume untergebracht waren und die Belagerung von Tsingtau gut überstanden hatten – im Gegensatz zu den Einjährigen der Matrosenartillerie, von denen drei gefallen waren.

Aber mit Härtle, der das Deutsch mit einem gewissen Akzent sprach, hatte es eine eigene Bewandtnis: In Tsingtau hatte er uns erzählt, dass sein Vater ein großes Gut bei Posen, das damals deutsch war, besaß, dass er von einer französischen Gouvernante erzogen sei und dass einer seiner Brüder in der russischen Armee als Offizier diente – wie Härtle dann zum Seebataillon kam, blieb uns schleierhaft!
Als wir nach Kurume kamen, sagten uns unsere Kameraden, mit Härtle, der übrigens bei seiner Kompanie eine schlechte Rolle gespielt hatte, könne man nicht mehr verkehren, da er sich als »Pole« entpuppt habe!
Tatsächlich hatte er sich schon 1915 den Japanern als solcher geoffenbart, die ihm eine eigene Stube gaben und ihn wahrscheinlich als Lagerspion benützen wollten. Aber sie hatten nicht mit den deutschen Mannschaften gerechnet: Bei Tage konnte sich Härtle kaum blicken lassen, ohne herumgestoßen zu werden, und bei Nacht erschien der »Heilige Geist«! Die Japaner, die sich seiner vielleicht ein bißchen geschämt haben, wollten und konnten keinen Schutz für Härtle stellen, und so verschwand er eines Tages im Juli 1915 aus dem Lager – stillschweigend. Es hieß, dass er irgendwo ein Häuschen bekam; sicher ist, dass er nach dem Versailler Frieden Mitte 1919 entlassen wurde, wie alle, die damals gegen Deutschland optierten. Er kam zur polnischen Botschaft nach Tokyo – ein Kamerad behauptete, er habe ihn dort später einmal auf der Straße gesehen.

Befehl: Es verlässt bis auf Weiteres niemand die Baracke! Am Eingang und den Seiten wurden Posten aufgestellt, was aber Tucher nicht hinderte, durchs Fenster zu uns zu kommen und einen Tarock mit uns zu spielen. Nur gestern abend war er etwas im Druck, weil der Posten Lunte gerochen hatte, als er zu seiner Baracke schlich; es ging aber noch einmal gut! Gleichzeitig wurde die japanische Zeitung verboten, aus der des Japanischen kundige Leutnant der Reserve Vogt (Rechts- und Patentanwalt in Tokyo) immer die neuesten Meldungen übersetzt und uns durch den »Rufer im Streit« bekanntgegeben hatte. So hatten wir Meldungen aus der Heimat meist schon in 24 Stunden, und zwar amtliche Berichte aus Berlin, die das Telegraphenbüro »Asahi« brachte ! Nun müssen wir einen Tag länger warten, bis der »Japan Chronicle« aus Kobe kommt.

Das Essen ist nach dem kürzlichen Hungerstreik besser geworden. Ich habe mit Eckert zusammen ein Abonnement in der Feldwebelküche genommen, wo wir für 60 sen täglich ein ausgezeichnetes Mittag- und Abendessen bekommen. Wir haben nur eine Portion, die für zwei ausreicht, so haben wir wenigstens eine kräftige Suppe, mehr Gemüse und sogar Geflügel. Die Zubereitung lässt nichts zu wünschen übrig.
Das Wetter hat sich nach dem großen Taifun, der in Shanghai großen Schaden angerichtet hat, geändert: Es ist kühler und regnerisch geworden, was wir nicht als unangenehm empfinden. Sehr hart ist es für uns, dass wir nicht aus unserem Bretterzaun herauskommen. Um uns Bewegung zu machen, laufen wir um dreiviertel 6 Uhr um die Baracken. Die Höchstleistung war bis jetzt 7-mal, was ungefähr einem km entspricht. Man kommt dabei tüchtig in Schweiß, und das träge Blut gerät in Wallung.

Sonst gibt es wenig Neues, es sei denn, dass es ein Ereignis ist, dass ich von unserem Einjährigen-Offizier, Hauptmann Rotenberg, mit den andern Einjährigen zu einem Bierabend eingeladen war. Es ist zwar verboten, die Offiziere zu besuchen, aber wenn man einzeln geht, fällt es weiter nicht auf. Wir rückten sogar erst um 11 Uhr in unsere Quartiere, was schlimme Folgen hätte haben können, wenn wir einer Patrouille in die Hände gelaufen wären!
Um 11 Uhr heißt es bekanntlich auch bei den Offizieren: Licht aus! Übrigens schimpfen sie gewaltig, weil sie zu eng untergebracht wären; sie hätten eine Beschwerde bei der amerikanischen Gesandtschaft eingereicht, aber nichts gehört, mit anderen Worten: der Brief wurde unterdrückt.2
Tatsächlich macht die Offiziers-Baracke den Eindruck eines Pferdestalls!
Eben wird bekannt, dass bei den Offizieren große Haussuchung veranstaltet wird, wahrscheinlich weil gestern aus dem Büro eine japanische Zeitung verschwunden ist ?! – Es wird immer schlimmer!

Kurume, den 22. August 1915 – Heute vor einem Jahr begann unser »ruhmreicher« Feldzug im Vorgelände: Um 5 Uhr nachmittags marschierten wir nach Schantungtu, und erst am 28. September 1914 kamen wir hinter das Drahtverhau nach Tsingtau!
Am 18. August wurde der Geburtstag Kaiser Franz Josefs von Österreich gefeiert. Eingeleitet wurde der Tag in unserer Baracke mit einem Ständchen – aber es galt nicht Kaiser Franz, sondern Conny Meyer von der Feldbatterie, der die Ehre hat, am selben Tag Geburtstag zu haben.
Um 9 Uhr war in der Österreicher-Baracke Gottesdienst des katholischen französischen Pfarrers, anschließend war Frühkonzert der Lagerkapelle.
Im Hofraum gegenüber dem Eingang zum Büro ist nämlich eine überdachte Bühne errichtet worden mit Vorhang und Kulissen, die von Künstlerhand bemalt sind und sehr hübsch aussehen. Dort finden von jetzt ab sonntags die Konzerte statt, und ab und zu sollen Aufführungen stattfinden.
Im Anschluss an das Konzert gab Meyer ein Geburtstagfrühstück, bei dem es recht lustig zuging.

Abends war die eigentliche Feier des Geburtstages von Kaiser Franz Josef. Zwar spielte nicht die Lagerkapelle, die es zu einer gewissen künstlerischen Vollendung gebracht [hatte] und deren Quartett, aus Berufsmusikern bestehend, meist Haydn, Mozart und Beethoven recht ordentlich spielt, sondern die österreichische Kapelle gab auswendig auf selbstgefertigten Instrumenten heimatliche Lieder zum Besten. So ein Walzer oder Marsch klang ganz anders als von unserer Lagerkapelle, der für solche Musik der richtige Schwung abgeht.
Ein Theaterstück und ein lebendes Bild, nämlich die Germania, vor der sich ein Österreicher und ein Seesoldat die Hände reichten, sorgten dafür, dass Auge und Ohr gleichmäßig befriedigt wurden.
Am Schluss des Programmes stand, dass Ovationen nicht erlaubt seien und dass also auch keine Nationalhymnen gesungen werden durften. Stühle und Getränke mussten wir selbst mitbringen, Eintritt wurde nicht verlangt.
Den Offizieren war offiziell die Teilnahme an der Feier nicht erlaubt; sie hörten vom Hintergrund aus zu.

Gestern morgen um 6 Uhr wurden wir Feldwebel und Unteroffiziere ausgeführt, zum ersten Mal seit zwei Monaten! Es sollen von jetzt ab regelmäßig Spaziergänge unternommen werden, und zwar zwei bis drei Mal im Monat! Das wäre sehr schön, da nichts unerträglicher ist als das ewige Einerlei!
Erst gingen wir den Weg wie bei der Beisetzung Dr. Emoans, dann bogen wir in einem Dorf rechts ab und kamen zu einem reizend gelegenen Schildkröten- und Goldfischteich. Unter Goldfischen stellt man sich bei uns kleine und zierliche Fischlein vor; hier aber waren Tiere größer und dicker als Karpfen. Sogleich hub ein großes Futtern an, und die Tierchen stürzten sich mit einer Wut auf das Futter, dass man annehmen musste, sie bekämen sonst recht wenig von dem köstlichen Gebäck; aber sie sind wohl immer so gefräßig! Die Futterpreise stiegen sofort um 100 %, nämlich von 1 sen auf 2 sen! Nach einer kurzen Rast marschierten wir weiter, einen Hügel hinan. Rechts und links vom Wege waren riesenhafte Bäume, eine Cedernart, schlank gewachsen wie mit dem Lineal gezogen, und Kampferbäume. Es war zwar nicht sehr heiß – was man eben in der hiesigen Gegend unter »heiß« versteht! – , aber der Schweiß rann in Strömen! Trotz des morgendlichen Laufschrittes ist man eben das Bergsteigen nicht mehr gewöhnt. Es war eine Lust, in der frischen, freien Waldluft zu steigen!

Kurume, den 13. September 1915 – Seit dem 22. August ist schon so viel Zeit vergangen, dass ich nur ganz kurz auf den letzten Spaziergang zurückgekommen kann: Wir kamen zu einem Tempel, der wunderhübsch im Walde auf einem Hügel lag, sonst aber die übliche Form zeigte: geschweifte Dächer, Holzschnitzereien an den Dachraufen. Sonst war er einfach, aber von einem wenig schönen roten Zaun umgeben. Ein hübsches Gewässer und die niedliche Wohnung des Priesters mit Ausblick auf die Ebene von Kurume vervollständigten den japanischen Charakter. Auch eine chinesische »Kugelspritze«, der Vorgänger des Maschinengewehrs, war zu sehen, ein paar Granaten und ein Wunderpferd à la Wunderaffe in Kumamoto-Himeji [?]. Wir unternahmen einen kleinen Abstecher weit in den Wald hinein und kamen uns so »frei« vor! Gegen 11 Uhr kamen wir ins Lager zurück, nachdem wir vorher noch bei einem Pferdetempel Rast gemacht hatten.
Seit dieser Zeit haben wir keinen Ausflug mehr gemacht, nur einmal sind wir inkognito mit Baracke 3 spazieren gegangen, aber nicht weit, nur zu einem Tempel, wo wir zwei Stunden herumsaßen.
Gestern hat ein Mann, entgegen dem japanischen Verbot, im Kurume-Fluss gebadet; die Folge ist, daß das Ausführen bis auf Weiteres aufhört! – Kommentar überflüssig!
Wo so viele Leute auf einem beschränkten Platz beisammen sind, wird natürlich auch sehr viel geklatscht, und dieser Lagerklatsch allein würde genügen, um täglich mehrere Seiten zu füllen, aber ich habe keine Lust, mehr zu schreiben – vielleicht ist es Übermüdung –, obwohl es ganz interessant wäre, das eine oder andere später einmal zu lesen.

Womit ich mich beschäftige? Zunächst mit meinen alten Rechts-Studien; ich weihe nämlich Eckert in die Geheimnisse des Handelsrechts ein, und es macht mir viel Spaß, bei meinen Vorbereitungen zur Stunde alte Erinnerungen wieder aufzufrischen. Was ich längst vergessen wähne, kommt durch Nachdenken wieder ins Gedächtnis zurück, und ich bemerke mit Vergnügen, dass der Gehirnkasten nicht so eingerostet ist, wie es den Anschein hat.
Dann mit Lesen: ab und zu eines englischen Buches, der Zeitung »China Press«, die leider immer mehr zu den Engländern überschwenkt, von denen sie aufgekauft sein soll, auch von deutschen Zeitungen und Büchern.

Neulich las ich ein sehr gutes Buch, das die japanischen Verhältnisse treffend schildert: »Madame Pflaumes 3. Jugend«. Es ist zwar von einem Franzosen, Pierre Loti, aber doch gut geschrieben. Gerade aus diesem Buch habe ich ersehen, dass wir doch schon viele Sitten und und Gebräuche der Japaner kennengelernt haben, obwohl wir nur Kriegsgefangene sind. Der ganze Zauber, die ganze Mystik des japanischen Volkslebens liegt ja in ihrem eigentümlichen Familienleben, in ihrer Religion, den Tempeln. Gerade davon haben wir bei unserem Sato-san viel gesehen. Man nehme den Japanern diesen Zauber, die wunderhübsche Kleidung, die übertriebene Höflichkeit, die luftigen, kühlen, aber doch gemütlichen Räume, man umgebe sie mit den neuesten Errungenschaften amerikanischer »Kultur« – was dann übrig bleibt, das lese man bei Pierre Loti nach! Was er vor zehn Jahren in der Großstadt Nagasaki festgestellt hat, konnten wir in der Kleinstadt Kumamoto konstatieren: Die Bewohner haben wohl europäische »Zivilisation« angenommen, aber nur, was praktisch ist. Sonst ist der Japaner bei seiner alten Kleidung – Kleider machen Sitten! – und Sitten geblieben.
Nur selten sahen wir in Kumamoto einen Japaner in europäischer Kleidung, Frauen überhaupt nicht. Wie würden auch die niedlichen kleinen Schulmädchen in ihren weiten Gewändern aussehen, mit den Holzpantoffeln, auf denen sie einhertrippeln, wenn sie sich schnüren würden, wie man bei uns zuhause tut! Aller Zauber wäre dahin, und übrig bliebe nur ein gelbes, hässliches Fratzengesicht, denn hübsch sind nach unsern Schönheitsbegriffen nur wenige Japanerinnen!

Kurume, den 27. September 1915 – Allerlei Schönes gibt es wieder zu vermelden!
Neulich erschien folgender Anschlag: »Auf Befehl des japanischen Divisionskommandos finden bis auf Weiteres keine Aufführungen mehr statt!« Warum das einzige Vergnügen, das man außer der Musik noch hat, verboten wird, weiß kein Mensch. Denn zuhause werden die Bestrebungen der Kriegsgefangenen, sich zu zerstreuen, nach Möglichkeit gefördert, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, die Eintönigkeit des Lagerlebens zu verscheuchen. Der Japaner geht eben von dem Grundsatz aus, dass Gefangenschaft eine Strafe sei und daher die Leute entsprechend behandelt werden müssten. Theateraufführungen sind ein Vergnügen, das nach Möglichkeit beschränkt werden muss.
Auf Vorstellungen von Major Anders sind die Aufführungen einmal monatlich gestattet, wenn nichts vorfällt.

In der »Kölnischen Zeitung« vom 31. August ist ein Artikel über die Verhältnisse in den japanischen Gefangenenlagern, besonders in dem hiesigen, nicht in rosiger Weise, sondern so wie sie wirklich sind. Es ist die Rede von den vielen kleinen Launen und heimtückischen Schikanen der Japaner, mit denen sie uns das Leben verbittern.
Wie dieser Brief nach Deutschland gekommen ist, ist mir ein Rätsel. Es ist nur zu hoffen, dass durch solche Veröffentlichungen die Meinung über die japanische Ritterlichkeit verschwindet. Schreibt man hier etwas Nachteiliges über die Japaner, so wird der Brief zurückbehalten; wahre Berichte können also nur durchgeschmuggelt werden.
Heute abend, am Vorabend [des Jahrestags] der Rückzugsschlacht in Tsingtau, sind wir Unteroffiziere des 3. Zuges von Kompanie 4 durch Hauptmann Zimmermann und Leutnant Mohr zu einem Bierabend eingeladen.

Kurume, den 5. Oktober 1915 – Nach fast vier Monaten habe ich von E. zwei Briefe bekommen. Da sie sich auf frühere Briefe bezieht, muss ich annehmen, dass sie verloren gegangen sind.
Vater soll das Eiserne Kreuz erhalten haben – für Kriegsverdienst? Vielleicht ist er an der Front und schon bei der Abwehr des großen französischen Durchbruchsversuches beteiligt gewesen!

Das sind so Sorgen, die man hier hat! Nun ist auch noch alle Aussicht vorhanden, dass die Deutschlandpost zurückgehalten wird, wozu die Japaner das Recht hätten.
Das Lager ist nämlich in großer Aufregung, weil vor drei bis vier Tagen vier Leute ausgekniffen sind, von denen drei bereits gestern nachmittag wieder eingebracht wurden. Sie waren sinn- und planlos über den Zaun gesprungen und hofften, irgendwo die Küste in Japan zu erwischen. Diesen Leuten gehört eine Tracht Prügel, weil die Aussichtslosigkeit ihres Unternehmens von vornherein besteht und durch solche Scherze nur das Los der zurückbleibenden Kameraden verschlechtert wird.
Der vierte, ein Deckoffizier, soll die Sache besser angefangen haben. Er soll Papiere, einen Führer gehabt haben, und was alles erzählt wird. Jedenfalls – heute Morgen haben sie auch ihn wieder herangeführt!
Es ist schon richtig, was der japanische Oberleutnant sagte: »Wer hier auszukneifen sucht, ist verrückt!« Der Rassenunterschied ist zu groß, und man erkennt den Ausländer auf 100 Schritte; jeder Ausländer ist hier bekannt und wird beobachtet. Außerdem ist Japan in der glücklichen Lage, ein Inselreich zu sein; wer also weg will, muss einen Dampfer erwischen, was bei der scharfen Kontrolle der Hafenpolizei allein schon ein Kunststück ist.
Man sagt, der Deckoffizier sei in der Nähe aufgegriffen worden, als er reumütig zum Lager zurückkommen wollte.

Aber das alles war bis auf eine nächtliche Zählung, als zwei Betten leer gefunden wurden, nicht aufregend!
Aufregender war folgendes: Gestern nachmittag schlug ein Mann den kleinen Büroboy, der ihm, mit Recht oder Unrecht, den Pumpenschwengel aus der Hand nehmen wollte. Dies sah ein japanischer Offizier, der in Hemdsärmeln am Fenster saß; er sprang zum Fenster hinaus und suchte den Soldaten zu verhauen, der, nicht faul, dem Offizier ein paar hinter die Ohren schlug, die nicht von Pappe gewesen sein sollen. Die in der Nähe gelegene Wache kam mit sechs Leuten zu Hilfe, vermöbelte den Soldaten und nahm ihn fest. Als dann um 6 Uhr Appell war, trat keiner der Mannschaften an, und der Leutnant musste seinen Rundgang ergebnislos machen.
»Barackenälteste aufs Büro, sofort antreten lassen!« Sechs Mann der Wache mit scharfgeladenem Gewehr sollten die Leute aus den Baracken treiben, was gar nicht nötig war, da alles antrat; denn vor dem Stecheisen hat man eben Respekt, und so ein Gewehrchen könnte mal aus Versehen losgehen. Wir standen also da und harrten der Dinge, die da kommen sollten – und die kamen! Nämlich in Gestalt von zwei Kompanien Soldaten, die sich übers ganze Lager verteilten, es durchsuchten und auf ein Trompetensignal hin die Barackenein- und -ausgänge bewachten. Dann fing ein eifriges Zählen an, nach dessen Beendigung wir wegtreten durften. Das Ganze dauerte eineinhalb Stunden.
Mein Urteil: Es ist haarsträubender Blödsinn, von solchen Mitteln Gebrauch zu machen, um von den Japanern etwas zu erreichen. Die Mannschaften gehen von dem Grundsatz aus, dass sie es nicht schlechter haben könnten, als sie es haben; aber das ist falsch, da es viele kleine Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten gibt, die uns genommen werden könnten und die uns das Leben noch eintöniger und verzweifelter machen.
Die Macht ist ja bei den Japanern! Je energischer der geleistete Widerstand ist, desto härtere Maßregeln werden ergriffen. Es sind immer ein paar Querköpfe, die den andern ihre Dummheiten einreden. Zum Beispiel lief gestern einer im Lager herum und las ein Schreiben vor, in dem ein »Kantinenstreik« befohlen wird! Unterschrift: »Boykott-Kommittee!« »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!« oder »Fest steht und treu die Wacht am Rhein!«, wie geschmackvoller Weise die Mannschaften der 4. Kompanie bei dem missglückten Appellstreik anzustimmen versuchten!

Heute Nacht hat ein Lausbube das Billardtuch zerschnitten – wen schädigt er damit? Nur seine eigenen Kameraden, die nicht mehr spielen können, während der Japaner auf Kosten der Liebesgabengelder ein neues Billardtuch bekommt!
Post gibt es natürlich keine; die Briefkästen sind zugeklebt. Außerdem soll es 3 Tage Barackenarrest bei Tee und Brot geben!
Wenn man die Schuldfrage allgemein erörtert, so muss man ohne Weiteres zugeben, dass die falsche Behandlung der Japaner viel zu solchen Dingen beigetragen hat. Was sollen denn die Leute den ganzen Tag anfangen? Sie müssen auf dumme Gedanken kommen! Von 6 Uhr ab müssen die Mannschaften herumlungern, weil die Beleuchtung so schlecht ist, dass in den Baracken einer kaum Kartenspielen, geschweige denn lesen kann!
Und das alles ereignet sich, wo zuhause die schwersten Kämpfe im Westen toben, wo um Sein oder Nichtsein gekämpft wird. Muss man bei diesen Gedanken nicht schamrot werden?!

Kurume, den 12. Oktober 1915. – Der »Aufruhr« vom 4. Oktober hat ganz andere Folgen gezeitigt, als man hätte annehmen sollen. Der Oberstleutnant rief nämlich anderntags die Barackenältesten zusammen und hielt ihnen eine große Rede: Die Insubordination sei bedauerlich, aber er wolle sie vergessen, wie auch wir sie vergessen sollten. Wenn wir wieder über etwas zu klagen hätten, sollten wir uns an ihn wenden und nicht durch Streiks und dergleichen etwas zu erzwingen hoffen. Der Mann, der den Offizier geschlagen hatte, würde möglichst milde bestraft, er bekam 7 Tage Arrest; der Offizier habe vom japanischen Standpunkt aus recht gehandelt, da den Vorgesetzten das Schlagen nicht verboten sei. Im Übrigen trete keinerlei Bestrafung ein, Post gäbe es wie immer, und die Ausflüge würden auch nicht beschränkt!
Der »entflohene« Obersteuermann wurde zu 30 Tagen strengem Arrest verurteilt, weil er wieder im Begriff war, zum Lager zurückzukehren; über die drei anderen Gefangenen findet das Kriegsgericht noch statt!

Wenn man nach den Motiven sucht, warum die Japaner mit solcher Milde vorgegangen sind, während man bei uns in diesem Fällen ganz anders eingeschritten wäre, so muss man zu dem Schluss kommen, dass eben die Japaner doch ein ganz klein wenig ein schlechtes Gewissen haben. Eine amerikanische Untersuchungskommission soll demnächst kommen, und wahrscheinlich haben die Japaner auch von den Artikeln in den deutschen Zeitungen gehört.
Werden wir nun schlecht oder gut behandelt, das ist offenbar die Streitfrage, die sich darin erhebt!
Objektiv: Der Gefangene wird nie mit seinem Lose zufrieden sein, so gut er auch behandelt wird! Hier haben wir ein Bett, Decken, ein Dach über dem Kopf, Essen – alles ist da, was wollen wir noch mehr? Aber – und nun kommt das große »Aber!« – damit ist schließlich ein Tier zufrieden, nicht ein Mensch, der sich nach Bewegung und Anregung sehnt. Die statistischen Berichte des Arztes werden meine Worte lügen strafen, wenn ich die hygienischen Zustände kritisiere, denn der Gesundheitszustand war den Sommer über glücklicherweise ein guter. Aber man stelle sich vor, dass von Kanalisation keine Spur ist. Rund um die Baracken sind Gräben, in denen das Wasser abläuft oder ablaufen sollte, wenn das nötige Gefälle da wäre; aber es fehlt, und mit der Zeit wird es stinkig. Die Müllgräben sind offene Haufen, und die Essensreste werden in offen stehende Fässer geschüttet, mich graust es immer, wenn ich an einem solchen vorübergehen muss!

Das Beste aber sind die Latrinen, die hinter jeder Baracke angebracht sind. Bei »günstigem« Wind geht es, aber wenn der Wind auf die Baracke steht und wenn frühmorgens die »Artillerie« anrückt, um die tägliche Leerung vorzunehmen, dann wird einem übel! Das ist natürlich zuhause besser!
Dazu kommt das abstoßende Wesen des japanischen Militärs. Zuhause heißt es, das dürft ihr tun, das nicht; aber hier zeigt man äußerlich die Höflichkeit, das Grinsen und denkt innerlich das Gegenteil – kurz: es ist keine Offenheit!
Dass die »Rebellengeschichte« auch in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, zeigen zwei Zeitungsartikel im »Japan Chronicle« vom 17. Oktober 1915 und in der »China Press« vom 8. Oktober 1915. Die enthalten zwar entstellte Tatsachen; aber ich habe die Originalausschnitte in mein Tagebuch geklebt, weil sie immerhin interessante Dokumente der Geschichte unseres Gefangenenlebens sind.

Sonst gibt es nicht viel Neues. Es ist recht kühl geworden; aber trotzdem wird das kalte Bad in der Frühe an der Waschbank noch aufrecht erhalten, ebenso das Luft- und Sonnenbad am Mittag.
Am Samstag war ich verbotenerweise bei einem Ausflug, den die Baracken der 4. Kompanie machten. Wir gingen um dreiviertel 8 Uhr zum Kurumefluss und machten dort eine Stunde Aufenthalt. Zurück wurden wir durch Kurume auf das Kastell geführt, wo wir uns zehn Minuten aufhielten. Dann ging es wieder durch Kurume, und um halb 1 Uhr waren wir wieder im Lager. Es war ein schöner, aber etwas anstrengender Spaziergang.
Körperlich fühle ich mich wieder ganz wohl, nachdem ich fast vier Wochen über Darmbeschwerden zu klagen hatte; jeder hat hier draußen damit zu tun, der eine mehr, der andere weniger. Jetzt ist wieder alles in Ordnung!

Kurume, an Weihnachten 1915. – Weihnachten, das zweite Mal in japanischer Gefangenschaft! Ob wir es noch ein drittes Mal erleben? Man ist ja so bescheiden in seinen Hoffnungen geworden, dass man mit einer Möglichkeit rechnet. Denn vor einem Jahr noch hätten wir nicht geglaubt, ein weiteres Jahr in japanischer Kriegsgefangenschaft verbringen zu müssen.
Zwar steht alles zuhause heuer viel günstiger als im vorigen Jahre, da kurz zuvor die für uns ungünstige Marneschlacht war, da die noch ungebrochene Russenmacht auf Ostpreußen und die Karpathen drückte. Und jetzt – was ist in diesem Jahre zuhause nicht alles erreicht worden?! In Frankreich stehen unsere, an der österreichischen Grenze die Truppen fest wie eine Mauer. Russland ist zwar nicht besiegt, aber so geschlagen, dass eine ernsthafte Offensive in der nächsten Zeit nicht zu erwarten ist. Am Balkan sind durchschlagende Erfolge zu verzeichnen, und unser schönstes Weihnachtsgeschenk war Asquiths offizielle Mitteilung von der Räumung Gallipolis!
Trotzdem haben wir heuer unsere Hoffnungen soweit heruntergeschraubt, dass wir nicht mit einem baldigen Ende des Weltkrieges rechnen. Wir betrachten also, wie wahrscheinlich auch der große Generalstab, die Zukunft mit einem gewissen Pessimismus und schalten den Optimismus da aus, wo wir den Kern der Dinge nicht erkennen können.

Ich habe lang nicht mehr geschrieben und muss daher ein wenig von mir selbst erzählen: Körperlich fühle ich mich ganz wohl, aber seelisch übel! Ich bin im Laufe der Gefangenschaft mehr und mehr vereinsamt, da man leider fast alle Menschen zu genau kennen lernt; ein Segen, dass das im normalen Leben nicht der Fall ist. Bei seltenerem Verkehr pflegt sich der Mensch von seiner besten Seite zu zeigen, während er sich hier zu sehr gehen lässt, was mich leicht abstößt.
Es ist hier ein einziger Freund und auch mein einziger Verkehr mein Nachbar Eckert, ein feiner Mensch, mit dem ich mich, von einigen Ausnahmen abgesehen, gut verstehe und dem ich auch ab und zu meine Sorgen anvertrauen kann. In der letzten Zeit ist nun zwischen uns eine kleine Entfremdung eingetreten, da Eckert einen neuen Freund gefunden hat, mit dem er besser harmoniert als mit mir. So bin ich ganz einsam geworden, was für mich nicht gut ist. Ich kann nur hoffen, dass es nicht mehr lange dauert – nun gebrauche ich doch wieder die dumme »Hoffnung« – Schluss für heute!
Eben war Vizefeldwebel Busch da, der wegen des Fluchtversuchs in Kumamoto Monate im Gefängnis saß. Er hat bei mir ein paar Zeitungen eingesehen, die gestern von Mutter kamen.
Jetzt werden wir Englisch lesen, wobei ich schon sehr gelernt habe, sowohl in der Ansprache als auch im Verstehen.

Kurume, den 9. Januar 1916. – Schon sind acht Tage des neuen Jahres vergangen, das uns die Freiheit – nicht bringen wird! An diesen Gedanken haben wir uns leider gewöhnen müssen.
Heute will ich ein klein wenig über die Postverhältnisse berichten: Anfang Oktober blieb auf einmal die gewohnte Deutschlandpost aus; nur kleine Pakete und Paketchen kommen noch an. Wir hegten den schwarzen Verdacht, dass die Post anlässlich der verschiedenen Vorkommnisse zurückbehalten würde. Dieser Verdacht wurde aber dadurch entkräftet, dass am 2. Dezember 1915 ganze Berge von Post ankamen, von denen heute noch Stöße da sind und täglich ausgegeben werden. Die Zensur arbeitet nämlich langsam, aber sicher!
Wie nun aus den verschiedensten Stempeln zu ersehen ist, ist ein Teil der Post in Petrograd, ein Teil aus militärischen Gründen in Deutschland zurückgehalten worden; es war, als die Geschichte mit Serbien anfing.

Zeitungen zu schicken, soll jetzt in Deutschland ganz verboten sein – mir nicht Unrecht, so sehr ich es persönlich bedauern muss! Mit Post bin ich in letzter Zeit reich gesegnet worden: Vater, Mutter und der Bruder Günter haben fleißig geschrieben, und auch von E. trifft Post mit einiger Regelmäßigkeit ein; vor allem hat es mich gefreut, dass sie mir eine Photographie geschickt hat, um die ich sie gebeten hatte.
Feldpostpakete treffen pünktlich ein: von Mutter alle drei Wochen, auch zwei von E. mit Selbstgebackenem, das stark mütterlichen Einschlag zeigt.

Neujahr haben wir still in der Bibliothek bei einem Glas Grog gefeiert. Erst um halb 1 Uhr war Zapfenstreich und die Besäufnis allenthalben groß!
Gestern abend waren wir Unteroffiziere vom 3. Zug bei Hauptmann Zimmermann und Leutnant Mohr zum Glühwein eingeladen.
Es war schon ein paar Mal empfindlich kalt (minus 6 Grad) und fiel auch schon etwas Schnee, aber heute herrscht eine richtige Frühjahrstemperatur. Ich laufe noch jeden Morgen und mache anschließend meine Freiübungen; wie im Sommer habe ich eine Badehose an, dazu jetzt im Winter ein leichtes Hemd. Ich glaube, ich verdanke es diesen Prozeduren, dass ich mich einer gewissen Magerkeit oder vielmehr nicht übermäßiger Dicke erfreue.

Was das Lesen anlangt, so beschäftige ich mich zurzeit mit den exzentrischsten Büchern: Ad 1 mit den »Welträtseln« des Atheisten, Monisten und Zellular-Physiologen Ernst Haeckel, einem geistreichen Werk, in das ich trotz meiner Kenntnisse im Griechischen, die immer noch da sind, nur sehr schwer einzudringen vermag. Ein Urteil erlaube ich mir nicht, da ich es für Vermessenheit halten würde, als Laie die Theorien eines Wissenschaftlers positiv oder negativ zu bekritteln. Ich habe manches Neue gelernt und vor allem einen richtigen Begriff von Monismus und Dualismus bekommen. Ad 2 mit den »Reisebildern« des gottvollen, gottlosen Heinrich Heine, der mir umso mehr zusagt, als ich ja auch von Natur aus alles mit einem gewissen Skeptizismus ansehe. Ad 3 mit der »Bodenreform« von Damaschke, einer neuen Richtung unseres Wirtschaftslebens, die die Vergesellschaftung des Grund und Boden vorschlägt, während Kapital und Arbeit dem Individuum überlassen bleiben sollen. Es wäre also ein Mittelding zwischen den bestehenden Zuständen und dem Kommunismus. Ich bin mir allerdings nicht darüber im Klaren, wie diese Idee durchgeführt werden soll. Immerhin sind die Gedanken nicht so utopisch wie die des sozialdemokratischen Zukunftstaates!

Kurume, den 16. März 1916. (Anmerkung des Verfassers:

Es muss damals doch recht schlimm um mein Seelenheil bestellt gewesen sein, denn es folgen nun [im Tagebuch] viele Seiten einer wirren Philosophie, bei der selbst das Tagebuch personifiziert, d.h. angesprochen wird. Ich verzichte auf die Abschrift dieser Zeilen, des Zeugs, das heute kaum jemand interessiert, und beschränke mich darauf, die Tatsachen aus meinem Kriegsgefangenen-Leben zu bringen.
Der Ausbruch meines Innern ähnelt ein wenig der Selbstkritik, die heutzutage kommunistische Führer üben müssen, nur dass sie nicht öffentlich ist, sondern gewissermaßen zwischen vier Wänden erfolgt. Da wird von meinen Fehlern und Schwächen, von meiner Denkfaulheit, aber auch von Selbstmordgedanken gesprochen, die ich später nie mehr hatte! Von der Trägheit des Fleisches ist die Rede, von der Aufgabe, die im Leben zu erfüllen sei – und die ich im damaligen Sinne doch nie zu erfüllen hatte!)

Es folgt das Original des Tagebuches:
Soweit bin ich gekommen, als die vor Kälte steifen Finger nicht mehr wollten. Die Gedanken waren zwar zahlreich in solcher Fülle, aber das Fleisch war zu schwach. Draußen ist es immer noch Winter, und Stürme treiben die Wolken dahin, wie in mir die Gedanken toben. Bald scheint die Sonne, bald sucht ein armseliger Schnee auf der Erde Fuß zu fassen.

(Anmerkung des Verfassers:

Nun vergleiche ich den Schnee mit dem Leben des Einzelnen und der Völker und füge ein Expose über Willensfreiheit an. Vieles muss meiner »Lektüre« entnommen sein. Wieder Todesgedanken! Aber der Mensch hat ein »Gewissen«, das ihn an seine Pflichten erinnert! »..... dass Du der Natur ebenso dienst wie das kleine Schneeflöckchen.« Wir wissen, dass wir nichts wissen, und all unser Forschen nach dem Ursprung aller Dinge ist umsonst. Die Hoffnung lebt, deswegen müssen wir sterben.)

Kurume, den 31. März 1916. – (An diesem Tage folgen »Gedanken über die Freundschaft!«)

Kurume, den 2. April 1916. – Die Gefangenschaft dauert nun eineinhalb Jahre, und es wäre ganz interessant, darüber nachzudenken, wie diese Zeit unfreiwilliger Untätigkeit auf die einzelnen Menschen wirkt.
Das Schreckliche ist hier die Eintönigkeit: Man sieht nichts als seine Holzbaracken, immer dieselben Menschen, ein paar Bäume über dem Bretterzaun und ein paar Hügel in weiterer Ferne. Die einzige Ablenkung sind daher die Spaziergänge, die wir sehr unregelmäßig alle paar Wochen machen, und das monatliche Theater. Sonst bleibt es dem Einzelnen selbst überlassen, für seine Beschäftigung zu sorgen; bei den Mannschaften kommt im Monat ein bis zweimal Kartoffelschälen und Arbeitsdienst hinzu.
Sonst aber ist jeder Herr seiner Zeit. Es ist den Japanern völlig gleichgültig, ob einer von 6 Uhr früh bis 9 Uhr abends um die Baracken saust, ob er zu Mittag isst oder nicht, ob er sich besäuft oder Karten spielt – wenn er nur um 8 Uhr früh und um 5 Uhr abends (Winterzeit!) zum Appell da ist und nicht einen Zigarettenstummel auf den Boden wirft. Dann fliegt er unweigerlich in den Kahn (Arrest), wo er allerdings auch Herr seiner Zeit ist!

Kurume, den 18. August 1916. – Ein Brief Vaters, geschrieben mit blühendem Optimismus, gibt mir wieder einmal Veranlassung, mein Tagebuch zu Hilfe zu nehmen. Ich will darin die Gedanken niederlegen, die in einem Brief nach Hause die Zensur streichen würde.
Seit Mitte April werden uns keine Zeitungen ausgehändigt, die im Fernen Osten erscheinen, und zwar sowohl deutsche als auch englische. Nur die Telegramme des »Ostasiatischen Lloyds« werden uns ausgeliefert, meist mit reichlicher Verspätung. Aus diesen ganz kurzen, eben im Telegrammstil gehaltenen Meldungen müssen wir unsere Schlüsse ziehen.

Am 30. Juli 1916 wurde der japanische Kaiser Yoshihito gekrönt, nachdem die Trauerzeit nach dem Tode seines Vaters, d.h. vier Jahre vorübergegangen waren.
Das japanische Volk feierte ein Fest, im Lager hörten wir über den Zaun ab und zu einen Betrunkenen gröhlen; die Post gab besondere Briefmarken und Karten aus, die auf die Bedeutung des Festes hinwiesen und die sogar wir Kriegsgefangene gegen Bezahlung erwerben konnten.
Damit aber auch wir an der Feier »teilnahmen«, schenkte der Kaiser jedem Kriegsgefangenen eine Flasche Bier und zehn Migans, das waren Mandarinen, wie wir sie bei unsern gelegentlichen Ausflügen an den immergrünen Bäumchen in orangeroter Farbe leuchten sahen.

Soweit wäre, was unser Lager anlangt, die Geschichte wenig interessant. Nun gab es aber unter unsern Offizieren zehn »Senkrechte«, vor allem aktive, die glaubten, preußischen Drill und preußische Disziplin auch im Lager durchzusetzen. Das ging nicht unter den eigenen Kameraden, wo bald die »Liberalen« und die Reserve-Offiziere das Übergewicht hatten, noch weniger unter uns »Mannschaften«, wo die Japaner fast jede Disziplin aufgehoben hatten. Wie dem auch sei: Zwei von den »Senkrechten« schickten sowohl die Flasche Bier als auch die Migans an das japanische Büro zurück.
Prompt wurden sie vor den Lagerkommandanten zitiert und gefragt, warum sie die Geschenke zurückgegeben hätten. Einer antwortete, ein deutscher Offizier nähme als Kriegsgefangener vom japanischen Kaiser keine Geschenke an. Darauf holte der Japaner aus, schlug dem Deutschen ins Gesicht und wies ihm die Türe.
Eine Beschwerde bei der amerikanischen Kommission, die uns bald darauf besuchte, hatte umso weniger Erfolg, als beim japanischen Heer die sogenannten Subalternoffiziere, also Leutnants und Oberleutnants, geschlagen werden dürfen.
Es ist klar, dass unter dem Benehmen unserer Offiziere und unter der Laune des Japaners das ganze Lager zu leiden hatte (Ausgangs-Postbeschränkung etc.).

Je nach der Gemütsverfassung und Veranlagung des Einzelnen sind sie natürlich ganz verschieden. Eine Nachricht, die vielleicht den Optimisten zu den kühnsten Hoffnungen hinreißt, stimmt den Pessimisten aufs Tiefste herab und lässt ihn das Trübste ahnen.
Ich gehöre nicht zu diesen Miesmachern, aber auch nicht zu den übertriebenen Optimisten, die die Österreicher bei ihrem Vorstoß nach Italien schon an der Adria gesehen haben, die die ganze Isonzofront abgeschnitten, Sonderfrieden mit Italien usw. wähnten. Ich zähle mich auch nicht zu denen, die die Einnahme von Görz und die Gefangennahme von 30.000 Österreichern und womöglich an den Fall von Triest glaubten. Aber ich meine, man muss sich eine gewisse stille Überlegung, gepaart mit einem ruhigen Vertrauen auf das deutsche Volk und seine Leiter, angewöhnt haben. Weg mit den phantastischen Hirngespinsten, die etwa eine Landung in England uns vorgaukeln! Warum denn – aushalten und durchhalten, das ist jetzt die Hauptsache!

Mit einer Verspätung von ein paar Wochen kommen die deutschen Zeitungen, und wir freuen uns doppelt über die sachlichen Heeresberichte, über die herzerfrischenden Reportagen unserer Kriegsberichterstatter und über die vernünftigen Leitartikel unserer großen Zeitungen.
Blättert man allerdings ein paar Seiten weiter, so liest man von Fleischhinterziehung und von Vergehen gegen diese oder jene Bundesratsverordnung. Der reiche Bäckerinnungsmeister tut Sägespäne statt Mehl in sein Brot, die Frau Schlachtermeister stapelt in ihrer Grunewald-Villa Berge von Fleisch und Würsten auf, und so geht es weiter – zwei bis drei Fälle in jeder Zeitung!
Zuhause mag man sich an diese Dinge des täglichen Lebens gewöhnt haben. Wir aber vermuten eine stille Begeisterung und setzen eine Art Staatskommunismus voraus. Wenn wir dann so etwas lesen, geraten wir in helle Wut, die noch durch die milden Urteile der Gerichte vergrößert wird. Meist kommen diese Sachen vors Schöffengericht, und da sieht man die Vorteile einer Volksjustiz.
Ein jämmerliches Bild zeigen auch die Reichstagsverhandlungen. Wir sollten uns schämen vor den Engländern, da unsere Herren Abgeordneten nichts durch den Krieg gelernt zu haben scheinen! Man kann natürlich sagen, das Ausland gehe uns nichts an, es möge denken und sagen, was es wolle. Aber, Ihr lieben Deutschen in der Heimat, es ist nicht gleichgültig, weil es selbst dem lügengewohnten Reuter lieber ist, wenn er einen wahren Bericht bringen kann, den er mit feinen Redefloskeln womöglich noch ungünstiger gestaltet.

Solche Streitereien tragen also dazu bei, den Glauben an die deutsche Uneinigkeit im Ausland zu erwecken und den Krieg zu verlängern, weil es den Feinden leicht gemacht wird, an die Besiegbarkeit Deutschlands zu glauben. Ja, wenn der Krieg zu Ende ist und wir wieder Frieden haben, dann möchte ich recht oft von Euch Diplomaten und Politikern hören: Was geht uns das Ausland an, lasst Eure verdammte Rücksicht gegen das Ausland, zeigt Rückgrat und habt keine Angst, da und dort anzustoßen.
Aber jetzt brauchen wir Einigkeit und nochmals Einigkeit! Der Burgfrieden muss gehalten werden, und wenn dieser große Krieg Euch nicht einen kann, da eure Brüder nebeneinander kämpfen und dieselbe Kugel Euch in unsägliche Trauer bringen kann, wie soll es denn im Frieden werden?!

Man hat so schön geträumt von einem einigen Deutschland und einem besseren Parlament, als unser Kaiser sprach: »Ich kenne keine Parteien mehr!« Man hat geglaubt, dass wenigstens der Unterschied zwischen nationalen und antinationalen Parteien verschwinden würde, aber alles ist genau so geworden wie vor dem Kriege! Allerdings mit einer Ausnahme, da eine kleine Umgruppierung der Kräfte stattgefunden hat. Denn die »staatserhaltende« Partei ist ausgeschieden, die Konservativen haben ihre Maske fallen lassen und ihren wahren Charakter gezeigt. Das deutsche Volk wird sich das hoffentlich merken und nach dem Krieg sobald als möglich das leidige Dreiklassen-Wahlrecht abschaffen!
Es ist eben ein großes Unglück und ein nicht zu unterschätzender Gesichtspunkt in unserer Gefangenschaft, dass wir gewissermaßen »über den Parteien« stehen. Wir bekommen die Nachrichten ungeschminkter vorgesetzt, spätere Nachrichten oft eher als frühere, sodass uns das Verständnis leichter wird; wir erfahren aber auch Einzelheiten, die so leicht den Blick fürs Ganze trüben, erst Wochen später; mit anderen Worten, wir lernen hier weltpolitisch denken, während zuhause der Spießbürger sein liebes engeres und ganz sein weiteres Vaterland vergisst!
Und das läßt mich nie bereuen, dass ich herausfuhr. Der Krieg kam dazwischen, den ich lieber zuhause mitgemacht hätte; aber das ist ein Naturereignis, und es ist nutzlos, darüber nachzudenken.

Der heurige Sommer ist viel leichter zu ertragen als der vorjährige. Wir haben uns wohl schon an das Klima gewöhnt, und während wir im vorigen Jahr kaum ein Gewitter hatten, kühlt heuer fast täglich ein Gewitter am Nachmittag die Temperatur recht angenehm ab.
Dreimal in der Woche werden wir zum Baden im Kurumefluss geführt. Je eine Stunde Hin- und Rückweg bringen uns ordentlich in Schweiß, sodass die nötige körperliche Magerkeit bis auf Weiteres sichergestellt ist. Das Baden selbst ist sehr schön; das Wasser ist so reißend, dass man eben stromauf schwimmen kann und an der tiefsten Stelle mannstief – also eine recht schöne Abwechslung!

(Anmerkung des Verfassers: Dies waren drei Tagebücher aus der japanischen Kriegsgefangenschaft, und das vierte »folgt sogleich«!)
 

c) Spätsommer 1916 bis Ende 1918

Kurume, den 5. September 1916. – Ein ziemlich starkes Buch, das ich mir da als mein Tagebuch angeschafft habe! Ob es voll wird? Ich fürchte beinahe, ja! Rumänien hat nun auch in den Krieg eingegriffen! Es bleibt aber abzuwarten, ob dies eine verlängernde oder verkürzende Wirkung auf den Weltkrieg haben wird.
Allerdings meint man manchmal, zuhause sei überhaupt kein Krieg mehr. Wenn man die Zeitungen liest mit ihren kleinlichen Gehässigkeiten, so kommen einem die Aufrufe zur Sammlung von Liebesgaben für die Truppen, Verwundeten usw. vor wie die Aufrufe von Spenden, die man im Frieden zugunsten von Leuten erlassen hat, die durch ein elementares Unglück heimgesucht worden waren.

Heute wurde mir aus Bayern mit den herzlichen Glückwünschen (!) ein Artikel überreicht, in dem stand, dass durch päpstlichen Gnadenerlass mit Erlaubnis seiner Majestät des Königs die heilige Mutter Gottes zur Schutzpatronin des Königreiches Bayern ernannt worden sei und dass der 14. Mai als allerhöchster Feiertag zur Erinnerung an diesen Gnadenakt zu gelten habe. Der Zentrumsabgeordnete Liborius Gerstenberger sagte: »Freude und Fröhlichkeit würden zwar infolge des Krieges in diesem Jahre nur gedämpft erklingen, aber die Geschichte werde dereinst mit goldenen Lettern diese ›Kulturtat‹ preisen.« – Man will also mit aller Gewalt wieder das Volk verdummen und es mit kläglichsten Mitteln dem Schoß der heiligen Kirche zuführen?! – Den schwarzen Brüdern muss man es lassen, sie haben den Zeitpunkt schlau gewählt; denn der Burgfrieden war der Schutzwall, hinter dem sie ihre finstere Tat vorbereiten, und eine vom Gegner angeregte Diskussion hätte sie schnell ins Unrecht gesetzt! Ihr Deutschen, die Ihr vielleicht von einem größeren Deutschland träumt, seht Ihr nicht eure großen und erhabenen Ziele in der Unzahl kleinlicher, partikularistischer Fragen dahin schwinden? Ihr wollt eine Einheitswährung für Deutschland und Österreich-Ungarn und bringt es nicht einmal fertig, Bayerns Anschluss an die Reichspost und -Eisenbahn durchzusetzen. Bayern denke gar nicht daran, seine besondere Briefmarke, die einen wesentlichen Bestandteil des bayerischen Postreservats ausmache, aufzugeben, verkündete neulich ein Zentrumsabgeordneter zur Beruhigung dem misstrauischen Bayernvolk. – Ich gestehe, ich habe ein wenig Grausen vor der Rückkehr in mein Vaterland; man hat sich hier in eine Begeisterung für Deutschland hineingelebt, die vielleicht nicht so impulsiv war, wie sie zuhause zu Anfang des Krieges war, aber um so anhaltender. Nun liest man wieder von diesen rückschrittlichen Kulturtaten. Wie wird es nach dem Krieg werden, wenn die Gedanken [Grenzen?] gefallen sind, die heute manchen das Sprechen verbieten? Armer Reichskanzler, ich möchte nicht in Deiner Haut stecken, weil ein paar große Papierkörbe nicht genügen werden, um die Tausende von Anfragen zu beantworten, die auf Dich niederprasseln!

Kurume, den 12. September 1916. – Manchmal habe ich mir die Frage vorgelegt, mit welchem Gewinn oder Verlust ich dereinst die hiesige Zeit, sie mag dauern, solange sie will, abschließen werde.
Ein wenig Englisch, etwas Nationalökonomie, viele gute oder schlechte Bücher unserer deutschen Literatur, ein paar graue Haare, einige Falten, ein stärkerer Bartwuchs – das scheint auf der Creditseite zu stehen. Stillstand in der »Karriere«, Ausgaben ohne Einnahmen dagegen auf der Debetseite!
Strich darunter – der Saldo ist schwer zu schätzen! Wenn ich allerdings manchmal darüber nachdenke, muss ich sagen, dass ich doch eine Menge anderer Dinge gelernt habe, die ich im Leben nicht so leicht aufgenommen hätte, z.B. Menschenkenntnis, Beurteilung eines Buches, tieferes Verständnis für unsere Sprache und alles, was damit zusammenhängt. Wenn mich freilich jemand fragen würde, was ich eigentlich in der Gefangenschaft gelernt hätte, so könnte ich diese Dinge nicht aufzählen, da es hierüber kein Examen gibt!

Schon in einem früheren Tagebuch habe ich vor Monaten gewünscht, ich möchte schreiben, schreiben, schreiben. Fliege nun dahin, Bleistift, um die Gedanken zu Papier zu bringen, die das Gehirn bewegen! (Anmerkung des Verfassers: Es folgt nun eine kleine Skizze, betitelt »Im Indischen Ozean«, die ich nicht abschreiben werde, sondern die ihren Platz mit anderen Literaturerzeugnissen in einem Sonderband finden soll. Anscheinend hat damit meine »literarische« Tätigkeit begonnen, mit der vor allem die Jahre 1918 und 1919 ausgefüllt waren!)

Gedanken über die Kriegsliteratur. – Eine Fülle von Büchern kommt in diesen Kriegsjahren auf den Markt, eine Masse, die schlecht mit dem Papiermangel übereinstimmt, die ihn aber verstehen lässt.
Was sind das für Bücher? Meist Kriegsbücher, die vom Leben an der Front, auf der See erzählen, Tagebücher ohne Regiments- und Ortsangaben; ferner eine Fülle von sogenannten »populären« Schriften, die uns über die Zusammenhänge der Politik vor dem Kriege berichten, die uns Zukunftspläne veranschaulichen, die uns den Krieg als geschichtlich notwendig nachweisen usw.
Wer schreibt diese Bücher? Mancher, dem es im Leben nie eingefallen wäre, etwas in Druck zu geben, tut es jetzt; denn seine Erlebnisse sind so groß, so eindrucksvoll, dass es ihn drängt, sie wiederzugeben.
Mancher findet auch ein williges Publikum für seine seichten Schilderungen, deren Stoff nur durch seine Aktualität anzieht. Andere – und es sind unsere besten Schriftsteller! – ziehen hinaus, um sich das Leben draußen anzusehen, um denen zuhause davon zu erzählen, da sie durch ihre Übung im Schildern und »Fabulieren« sich für die berufenen Personen zu solchen Geschichten halten.

Dagegen ist nichts einzuwenden, vor allem, wenn sie es so wie der Kriegsmaler machen, der in seinen Skizzen sammelt, was er in ruhiger Stunde zu großer Kunst verwerten wird.
Aber es mag mir nicht gefallen, wenn ein Ganghofer sich dazu hergibt, für einen 1-Mark-Verlag ein Buch über Dinge hinzuschmieren, die er zwar gesehen hat, deren Erleben ihm aber, wenn überhaupt, erst später aufgehen wird und kann. Abgesehen von der Leichtfertigkeit im Stil, die solche Schriften mit sich bringen, wird der Schriftsteller leicht zur Oberflächlichkeit verführt. Gerade weil eine Menge neuer Eindrücke auf ihn einstürzen, muss der gewissenhafte Arbeiter sich Ruhe nehmen und seine Erlebnisse auf sich wirken lassen.
Wenn gar ein Bartsch einen Kriegsroman schreibt, der an Phantasie der Schilderung beinahe einen der berühmten Karl-May-Romane übertrifft, dann fragt man sich, ob es noch derselbe Bartsch ist, der in seinen feinen und geistvollen Romanen ein Vorkämpfer des Deutschtums in Österreich war.

Kurume, den 26. September 1916. – Heute ein klein wenig von mir selbst:
Der Sommer ist so ziemlich vorüber, und ich habe ihn gesundheitlich recht gut verbracht; allerdings war die Hitze nicht so stark wie im Vorjahr; auch glaube ich, dass ich mich durch die fast täglichen Sonnenbäder an die Sonnenbestrahlung und damit an die Hitze gewöhnt habe.
Wie ich bereits schrieb, wurden wir dreimal in der Woche zum Baden geführt, und zwar im Juli und August; wir gingen eine Stunde durch Felder, auf denen gerade der frische Reis grünte, durch Dörfer, durch Bambushaine, wie sie hier überall verstreut liegen, hinunter zum Kurumefluss, einem reißenden Gewässer, wo von einem Voraus-Arbeitskommando ein Platz für Schwimmer und Nichtschwimmer abgesteckt war. Boote im Fluss dienten zur Sicherung.
Wie bei allen Gewässern in China und Japan hatte auch hier der Fluss ein breites Bett, das die Wassermassen in der Regenzeit fassen muss und in der übrigen Zeit nur halb – oder gar nicht! – voll ist. So entsteht ein richtiger Strand, über dessen glühendheißen Sand wir erst hinwegtanzen mussten, um zum Wasser zu gelangen.
Dort unten war Antreten und Abzählen, dann rein ins Wasser; nach einer Viertelstunde wurden wir wieder abgezählt, ehe wir ins Wasser durften, und nach einer weiteren Viertelstunde wiederholte sich dasselbe Manöver; dann durften wir über den Sand zurück und uns gemütlich anziehen.

So wurden die Vormittage recht angenehm verbracht; Anfang September 1916 hörte aber wegen Choleragefahr das Baden auf. Von Nagasaki aus hat sich nämlich diese Krankheit über die ganze Insel Kyushu verbreitet. Es ist uns verboten, Lebensmittel aus Japan oder China kommen zu lassen, der Verkauf von Limonaden hört auf, die Garküche ist geschlossen worden, wo wir manchmal bei einem schmutzigen japanischen Koch ein »bifusteku« oder eine »läber-läber« kauften; aber das Schlimmste war, dass die Spaziergänge bis auf Weiteres eingestellt wurden!
Wenn es jetzt kühler wird, wird die Cholera von selbst erlöschen! Um mir Bewegung zu machen, spiele ich jetzt Hockey mit; heute tun mir von gestern alle Knochen weh! Mein Nachbar Eckert hat die Nachricht bekommen, dass sein Bruder als Leutnant der Reserve und Kompanieführer im Westen gefallen sei. Dies hat mich um so mehr erschüttert, als mein Bruder Werner fast täglich im Kampfe ist.

Kurume, den 30. Dezember 1916. – Wieder einmal Tagebuch! Ich habe Ferien gemacht, und zwar wird von Weihnachten bis Neujahr nicht gearbeitet. Die 32 Langenscheidt'schen Englisch-Briefe sind erledigt – und die russischen begonnen!
Kurze Nachrichten aus dem Lager:
Die Cholera war Ende November erloschen; aber nachdem wir zwei Spaziergänge gemacht hatten, kamen bis Ende Dezember neue Cholerafälle vor, und seitdem sind wir bis auf Weiteres von diesem Vergnügen ausgeschlossen.
Die DAB [Deutsch-Asiatische Bank] in Japan ist auf behördlichen Befehl geschlossen worden; wir wissen nicht warum, da wir keine Zeitungen von hier draußen erhalten. Da aber auf einmal in den Telegrammen die Zeichnungen von Kriegsanleihen ausgeschnitten waren, ist zu vermuten, dass die Japaner bei der 5. Kriegsanleihe dahinter gekommen sind, dass auch die japanischen DAB’s – für ihre Kunden natürlich – sich daran beteiligt haben. Vielmehr werden die Engländer sie aufmerksam gemacht haben, die sich auch der amerikanischen Post liebreich annehmen. Auf englischen Einfluss dürfte es auch zurückzuführen sein, dass nach einer kürzlichen Verfügung den Zivildeutschen in Japan der schriftliche Verkehr mit Deutschland verboten ist.
Bis November hatten wir von den französischen Patres in Hokkaido Butter bezogen. Auf einmal kam ein Brief, dass sie leider auf Befehl der Militärbehörde gezwungen seien, die Sendungen einzustellen. Warum? Wahrscheinlich waren die Mönche nicht in der Lage, bei der großen Nachfrage der Gefangenen die Wünsche der Engländer zu befriedigen. Die Japaner machen nämlich keine Butter, und in Tins hält sie sich nicht lange – sie wird bald ranzig. So essen wir eben Schmalzbrote – zuhause haben sie auch keine Butter!

Mit der Post ist es das alte Lied! Auf dem Büro liegen Tausende von Briefen und Zeitungen; aber die Ausgabe geschieht so langweilig, dass man vor Wut bersten könnte. Früher konnte man nach dem Kurumer Ankunftsstempel genau feststellen, wie lange die Post auf dem Büro lag; jetzt wird dieser Stempel weggelassen, um eine Kontrolle auszuschließen.
Ein Paket erhielt ich am Weihnachtsabend; aber die Pakete kommen nicht mehr so regelmäßig an wie früher, sodass wir vermuten, die Engländer halten sie zurück!
Unsere ausgehende Post beschränkt sich im Monat auf einen zweiseitigen Briefbogen und zwei Karten, sodass die Eltern nur alle zwei Monate einen Brief bekommen, also sechs im Jahr, was ein bißchen wenig, aber nicht zu ändern ist.

Im Lager ist ein Kartellbruder von mir: Hauptmann Grabow – Brunsviga-Göttingen. Ich war im Juli bei ihm einmal zu einem Glas Bier und habe ihn seitdem öfter gesprochen; er stellte jedesmal einen Tarock oder so in Aussicht, wobei es bisher geblieben ist!
Dagegen waren wir öfters bei unserm Hauptmann Zimmermann zum Abendessen und Brücke (Bridge), am Mittwoch sogar zu Kaffee, Abendessen und Brücke. Zimmermann ist auch Corpsstudent, Tübinger Schwabe und wohnt mit einem Corpsbruder, Rechtsanwalt und Leutnant der Reserve Dr. Will aus Tientsin zusammen. Eine »S.C.-Brücke« wurde auch in Aussicht gestellt, wobei es wohl bleiben wird!
Eigentlich ist uns der Verkehr mit Offizieren verboten; aber neulich zeigte der diensthabende Zahlmeister soviel Entgegenkommen, dass er uns auf Bitte des Leutnants Scriba gestattete, statt um 9 Uhr um 10 Uhr ruhig in unsere Baracken zu gehen. (Jener Leutnant war der Sohn einer Japanerin und eines Deutschen, des früheren Leibarztes des Mikado.)

Unser Lagerkommandant ist abgesägt, am 13. Januar 1917 kommt ein neuer Oberst. Inzwischen waren verschiedene Revisionen, die viel Unruhe in die Baracke brachten, zumal einige unvermutet kamen. Eigene Tische sowie jede Art von Brettern, die als Tische benützt werden könnten, waren streng verboten. Niemand durfte mehr als drei Kisten in der Baracke haben. Vorhänge waren nicht erlaubt, auch nicht Bilder an den Wänden. So ist es bei uns recht übersichtlich geworden!

Ende Dezember 1917– immer noch in Kurume!
Das ganze Jahr 1917 hindurch habe ich das Tagebuch nicht angerührt. Warum auch, da das Leben hier verhältnismäßig gleich dahinfließt und die drei Jahre Gefangenschaft uns derart abgestumpft haben, dass uns selbst die größten Ereignisse nicht aus der Ruhe bringen können!
Ich denke dabei an einen Vergleich von Ende 1916 und Ende 1917: Im Dezember 1916 wurde bekanntlich das Friedensangebot Deutschlands bekannt: Hier herrschte große Begeisterung, und es fehlte nur, dass Kisten und Koffer gepackt wurden, ungeheure Mengen Sakurabier wurden getrunken – aber der Erfolg dieses Friedensangebotes ist bekannt! Im Jahre 1917 kam der Waffenstillstand mit Rußland, ein Ereignis von größter Tragweite, das hoffentlich zum Separatfrieden führen wird. Mit größter Ruhe und sehr, sehr abwartend wurde diese Nachricht aufgenommen, und nun wartet alles auf den großen Schlag im Westen – Es ist wunderbar, wie selbstverständlich das angenommen wird und ein Zeichen des ungeheuren Vertrauens, das wir in unsern Hindenburg setzen!

Wie werden uns nun die Nachrichten gegenwärtig aufgetischt? Zuerst kommen die sogenannten »Latrinengerüchte«, d.h. irgend ein Japaner im Lager erzählt irgendetwas, was in der japanischen Zeitung stehen soll, aber diese Leute können kaum Deutsch und werfen mit Schlagworten um sich, die wie ein Lauffeuer das ganze Lager durchschreiten. Nun, man ist so abgebrüht, dass man dazu sagt: »Abwarten!«, und man tut gut daran, da man sich eine Enttäuschung erspart!
Die nächste Nachrichtenquelle ist die japanische Zeitung, die Dr. Vogt offiziell vom Büro erhält mit der Erlaubnis, die Nachrichten zu übersetzen und zu verbreiten. Diese an und für sich sichere Quelle hat leider weniger Wert, weil die Schere des Zensors meist nicht viel von der Zeitung übrig lässt. So werden für uns günstige Nachrichten meist unterdrückt, die ohnedies Reuter nur im äußersten Notfall durchlässt.
Diese Reutertelegramme bringt uns nach zwei Tagen ein Sonderdruck des »Japan Chronicle«. Man muss die Aufmachung gesehen haben und wird sich verwundert fragen, wie es sich die Welt überhaupt gefallen lassen kann, tagtäglich einen derartigen Mist vorgesetzt zu bekommen! Der englische Redakteur macht sich oft selbst in seinen Überschriften über diese Meldungen lustig, die man liest, weil man allmählich gelernt hat, das eine oder andere darin zu finden.
Nach einem Monat bringen die amerikanischen Zeitungen nähere Berichte. Über die deutsch-amerikanischen Zeitungen schweige ich, sie verdienen den Namen »deutsch« nicht, pfui!
Seit der amerikanischen Kriegserklärung ist natürlich die Stimmung der englischen Zeitungen noch deutsch-feindlicher geworden, wenn auch den Hearst papers eine gewisse Objektivität der Urteile nicht abzusprechen ist.
Zwei bis vier Monate später kommen die deutschen Zeitungen, die nähere Aufklärung bringen, auch wenn sie oft nicht erfreulich ist und Reuters Telegramme bestätigen!

Die äußere Politik im Jahre 1917:
Im Osten führten unsere Erfolge in Galizien und bei Riga-Ösel zum Waffenstillstand. Die Revolution im März hatte Zar Nikolaus gestürzt, und die Kadetten unter Miljukoff, später die Arbeiter und Soldaten unter Kerenski kamen ans Ruder. Der neuen Regierung gegenüber – wenn man das Durcheinander so nennen kann! – verhielt sich unsere Regierung abwartend mit dem Erfolg, dass die Entente in Russland weiter die Oberhand behielt und Kerenski zur »großen« Offensive in Galizien veranlaßte. Aber sein Misserfolg, die deutschen Siege und Hunger führten zu seinem Sturz, und nun scheint es, als ob die Maximalisten das künftige Schicksal entscheiden würden. Möge das Jahr 1918 den Separatfrieden Deutschland–Russland bringen!
Im Westen verstand es Hindenburg, durch einen glänzenden Rückzug eine große Offensive der Alliierten zu verhindern; die sonstigen Anstürme der Feinde brachten nur kleine örtliche Gewinne. Die Entlastung der Ostfront lässt uns und die Feinde eine große deutsche Offensive erwarten. Möge sie uns den endgültigen Sieg im Jahre 1918 bringen!
Nach seiner 11. Isonzoschlacht musste Italien eine 12. Isonzoschlacht von unserer Seite erleben. Der Durchstoß brachte uns bis an den Piave und hat Triest für immer von der »Erlösung« befreit. Hoffentlich wird unser Sieg dazu beitragen, das längst erwartete »Revolutiönchen« in Italien zu fördern.
In Mazedonien sitzt Sarrail noch immer mit seiner jungen Frau in Saloniki, etwas fester, weil nun auch Griechenland auf seiner Seite steht; denn der gute König Konstantin ist freundlichst von der Entente verabschiedet worden. Früher hätte man ihn um die Ecke gebracht: Die Allierten sind doch bessere Menschen! Bulgarien verkündete stolz und freudig, dass es auf Annexionen nicht verzichtet und außer der Dobrudscha noch Teile Serbiens einstecken will. Gut so! Wenigstens ein offenes Wort!
In der Türkei sind Rückschläge zu verzeichnen; denn Jerusalem und Bagdad sind in den Händen der Entente. Meiner Ansicht nach ist dieser Erfolg der Engländer nicht gering zu schätzen, weil damit der Bau einer Brücke Ägypten–Indien seiner Vollendung entgegengeht. Möge das Jahr 1918 den Engländern diesen Erfolg nehmen!
In Amerika wird weiter gerüstet, wobei Geld keine Rolle spielt. Wenn es nach dem Maul seiner Führer ging, wären schon 7 Millionen Mann und 20.000 Flieger an der Westfront! Aber »zu spät« wird auch hier die Devise sein, wie bei allen Unternehmen der Allierten! Prügel wünsche ich Euch für 1918!
Inwieweit sich in England der U-Boot-Krieg fühlbar macht, entzieht sich natürlich jeder Kenntnis. Die Altersgrenze [bei den Einberufungen] wurde erhöht, also scheint es den Krieg auch am Blut zu spüren. Möge auch hier die Entscheidung an der Westfront fallen!

Über die Innenpolitik nur kurz ein paar Schlagwörter, da es mich anwidert, Näheres auszumalen:
Der große Zauderer Bethmann-Hollweg fiel endlich und wurde durch Michaelis ersetzt, der gänzlich versagte. Hertling, der gerissene Staats- und Zentrumsmann, kam ans Ruder, und so soll ein Katholik (!) das Staatsschiff in den sicheren Hafen des Friedens steuern. Man kann ihm für 1918 nur Erfolg wünschen!
Der Reichstag brachte die Friedensresolution, ein Angstprodukt! Die Parteien bekämpfen und stänkern sich an – es ist entsetzlich. Und das wollen Volksvertreter sein! Selbst ein Naumann wird immer weinerlicher! Wenn unser Schwert nicht so stark wäre!
An die Abschaffung des berüchtigten Dreiklassenwahlrechts scheint man »oben« trotz großer Versprechungen nicht zu denken! Es ist schon richtig, dass das deutsche Volk zur Parlamentarisierung nicht reif ist. Man beachte dagegen die Disziplin im englischen Parlament. Aber Rücksichten scheinen die Herren Abgeordneten nicht zu kennen: Man beschimpft sich schlimmer als im Frieden – Schluss damit!

Etwas über die Lagerverhältnisse: Fällt aus, weil’s mir zu dumm ist!

Kurume, den 21. Dezember 1918. – (Anmerkung des Verfassers: Unter diesem Datum folgt die Abschrift eines Briefes, dessen Inhalt im Allgemeinen nicht interessiert, aus dem aber ein paar Sätze herangegriffen sind.)

Leben bedeutet kämpfen, leben wollen einzelne, leben wollen Völker; kämpfen muss daher der einzelne, und kämpfen müssen die Völker, wenn sie sich tüchtig und edel als Rasse erweisen wollen. Erst wenn sie brauchbare Kämpfer sind, dann sind sie würdig zu leben, haben sie die sittliche Berechtigung dazu. Das war in Urzeiten so, als die rohe Kraft das Leben schuf und nahm; das ist heute eben so, da geistige Überlegenheit die rohe Gewalt einschränkt, da die tierischen Instinkte durch höhere sittliche Forderungen verdrängt werden, die den Menschen erst zum Menschen machen, wenn anders unser Erdendasein überhaupt einen Zweck haben soll.

Zum fünften Male feiere ich Weihnachten in der Fremde. Ich stehe längst nicht mehr auf dem Boden der christlichen Kirche. Denn was sie uns bietet, kann den denkenden Menschen nicht befriedigen, der in der Lehre Christi das höchste sittliche Gesetz sieht, das nur durch die Weisheit indischer und chinesischer Gelehrter erreicht wird.
Trotzdem feiern wir Weihnachten, ob wir gläubig sind oder nicht; denn es ist ein uraltes Fest, das uns Deutsche besonders an unsere Pflicht erinnert.
 

Anmerkungen

1. Die Fahrt ging entlang der Ariake-Binnensee, die von dem am offenen Meer liegenden Nagasaki freilich durch eine Halbinsel getrennt ist.

2. Dass Briefe/Karten mit kritischen Inhalten beschlagnahmt wurden, war die Regel. Gleichwohl haben einige Beschwerden die Empfänger erreicht, was 1916 zur Revision der Lager durch eine Delegation der USA-Botschaft führte. Die Delegation (Leitung: Sumner Welles) besuchte am 8.3.1916 auch das Lager Kurume, jedoch hat Fischer darüber nichts Näheres notiert.
 

©  Hans-Joachim Schmidt (für diese Fassung)
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