Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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Von Shanghai nach Tsingtau – ein Stimmungsbericht

von Bodo von Gimborn
 

Als "Stimmungsbericht" hat Bodo von Gimborn seine handschriftlichen Notizen bezeichnet. Er beschreibt darin die Situation in Shanghai Anfang August 1914, seinen Weg nach Tsingtau und die ersten Tage dort. Die Original-Notizen und eine maschinelle Abschrift hat Bodos Neffe Hans-Siegmund von Gimborn freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
 

Der 28. Juni 1914 hat der Welt ein Ereignis gebracht, das jeden zivilisierten Menschen im Innersten seines Herzens empören mußte, ein Ereignis, dessen Tragweite wohl nur sehr wenige vorausahnten. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde durch alle Lande, daß der österreichische Thronfolger Erzherzog Ferdinand mit seiner Gemahlin in Serajewo von Bubenhand ermordet worden sind. Ich erinnere noch genau den Augenblick, wo mein Chef in Shanghai, Herr Westendorff, mit dieser Nachricht in meine Abteilung trat. Fast war es nicht zu fassen, was geschehen war, und der erste Gedanke war wohl bei jedem: "Was hat doch der greise Kaiser Franz Joseph nicht alles durchzumachen, es bleibt ihm doch nichts verschont." Wohl die Sympathien der ganzen Welt waren bei den trauernden Österreichern und Ungarn; wer konnte ahnen, daß wenige Wochen später als unmittelbare Folge jener ruchlosen Tat die Welt in einen Krieg verwickelt war, wie ihn die Geschichte noch nicht aufzuweisen hatte. Wohl erwähnte ich gesprächsweise zu meinem Mitarbeiter A. Hachmeister, daß diese rohe Tat der beiden jungen Serben nur einen Krieg zu sühnen ist, doch kam mir dieser Gedanke nur vorübergehend, ohne ihm weitere Beachtung zu schenken. Ich dachte nur an einen kriegerischen Austrag zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, doch wie die Geschichte lehren wird, brachte die Ermordung des Thronfolgerpaares sehr ernste Verwicklungen in der Weltpolitik. Österreich-Ungarn hatte, da es sich herausgestellt hatte, daß es sich bei dem Sarajewo-Attentat um eine lang vorbereitete Tat handelte, die im Zusammenhang mit der slawischen Bewegung zu stehen schien, die sich gegen das Germanentum richtete, an Serbien verschiedene Bedingungen gestellt, die, falls angenommen, Osterreich-Ungarn verbürgen sollte, daß ähnliche Gewaltakte sich nicht wiederholen sollten. Den serbischen Umtrieben sollte gesteuert werden, und deshalb ging die österreichisch-ungararische Regierung in sehr energischer Weise vor, die bei manchen Mächten wohl einiges Kopfschütteln hervorrief. Aber es sollte endlich klare Bahn geschaffen werden und nichts Halbes. Die österreichischen Bedingungen wurden schließlich in Form eines Ultimatums an Serbien gestellt, doch Serbien sah sich nicht in der Lage, wohl auf die Unterstützung Russlands rechnend und von dieser Macht gestärkt, alle Bedingungen anzunehmen. So kam es zum Bruch zwischen Osterreich-Ungarn und Serbien, der Krieg wurde am 28.7.14 erklärt. Der Stein wurde somit ins Rollen gebracht! Was sollte nun daraus werden, bleibt der Krieg auf diese beiden Länder beschränkt oder wird Russland oder gar noch andere Mächte eingreifen?

Wir hier draußen im Fernen Osten verfolgten mit großem Interesse den weiteren Gang der Dinge in Europa; täglich brachten uns die Telegramme die Nachrichten über die überaus heikle Lage, wie sich die schweren Gewitterwolken am politischen Himmel zusammenballten. Wird es den Diplomaten gelingen, einen Weltkrieg zu verhindern, oder liegt verschiedenen Mächten vielleicht gerade daran, einen solchen zu entfachen? Deutschland hatte jedenfalls auf bestimmteste Art und Weise erklärt, daß es seinen Bundesgenossen Österreich-Ungarn im Falle weiterer Komplikationen nicht im Stiche lassen, im Gegenteil mit allen Mitteln und Kräften seiner Heeresmächte und Marine unterstützen werde. Russland war sich also klar über diesen Punkt, andererseits hatte es wohl auch Zusagen seiner Entente-Freunde Frankreich und England, daß deren Hilfe ihm sicher sind, wenn es keinen anderen Ausweg mehr geben sollte, als in den Krieg miteinzugreifen. Und von Seiten Russlands wurde eine Einmischung in die österreichisch-serbischen Streitigkeiten am meisten befürchtet, war doch sicherlich auf Russlands Seite in vielen Kreisen ein sehnlicher Wunsch vorhanden, manche Frage der äußeren Politik gelöst zu sehen. Vielleicht war die Gelegenheit günstig! Immer kritischer wurde die Lage, die Haltung Russlands von Tag zu Tag bedenklicher; man begann zu rüsten in Russland, und gegen Ende Juli war es wohl zu befürchten, daß ein Eingreifen Russlands nicht mehr verhindert werden konnte. Die Diplomaten in Deutschland, England und Frankreich, unser Kaiser, König Georg wie auch Poincaré waren in gegenseitige Verhandlungen getreten und bemüht, die Entfachung eines Weltkrieges zu verhindern. Russland zog indessen immer größere Truppenmassen an der österreichischen und deutschen Grenze zusammen, während der Telegraph von Berlin und London in dauernder Tätigkeit nach Petersburg arbeitete, und in persönlichen Telegrammen und Vorstellungen wie Vermittlungsvorschläge an den Zaren übermittelte. - Es ist hier noch einzuschalten, daß Poincaré im Juli noch am Petersburger Hofe weilte und gerade noch zur rechten Zeit vor Anfang August nach Paris zurückkehren konnte. Von welchem Einfluß diese Begegnung auf die Haltung Russlands und die Entwicklung der Dinge gewesen ist, wird später die Geschichte lehren. - Die Welt stand in fieberhafter Erregung. So nahte der 1. August.

1.8.14.  Früh am Morgen dieses Tages waren anscheinend Nachrichten von Deutschland in Shanghai eingetroffen, daß die Mobilmachung bevorsteht. Von Tsingtau kam der Befehl, daß die Reserveoffiziere, Reserve und Ersatzreserve sich nach Tsingtau zu begeben haben. Nun war das Eis gebrochen. Diese Nachricht hatte man schließlich erwartet, und doch traf sie uns alle wie ein elektrischer Schlag. Schnell war sie im Club, in allen deutschen Firmen vermittels Telefonspruch und Autos verbreitet. Überall herrschte große Erregung, wußte doch niemand etwas Genaues. An Geschäft war unter diesen Umständen nicht zu denken. Die Chinesen zeigten großes Interesse und meinten wohl: "Germany number one strong, must win!"

Mein Chef hatte die Absicht, mit dem Lloyddampfer "Prinz Eitel Friedrich" am 1. August nach Hongkong zu fahren, doch gab er seinen Plan bereits am 31. Juli auf und hat auch gut daran getan, denn der Dampfer blieb in Shanghai und ist ein paar Tage später glücklich in Tsingtau gelandet, um als Hilfskreuzer ausgerüstet zu werden.

Infolge des Tsingtau-Befehls ging am Sonnabend, den 1. August, um 1 Uhr nachmittag der erste Trupp von ca. zehn Mann nach Tsingtau weiter, zur Bahn über Nanking, Pukou und Tsinanfu. Eine große Anzahl Begleiter hatte sich an der Bahnstation eingefunden, um diesen ersten Eingezogenen die besten Wünsche mit auf den Weg zu geben. Unter Hurrah-Rufen und dem kräftigen Lied "Deutschland, Deutschland über alles" setzte sich der Zug in Bewegung. Jetzt ist es doch Wirklichkeit geworden, Deutschland stand vor dem Krieg. Die Begeisterung unter den Deutschen Shanghais ging sehr hoch; alles bereitete sich für Tsingtau vor; im Club herrschte ein reges Leben, die eingehenden Telegramme wurden mit großer Gier verschlungen. Noch waren die Diplomaten zu Hause in Unterhandlungen, aber Russland rüstete weiter.

Am 1. August abends 11 Uhr fand sich wieder ganz Deutsch-Shanghai an der Bahn, der zweite Trupp von ca. 70 Mann brach nach Tsingtau auf, und bereits im Club wurde begeisterter Abschied gefeiert. Es wollte gar kein Ende nehmen mit "Heil Dir im Siegerkranz", "Deutschland, Deutschland über alles", "Es braust ein Ruf wie Donnerhall", mit wehenden deutschen Fahnen, auf Autos, im Wagen, Rikschas, in der elektrischen Bahn ging's zum Bahnhof (wohl meinten einige, daß in Anbetracht des internationalen Charakters Shanghais es nicht angebracht wäre, mit Flaggen durch die Straßen zu ziehen), und dort harrte der Ankommenden eine neue Überraschung. Der in Shanghai so gut bekannte Schlachtermeister Richard Neumann hatte sich mit seiner Hauskapelle eingefunden und dirigierte dort eigenhändig begeistert aufgenommene Vaterlandslieder. Es war ein Leben auf diesem Bahnhof, wie es Shanghai noch nicht gesehen hatte, urdeutsch, deutsche Begeisterung, Freude, Opferwilligkeit, und doch gleichzeitig ein tiefer Ernst vor der Bedeutung der Ereignisse zu Hause.

Kurz vor Abfahrt des Zuges erschien Herr Finck, Herausgeber des Ostasiatischen Lloyd in Shanghai, und gab im Laufe seiner feurigen Ansprache das eben eingelaufene Telegramm bekannt, daß unser Kaiser an Russland das Ultimatum gestellt hat, Russland müsse sich verpflichten, innerhalb zwölf Stunden die Versicherung zu geben, seine Mobilisierung von Truppen an seiner Westgrenze (unserer und Österreichs Ostgrenze) sofort einzustellen, widrigenfalls Deutschland sich gezwungen sähe, entsprechende Gegenmaßregeln zu treffen. Finck gab ferner bekannt, daß die Sozialdemokraten Russland allein die Schuld zusprechen, daß es soweit gekommen ist. Seine Ansprache schloß in einem Hoch auf unseren Kaiser. Da kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr, der Bahnhof dröhnte förmlich unter den Hurrah-Rufen, unter dem immer wieder begeistert aufgenommenen "Deutschland, Deutschland über alles". Alt und Jung, Groß und Klein stimmten ein in den Gesang, besonders auch die Damen, die in großer Anzahl erschienen waren. Stolz und Freude sprach aus aller Augen darob, daß unser Kaiser und seine Regierung sich nicht schwach gezeigt hatten im entscheidenden Augenblick, daß Deutschland sich nicht demütigen lassen würde, daß es fest stand wie ein Mann, wenn es galt, sich vor anmaßenden Nachbarn zu schützen. Das war diesmal richtige Politik.

So gingen die letzten Minuten bis zur Abfahrt des Zuges in einer herrlichen Stimmung dahin, die vielleicht von anwesenden Engländern, die in sehr kameradschaftlicher Weise ihrem Freunden noch Lebewohl sagen wollten, nicht ganz verstanden worden ist, sind sie doch in militärischer Hinsicht ganz anders erzogen als wir Deutsche. Es war 11 Uhr, und unter brausendem Hurrah, den Klängen der Kapelle, Tücherschwenken und noch manch kräftigem Händedruck verließ der Zug die Halle mit diesem zweiten Trupp von Tsingtaus Verteidigern, einem ungewissen Schicksal entgegen. In noch begeisterter Stimmung als auf dem Herweg wurde die Rückfahrt zum Club angetreten und noch bis spät in die Nacht saßen wir dort zusammen, nach allen Richtungen die politische Lage besprechend. Wird England auch eingreifen, und wie wird sich Japan verhalten? Welche Rolle wird Tsingtau spielen? Die Ansichten gingen sehr auseinander, die einen meinten, der Aufenthalt dort würde zu einer wahren Erholung werden, man würde sich dort die Zeit schön mit Lesen, Tennisspiel, Flirten vertreiben können; andere dachten entschieden pessimistischer. Daß die erste Ansicht wohl unter manchen der Eingezogenen verbreitet war, beweist der Umstand, daß einige sich Tennisschläger und Smoking mitgenommen hatten. Mit ganz eigenartigen Gedanken legte man sich an diesem 1. August zu Bett. Wie wird es morgen aussehen?

2.8.14.  Im Club vom frühen Morgen an das regste Leben, jeder spähte nach den letzten Telegrammen, die, um den Ansturm befriedigen zu können, in Duplikat und Triplikat an verschiedenen Stellen angeheftet wurden. Immer noch waren Verhandlungen der Diplomaten im Gange, aber Russland rüstete unbeirrt weiter, und doch glaubte man hoffen zu können, daß schließlich doch noch eine Verständigung erzielt werden könne. In dieser Hinsicht schien dann aber jeder Zweifel behoben geworden zu sein, als am Sonntag morgen um 11 Uhr der Vizekonsul von Tippelskirch in Vertretung des Generalkonsuls Knipping, der zur Erholung in Tsingtau weilte, verkündete, daß als eine Folge der Nichtbeantwortung des Ultimatums durch Russland in Deutschland mobil gemacht wird. Ich selbst war im Club nicht dabei, sondern kam erst später dazu. Wirr gingen die Stimmen durcheinander, alle mit dem einen Thema "Mobilmachung", "Krieg" beschäftigt. Gleichbedeutend war dies mit dem Einziehen der Reserve, evtl. auch Landsturm nach Tsingtau. Etwas Genaues war noch nicht bekannt geworden, doch machte sich ein jeder bereit, um sofort abfahren zu können. Ich selbst zählte zur Landwehr I.

Auf nachmittags 5 Uhr wurde eine Versammlung im Konsulat einberufen der gesamten Militärpflichtigen, Reserven, Ersatzreserven, Landwehr I und II und Landsturm. Die Einteilung wurde vorgenommen, und Landwehr I wurde nach Tsingtau beordert. Jeder sollte so bald wie möglich abfahren, am besten schon abends, spätestens mit dem 1-Uhr-Zug des folgenden Tages. Gleichzeitig sollte auch Ersatzreserve und die noch nicht abgefahrene Reserve abrücken. Da ich noch verschiedene Angelegenheiten privater wie geschäftlicher Art zu erledigen hatte, beschloß ich, den Zug am Montag um 1 Uhr zu benutzen. Bei meinem Rückweg vom Konsulat ging ich noch einmal im Club vorbei; neue Telegramme waren angekommen, englische Meldungen, daß die Vermittlung King George's anscheinend einigen Eindruck in Petersburg gemacht hat. Sollte es doch möglich sein, daß ein Weltkrieg vermieden wird? Wer wußte es; man erging sich in unmöglichsten Argumenten und Erwägungen, Mutmaßungen, ohnmächtig dem Gang der Dinge gegenüberstehend. Der Befehl für mich war da. Es galt also die nötige Schritte zu tun.

Erst am 30. Juli nach 10tägiger Krankheit (Bronchiopneum) aus dem Hospital entlassen, fühlte ich mich nicht gerade sehr kräftig für einen eventuell sehr anstrengenden militärischen Dienst, aber immerhin stark genug, mit den übrigen Kameraden nach Tsingtau zu rücken und mit ihnen zu teilen, was auch unser Los sein würde. Am Abend des Sonntags packte ich meine Habseligkeiten zusammen, ordnete einigermaßen das Zurückgebliebene, und der Morgen des 3. August fand mich bereit zur Abfahrt.

3.8.14.  Meinem Meßkollegen Berghager übergab ich mein Hab und Gut zur Aufbewahrung (Meßkollege Halben lag im Hospital); um 1 Uhr sollte die Abreise vor sich gehen. Bis dahin gab es im Geschäft noch allerlei zu tun, wenn auch Hachmeister, mein Mitarbeiter, bis jetzt nicht mitzuziehen brauchte. Über die Verwendung der Ersatzreserve, der meine Geschäftskollegen Thies, Weitz und Laetzsch angehörten (Nack als Reservemann war bereits am Sonnabend abgefahren), war auch noch nichts bekannt; einmal hieß es, sie wird in Tsingtau gebraucht, das andere Mal wieder, daß sie vorläufig noch nicht einzurücken braucht; auch gingen Gerüchte um, daß Landwehr I noch nicht abfahren soll. Ich ging schließlich zum Konsulat, um mich zu vergewissern und fand es bestätigt, daß die Einberufung der Landwehr I rückgängig gemacht worden ist. So wurde es also nichts mit der Abfahrt. Mein Boy hatte inzwischen mein Gepäck zum Geschäft gebracht, und, von seiner Seite aus ganz logisch denkend, auch nicht vergessen, das Gewehr, das ich als Mitglied der deutschen Reservekompagnie gebrauchte, ebenfalls mitzubringen. Damit brauchte ich mich später doch nicht abzuschleppen.

Im Laufe des Tages gingen dann Telegramme ein, daß russische Truppen in Ostpreußen eingefallen sind, während deutsche Abteilungen die französische Grenze überschritten haben. Jetzt stand es für uns alle fest: Krieg! Krieg gegen Russland und gegen Frankreich. Deutschland hat denn auch am 3. August an Frankreich offiziell den Krieg erklärt.

Was wird England anfangen, hält es sich neutral oder fühlt es sich verpflichtet, mit einzugreifen? Diese Frage interessierte und beschäftigte uns Ostasiaten ganz bedeutend, ist doch von der Haltung Englands eventuell die Stellungnahme seines Freundes Japan abhängig, was eventuell betreffend Tsingtau und unseres Kiautschou-Gebietes von großer Wichtigkeit und Bedeutung sein würde. Wie es auch immer kommen sollte, wir wußten, daß in unserem Heimatland eine Begeisterung, eine Einigkeit und ein einziger Wille herrschte, wie ihn die Welt wohl noch kaum gesehen hatte. Und diese Stimmung hat sich nach Ostasien verpflanzt. Von allen Seiten hörte man, daß die Eingezogenen und eine ganze Reihe Freiwillige auf dem Wege sind nach Tsingtau, um dort mitzuhelfen an der Verteidigung dieser deutschen Kulturstätte im Fernen Osten, sollte es wirklich soweit kommen.

4.8.14.  Mit großer Spannung verfolgten wir nun in Shanghai die Entwicklung der Dinge. Der 4. August verlief für uns, ohne daß wir von den gewaltigen Worten gehört hätten, die vor und an diesem Tage von unserem Kaiser gesprochen wurden, markige Worte, die als ein fester Gedenkstein in der Geschichte Deutschlands stehen werden: "Ich kenne kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche" - und weiter: "In aufgezwungener Notwehr, mit reinem Gewissen und mit reiner Hand ergreifen wir das Schwert, um mit der gesamten Kraft und in brüderlichem Zusammenstehen mit unseren Bundesgenossen zu verteidigen, was wir in friedlicher Arbeit geschaffen haben; nach dem Beispiel unserer Väter fest und getreu, ernst und ritterlich, demütig vor Gott und kampfesfroh vor dem Feind - vertrauend der ewigen Allmacht, die unserer Abwehr stärken und zu einem guten Ende leiten wolle."

Der Ausbruch des Krieges hat natürlich für die deutschen Firmen Verhältnisse geschaffen, die ihnen eventuell große Opfer auferlegen können und müssen, und selbstverständlich mußten Mittel und Wege gefunden werden, um über solche Mehrlasten, die ein Krieg fordert, hinwegzukommen. Die deutsche Vereinigung hatte auch verschiedene Sitzungen, um die Lage zu besprechen, vor allem, um die Stellungnahm der Firmen gegenüber denjenigen Angestellten klarzustellen, die eingezogen wurden. Mein Chef hat uns zur Besprechung dieses Punktes am 4. August morgens in sein Arbeitszimmer gerufen und uns eröffnet, daß nach dem Gesetz bei Ausbruch eines Krieges alle Kontrakte als gelöst zu betrachten sind, daß es aber den Firmen in Shanghai fernstände, ihre Angestellten zu entlassen, im Gegenteil, es läge ihnen daran, sie möglichst zu halten. Andererseits müßten wir auch einsehen, daß bei dem Ausbleib neuen Geschäfts es kaum möglich sein werde, während der Dauer des Krieges denjenigen Angestellten, die nach Tsingtau zu gehen haben, volles Gehalt zu zahlen, es sei vielmehr in Aussicht genommen, ca. $ 50.- pro Monat zu bezahlen; außerdem müßte eventuell den zurückgebliebenen Angestellten ein gewisser Abzug gemacht werden. Im übrigen müsse sich die Firma einschränken, wo es geht, und es empfehle sich, daß die Angestellten schon jetzt Anordnungen treffen, um sich das Leben zu verbilligen, so zum Beispiel zusammen eine Wohnung nehmen et cetera. Herr Westendorff hat selbst liebenswürdiger Weise angeboten, daß zwei Herren bei ihm wohnen könnten. Es waren eben ganz andere Verhältnisse geschaffen, und man mußte sich nach der Decke strecken. Dagegen war ja nichts einzuwenden, wenn es auch nicht leicht ist, von alten Gewohnheiten, die einem lieb geworden sind, zu lassen.

Inzwischen waren die ersten Telegramme aus Deutschland eingetroffen; die Russen waren in Ostpreußen eingedrungen, Franzosen drangen ins Elsaß ein, und deutsche Kräfte waren bis Longwy vorgedrungen. Nichts desto trotz hörte man immer noch von Vermittlungsversuchen, es war also noch nicht aufgegeben worden, den Weltkrieg zu verhindern. Im Vordergrund des Interesses stand England und die brennende Frage, ob dieses Land seinen Entente-Freunden beispringen wird oder nicht. Von England wurde das abhängig gemacht von der Behandlung deutscherseits der Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens. Während England die Neutralität dieses Staates unbedingt gewahrt wissen wollte - wenigstens von Deutschland -, behielt sich der Kaiser und seine Regierung vor, diejenigen Schritte betreffend Belgien zu unternehmen, die er für die Sicherheit des Landes für unbedingt erforderlich hielt. Die Frage war eine sehr heikle, und auf Seiten der belgischen Regierung bestand keine Neigung, auf Deutschlands Wünsche, Truppen durch Belgien durchmarschieren zu lassen, einzugehen. So hielt diese Frage die ganze Welt in aufgeregtester Spannung, war es doch auch von weittragendster Bedeutung, ob England mit seiner mächtigen Flotte an dem Krieg teilnehmen wird oder nicht.

5.8.14.  Ein kleines Extrablatt, das am Nachmittag des 5. August in den Straßen von Shanghai zu lesen war mit in lakonischer Kürze gehaltenen Worten: "War has been declared against Germany" (unterzeichnet von Sir Fraser, dem englischen Generalkonsul), beseitigte schließlich jeden Zweifel. Ein jeder war sich wohl der Bedeutung dieses Entschlusses bewußt, nun wird es zu einem Krieg und Ringen kommen, wie die Welt sie noch nicht gesehen haben würde. Es war ein schwerer Schlag für das deutsche Volk, und doch atmete alles in Shanghai auf, endlich aus dieser großen Ungewißheit der letzten Tage herausgerissen zu sein. Jeder wußte nunmehr, woran er war, und vor allem waren betr. England die Karten endlich aufgedeckt worden. Deutschland hatte jetzt gegen nicht weniger als drei starke Gegner zu kämpfen, aber wohl nie war es so einig und fühlte sich so kräftig wie an diesem bedeutenden 5. August.

Ich hatte obiges Extrablatt gegen 5 Uhr gelesen, und es war mir klar, daß es nun kein Warten mehr gab. Die Parole hieß jetzt: Tsingtau. Mit meinem Geschäftskollegen Thies ging ich sofort zum Konsulat und erkundigte mich, wie es mit der Landwehr I und Ersatzreserve stünde. Offiziell war das Konsulat bereits geschlossen - vielleicht auch aus anderen Gründen - doch konnten wir durchs Fenster von Herrn Vizekonsul Lütgens erfahren, daß wir so schnell wie möglich abzufahren hätten. Wir fragten noch, ob der Weg über Nanking-Pukou sicher wäre, worauf uns kurz geantwortet wurde, daß wir selbst sehen müßten, wie wir durchkommen. Es waren nämlich allerlei Zweifel aufgekommen, ob uns von den Engländern auf der Shanghai-Nanking- wie auf der Pukou-Tsientsin-Bahn (südliche Strecke) Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden könnten. Man hörte sogar die Meinung aussprechen, daß der Generalkonsul Sir Fraser die Abfahrt des Abendschnellzuges verhindern könnte. Ich war jedenfalls fest entschlossen, mit dem Abendzug abzufahren; ich hatte nur noch ins Geschäft zu gehen, um die letzten paar Sachen zu erledigen. Meinen Chef traf ich gerade noch zur rechten Zeit auf der Nanking Road, um ihm mitteilen zu können, daß ich am Abend abrücken würde. Er ging mit ins Geschäft zurück, wir besprachen das Notwendigste zusammen, ich übergab ihm die geschäftlichen wie auch einige Privatsachen, und damit sagte ich den wohlbekannten Stätten friedlicher Tätigkeit Ade, um mich vollends ganz für eine andere Tätigkeit in Tsingtau zu rüsten.

Mein großes Gepäck war gleich von Montag an im Geschäft stehen geblieben, so hatte ich nur noch die notwendigsten Kleinigkeiten zusammenzupacken. Ich ging erst in den Club, traf dort nochmals Herrn Westendorff, der dann noch mit Bankdirektor Figge (Deutsch-Asiatische Bank) anordnen konnte, daß uns vieren der Firma Garrels Börner & Co., die an diesem Abend abfuhren - es waren Thies, Weitz, Loetzsch und ich - auf der Bank $ 1000.- ausgezahlt wurden, der Monatsgehalt per August für uns vier. Es war sehr fürsorglich von Herrn Westendorff, daß er uns diese Summe noch aushändigte. Vom Club also zur Bank, von dort nach Hause, zum letzten Mal im eigenen Heim. Eigene Gedanken bestürmten mich. Wieder die Ungewißheit: Was wird in Tsingtau werden? Friede oder auch dort Krieg? Schnell war das Mahl beendet, meine sieben Sachen waren bald beisammen, und zurück ging's wieder in den Club, dem Sammelpunkt aller Deutschen. Dort fühlte man sich eigentlich am wohlsten, mitten drin in all dem Trubel, in der Stimmung der Begeisterung. Der Kreis der Zurückbleibenden, aus Landwehr II, Landsturm und Unabkömmlichen bestehend, wurde immer kleiner. Mein Billet hatte ich mir bereits vorher besorgt, ich kam mit B. Thies in einen Abteil; so verblieb mir noch einige Zeit, um mit den zurückbleibenden Kameraden den letzten Trank zu nehmen.

Der Generalkonsul Knipping war von Tsingtau zurückgekehrt und berief noch schnell eine Versammlung der Landwehrleute und Ersatzreserve im Club ein. In erster Linie sollte nochmals bekannt gegeben werden, daß wir einberufen worden sind, dann aber sollten Vorkehrungen getroffen werden für einen Geldtransport nach Tsingtau. Jedem Abfahrenden sollten $ 500.- in Silber beigegeben werden, da es mit anderen Möglichkeiten, Geld nach Tsingtau zu befördern, sehr schlecht bestellt war. Der Schiffsverkehr erfuhr natürlich sofortige Unterbrechung und Aufgabe bei der Kriegserklärung Englands. Ich hatte leider keinen Platz mehr in meinem Gepäck; immerhin kamen auf obige Weise $ 20.000.- nach Tsingtau. Mit kurzem Worten auf die Bedeutung der Ereignisse weisend und mit den besten Wünschen für die Zukunft entließ uns der Generalkonsul.

Gegen 10.30 Uhr brach ich mit den gleichfalls abrückenden Kameraden zum Bahnhof auf. Wieder eine große Menge Deutscher, um den Abziehenden das Geleite zu geben. Aber welch ein Unterschied gegen die Abende vorher, besonders gegen Sonnabend, wo Kriegsmusik ertönte und Kriegslieder erschollen. Es herrschte große Ruhe und Stille. In Anbetracht des internationalen Charakters der Stadt Shanghai sollte, wo der Krieg mit England erklärt war, von jeglicher Demonstration, die unsere Shanghaier Freunde, mit denen wir tagaus tagein in sehr freundschaftlicher Weise in Clubs, Theatern, Bällen, beim Sport verkehrten, beleidigen könnten, abgesehen werden; das gute Einvernehmen der Deutschen und Engländer sollte nicht gestört werden. Und doch lag nicht minder über diesem Abend am Bahnhof die gleiche, große Begeisterung der vorangegangenen Tage, nur von größerem Ernst getragen. Das Signal zum Einsteigen war gegeben, der Zug war voll besetzt, wir waren ca. 80 Mann. Nach allen Seiten noch ein Lebewohl, und lautlos zog der Zug hinaus unter Tücherschwenken und vielen guten Wünschen, aber ohne Hurrah, ohne Lieder, einer ungewissen Zukunft entgegen!

Der Zug rollte hinaus in die Nacht durch wohl bekannte Gegend; Thies und ich machten unser Abteil zurecht. Überall standen Gruppen zusammen, eifrig die Lage nach allen Richtungen hin besprechend, voll der großen Eindrücke der hinter uns liegenden Tage. Jetzt erst konnte man eigentlich erst entdecken, wer von den Shanghaier Kameraden alles mitgezogen ist. Viele bekannte Gesichter begegneten einem, und doch sah man so manches fremde Gesicht, dem man in Shanghai niemals begegnet ist. Über unsere nächste Zukunft gingen unter den Mitreisenden die Ansichten sehr auseinander, und noch mehr über die vermutliche Dauer unseres Aufenthaltes in Tsingtau. Im allgemeinen herrschte ja wohl die Meinung, daß ein moderner Krieg in ein paar Monaten zu Ende sein müßte, schon weil die finanziellen Mittel wohl kaum länger ausreichen würden. Es dauerte aber nicht sehr lange, da begab sich alles zur Ruhe, die wohl jedem nach den Aufregungen der letzten Tage nur gut tun konnte.

6.8.14.  Der nächste Morgen sah uns um 7 Uhr in Nanking, wo wir gerade Zeit genug hatten, um zur Fähre zu marschieren; mit dem Gepäck klappte alles, auch mit der Überfahrt nach Pukou, dem Ausgangspunkt der Tientsin-Pukou-Bahn. In Nanking sahen wir das abgerüstete Kanonenboot "Vaterland" liegen, das von der Firma Melchers & Co. übernommen worden war und Schlepperdienste leisten sollte. Pukou ist zu einem wichtigen Punkt geworden, und man verspricht sich von ihm noch eine gute Zukunft mit Rücksicht auf einen wachsenden Exporthandel mit Honan, Anhui und gar Shantung. Deshalb ist der Platz gleich von Anfang an entsprechend angelegt worden, nicht nur was den Bahnbetrieb betrifft, sondern es sind dort größere Lagerhäuser für den Exporthandel errichtet worden, desgleichen umfangreiche, zweckentsprechende Kaianlagen. Angenehm berührte es uns, in einen bequemen Zug einsteigen zu können, der einen Speisewagen mit sich führte und deutsch sprechende chinesische Bedienstete. Um 9.50 Uhr vormittag ging die Fahrt los, nachdem sich uns noch mehrere Matrosen von "Vaterland" angeschlossen hatten. Es hat doch alles gut geklappt, und die in Shanghai ausgesprochenen Befürchtungen wegen eventueller Störungen waren durchaus ungerechtfertigt.

Mir war die Bahnstrecke Pukou-Tsientin nicht bekannt, deshalb interessierte mich die Gegend, obwohl sie wenig Reizvolles bietet. Es war ein heißer Tag. An wichtigen Stationen ist Pengpu zu erwähnen, ein lebhafter Handelsplatz, an dem sich auch einige deutsche Firmen niedergelassen haben. Dann kam Hsuchoufu, wo wir die ersten Nachrichten über die Lage zuhause zu hören bekamen. Gutes war es nicht. Die deutsche Flotte soll zum großen Teil vernichtet sein, vor Tsingtau sollen 18 japanische Kriegsschiffe liegen! Wird Japan also doch mit eingreifen? Was sollte man von derartigen Gerüchten halten? Es setzten heftige Debatten ein, aber der Optimismus behielt doch die Überhand. An so große Verluste, wie sie uns geschildert wurden, wollte doch niemand so recht glauben.

Wir waren auf der Nordstrecke der Bahn angekommen, die sich von der von den Engländern gebauten Südstrecke durch stilistisch sehr schön ausgeführte Bahnhofsanlagen und Gebäude auszeichnet. Man fühlte sich so recht nach Deutschland versetzt. Landschaftlich blieb die Gegend sich gleich in der Eintönigkeit, wenig Berge und Bodenerhebungen, überall Felder und wieder Felder, die von den chinesischen Bauern allerdings in musterhafter Ordnung bestellt waren.

7.8.14.  Erst gegen den frühen Morgen des 7. August wechselte das Bild; zu beiden Seiten der Bahnlinie tauchten Berge auf, den Augen eine wohltuende Abwechslung. Es wurde lebendig im Zug, man bereitete sich vor für die Ankunft in Tsinanfu. Um 6 Uhr lief der Zug in die Station ein. Die erste Etappe war erreicht! Wir wurden in Empfang genommen durch einige Tsingtauer Herren vom Flottenverein und zunächst zum Hotel Stein geführt, wo ein gutes Frühstück unserer wartete. Ich hatte Zeit genug, einen kleinen Rundgang durch die Stadt zu machen; ich hatte sie mir ganz anders vorgestellt und nicht die schön angelegten Straßen, die soliden Gebäude der deutschen Firmen, ein Privathospital, das Konsulat in solcher Vollkommenheit vorgestellt. Schon der große Bahnhof läßt den Eindruck erwarten, daß Tsinanfu ein bedeutender Platz ist oder sicherlich noch werden soll. Der Tsingtauer Zug fuhr um 8 Uhr ab vom Nebenbahnhof. Während wir das Billet Shanghai-Tsinanfu selbst zu bezahlen hatten, wurde uns für die Endstrecke Tsinanfu-Tsingtau eine Fahrkarte ausgehändigt. Wir waren ja auch auf deutscher Strecke (Shantung-Bahn). Es machte sich schon ein gewisser militärischer Ton bemerkbar.

Vor der Abfahrt traf ich noch alte Bekannte am Bahnhof (Paulsen, Dr. Müller, Gericke), deren Ziel gleichfalls Tsingtau war. Sie waren vom Norden gekommen, Tsientsin und Peking, und mit ihnen eine Reihe eingezogener Landwehrleute und Ersatzreservisten. Pünktlich verließen wir Tsinanfu, wieder in schönen deutschen Wagen, deutschem Gebiet entgegen. An dem Bau der Bahnstrecke sah man sofort die gediegene deutsche Arbeit. Vorbei ging es an Weihsien, in der Nähe der Kohlenbergwerke der Shantung Bergbau Gesellschaft, wo außerdem die amerikanische Mission mit einer großen Gemeinde stark vertreten ist, bis wir um 3.30 Uhr in Kiautschou anlangten und damit an der Grenze des Pachtgebietes. Immer näher dem Ziel! Bald hatten wir das Meer erreicht, in der Ferne tauchten die Spitzen der Laushan-Berge auf, herrlich beleuchtet von der Abendsonne. In Tsinanfu hatten wir gehört, daß ein Teil der Bahnstrecke von Reservetruppen bewacht ist, und es dauerte auch nicht gar zu lang, bis wir vor Zankau den ersten Posten bemerkten, der vom Zug aus mit Jubel begrüßt wurde.

Noch 15 Minuten, und wir sind da. Tsingtau-Kleiner-Hafen, hieß es. Überall Truppen, Bahnstreckenposten, Bahnhofsbewachung. Im Hafen erregte besonders der von der "Emden" aufgebrachte russische Hilfskreuzer unsere Aufmerksamkeit, dann der "Prinz Eitel Friedrich". Einige Offiziere begrüßten am Zug ihre Kameraden, und ganz zufällig hörte ich die Äußerung eines österreichischen Marineoffiziers, daß es zu befürchten steht, daß unser Dreibundfreund Italien an Österreich und Deutschland den Krieg erklären würde, und das in circa 14 Tagen. Das war keine erfreuliche Nachricht, die, wenn auch noch nicht offiziell, uns doch etwas bedrückte. Aber bald hieß es dann, nun gut, wenn es sein muß, nehmen wir es mit Italien auch noch auf. Sonst hatten wir nichts über die Kriegslage gehört.

Tsingtau rückte näher und näher, schon hörten wir Klänge von Militärmusik, die sich auf dem Bahnhof zu unserem Empfang eingefunden hatte. Der Zug läuft um 5 Uhr an, von einer großen Menge erwartet. Tsingtau war noch von einer ziemlich starken Anzahl Sommergäste besucht. Abgesehen aber von der Militärkapelle wurden wir von sonstigen Militärpersonen in Empfang genommen, die uns behilflich waren mit dem Ausladen unsereres Gepäcks und Auftreibung von Rikschas, auf denen unsere Habseligkeiten zur Kaserne befördert werden sollten. Wir selbst stellten uns vor dem Bahnhof in Sektionen auf und marschierten dann mit Regimentsmusik durch Tsingtaus Straßen, freudig von der Einwohnerschaft begrüßt, vorbei am Gouverneurshaus über die Ostlagerstraße zur Bismarckkaserne. Ein begeisterter Einzug in unsere schmucke Kolonie, das Kleinod deutscher Kolonisation. Und doch hatte ich mir meinen ersten Besuch Tsingtaus anders gedacht, als freier Besucher und nicht als Militärperson, denn solche waren wir ja mit der Minute unserer Einberufung in Shanghai. Der erste Eindruck war sicherlich einer mit gemischten Gefühlen; wie gerne hätte ich mir die schöne Villenstadt, die mit den wohlgepflegten Straßen, herrlichen Garten- und Parkanlagen, wo Verschwendung des Raumes anscheinend keine Rolle spielte, einen sehr schmucken Eindruck machte, beim ersten Besuch in aller Ruhe angesehen und bewundert; soll doch vor allem der Anblick der Stadt bei der Einfahrt von See ein besonders herrlicher sein. Jedenfalls war ich entzückt von Tsingtau, und meine Erwartungen, die ich nach den verschiedenen Schilderungen ziemlich hoch geschraubt hatte, wurden nicht enttäuscht.

Wir waren nach circa 25 Minuten Marsch an der Bismarckkaserne angekommen und wurden dort von den bereits früher eingetroffenen Shanghaiern und sonstigen Bekannten freudig begrüßt. Schnell wurde die Verteilung in die verschiedenen Kompagnien vorgenommen, nachdem erst das aus Shanghai mitgebrachte Geld abgegeben war. Ich wurde der 7. Kompanie, der Landwehrkompanie, zugeteilt und mit mir der größte Teil meiner Shanghaier Bekannten. Wir konnten in der Bismarckkaserne bleiben, während ein Teil der Mitangekommenen in die Moltke-Kaserne einquartiert wurde (Artilleristen und Kavalleristen, auch einige Reserveleute). Die Räume der 2. Kompanie wurden uns zugewiesen, und dort machten wir es uns, so gut es ging, bequem, besetzten schnell unsere Betten und Spinde. Die Verteilung auf die Stuben sollte erst eine vorläufige sein, später sollten die verschiedenen ausgesprochenen Wünsche berücksichtigt werden. So waren wir jedenfalls untergebracht. Für den Abend erhielten wir die Erlaubnis, auszugehen. So machten wir uns nach dem Hotel Prinz Heinrich auf, um dort zu Abend zu essen. Ich traf dort auch Herrn Hauptmann Schellhoss, der in Tsingtau zur Erholung weilte mit seiner Frau und natürlich sehr erfreut war, alte Shanghaier Bekannte und ehemalige Mitglieder der Freiwilligen-Kompagnie, deren Führer er ist, zu treffen. Bis 9 Uhr hatten wir Zeit und konnten uns noch eine Weile auf der Veranda dem einzigen Gespräch, der Kriegspolitik, hingeben.

Als gediente Soldaten wollten wir natürlich am ersten Abend auch nicht zu spät einrücken und machten uns deshalb rechtzeitig auf den Rückweg zur Kaserne, um seit langen Jahren wieder zum ersten Mal einen Strohsack als Bett zu versuchen. Daran mußte man sich erst wieder gewöhnen, und an so manches andere auch. Einen Boy hatte man nicht zur Hand wie in Shanghai, hier hieß es eben selbst mitangreifen. Bis auf eine Ausnahme waren wir alle pünktlich erschienen und haben uns unter unsere Moskitonetze verkrochen, doch zur Ruhe sollte es so schnell nicht kommen. Jeder hatte noch etwas zu erzählen, alte Erinnerungen aus der Soldatenzeit wurden ausgekramt; den Hauptanteil davon hatte jedenfalls unser Kamerad Weigel, der uns manchen Streich und Scherz aus seinen Dienstjahren erzählte und uns aus dem Lachen gar nicht mehr herausbringen konnte. Erst war uns die Stubengenossenschaft gerade dieses Mannes nicht sonderlich angenehm, seines Rufes wegen, den er in Shanghai genoß. Als Soldat aber war der Mann so gediegen wie jeder andere, und mit den seinerzeit unausgesprochenen Gefühlen ist ihm sicherlich Unrecht geschehen. - Bei all dem Erzählen machte sich schließlich aber doch die Müdigkeit fühlbar, und so allmählich duselte einer nach dem anderen ein. Eine geraume Zeit mußte vergangen sein, da ertönten auf einmal heftige Protestrufe ob des allzu kräftigen Schnarchens einiger Kameraden. Ja, man war nicht allein in seiner Schlafstube. Es wurde wieder ruhig, und erst der schnarrende Ruf des Unteroffiziers vom Dienst "Aufstehen" weckte uns wieder aus festem Schlaf.

8.8.14.  Es ist also doch ganz gut gegangen auf dem Strohsack! Vor dem Frühstück schnell eine kalte Brause, eine sehr willkommene Einrichtung in der Kaserne, die allgemeinen Anklang fand und eifrig benutzt wurde. Dann "Kaffeeholen", "Brot fassen". In einem großen Eimer wurde der schwere Mokka herangeschleppt; den Umständen entsprechend schmeckte er nicht schlecht, und auch das Kommißbrot ließen wir uns nicht entgehen. Wem es nicht paßte, der konnte sich in der Kantine Brötchen holen. Selbstverständlich mußte unsere Stube rein gemacht werden; also Besen her und drauflos gefegt, so ungewohnt die Arbeit einem jeden von uns vorkam. Aber da gab es eben keine Zimperlichkeiten; jeder mußte anfassen. Später machten wir mit Weigel ein Abkommen, wonach er gegen ein Entgelt von $ -.10 pro Mann und pro Tag den Stubendienst versah. Auf diese Weise waren wir davon befreit, und Weigel kam zu etwas Geld, was ihm bitter nottat.

Der erste Dienst war getan. Kurz darauf hieß es: Antreten zur ärztlichen Untersuchung. Beim Militär heißt es "Warten" lernen, und wer dies wieder vergessen hatte, konnte es bei dieser Untersuchung wieder lernen. Aber schließlich kamen auch wir an die Reihe. Die Untersuchung war sehr genau auf Augen, Ohren, Maße, Gewicht, Herz und Lungen. Dr. Birt, Dr. Fischer (beide Ärzte aus Shanghai) untersuchten mich und konnten mich dem Oberstabsarzt Praefcke als tauglich melden. Mir war dies eine Beruhigung, da ich ja erst kürzlich noch krank lag und so doch wußte, das alles wieder in Ordnung war. Gleich anschließend an die Untersuchung wurde auf der Kammer die Ausrüstung gefaßt, Khaki-Uniform, Mütze und all die 1000 Sachen, die zu einem Soldaten gehören. Ich gehörte damals der 2. Korporalschaft an mit Geyer als Korporalschaftsführer. Nun ging es an ein Putzen und Blankmachen der Knöpfe, daß es eine wahre Freude war. Mit Knopfgabel wurde wieder hantiert und mit Creme, wie zur Soldatenzeit, als ob man die ganze Zeit über nichts anderes getan hätte. Sonst hatten wir keinen Dienst.

Unser Mittagessen nahmen wir in der Kantine ein, die eigentlich nur für Unteroffiziere bestimmt war. Für $ -.30 bekam man dort einen Teller Suppe mit einem tüchtigen Stück Fleisch; dazu ein Glas Bier, und der Magen war zufrieden. Außerdem traf man dort all die Bekannten der anderen Kompagnien, lernte andere neue Kameraden kennen, und dann paßte es einem doch noch nicht so recht, sich in dem blechernen Eßnapf seinen "Schlag" aus der Küche selbst zu holen. Es kam einem so komisch vor; gerade in diesem Punkt fiel es eigentlich am schwersten, sich an den militärischen Betrieb zu gewöhnen, und deshalb begrüßten wir es nur sehr gern, wenn uns erlaubt wurde auszugehen. Von dieser Erlaubnis machten wir auch an diesem Tag Gebrauch und nahmen unser Abendessen im Hotel Fürstenhof ein, wo wir Herrn und Frau Strewe trafen. In der Stadt bekam man ja auch am ehesten die neuesten Telegramme zu sehen, auf die wir brannten. Vor allem interessierte uns zu erfahren, ob es sich bestätigte, daß das I. englische Panzergeschwader von unseren Torpedobooten in den Grund gebohrt worden ist; dann wollte man Näheres wissen über die Beschießung von Edinburgh durch unsere Flotte, über die Stimmung und das Verhalten in Japan. Große Freude und Begeisterung riefen die Siegesnachrichten bei uns allen hervor, die uns regelmäßig beim Appell vorgelesen und stets mit "Bravo" und "Hurrah" begleitet wurden.

Der Abend des 8. August brachte uns noch eine kleine Überraschung, wenn man es so nennen kann. Wir waren auf unserer Stube, so gegen 9 Uhr, da trat der Unteroffizier vom Dienst ein und machte bekannt, daß die Stubentüren geschlossen werden sollen, und daß durch Tische und Stühle die Tür verbarrikadiert werden müßte. Man befürchtete einen japanischen Übergriff. Es war in der Tat eine kleine Panik unter gewissen Leuten hervorgerufen worden. Uns ließ diese Anordnung recht kühl, sie kam uns geradezu lächerlich vor. Was sollten die Japaner denn in unserer Kaserne, und genügte denn der Posten nicht oder eine Verstärkung des Postens? Es war uns unerklärlich, wie überhaupt solche Befürchtungen aufkommen konnten. Lachend legten wir uns auf unser Strohlager, und richtig, am anderen Morgen waren noch alle in der Kaserne. Es war niemand von den Japanern gestohlen worden. Bei dieser Gelegenheit möchte ich allerdings nicht unerwähnt lassen, daß man in Tsingtau ein sehr wachsames Auge auf Japaner geworfen hatte, und es ist auch vorgekommen, daß die Polizei zum Beispiel Rikscha-Kulis verhaftete, die sich später als Japaner entpuppten, als frühere iapanische Offiziere, die Spionagedienst taten. Vorsicht war also immerhin geboten.

9.8.14.  Wie überall war auch bei uns der Feldwebel die Mutter der Kompanie. Uns war Feldwebel Bunge zugeteilt, ein alter Tsingtauer, der nach 12jähriger Dienstzeit den Posten als Inspektor der deutsch-chinesischen Hochschule innehatte. Bunge hatte die Boxer-Unruhen mitgemacht, war ein strammer Soldat - bereits in Hankau hörte ich von ihm durch Tsingtau-Einjährige, die teils mit Schrecken an ihn zurückdachten. Energisch in seinem Auftreten und allen Anordnungen nahm er gleich die Zügel stramm in die Hand. Exerzierdienst gab es ja nicht, dafür aber umso mehr Innendienst, besonders in einer Landwehrkompanie, was ohnedies nicht alles so am Schnürchen geht wie bei den Aktiven. Diesem Umstand trug der Feldwebel in einer Weise Rechnung, die uns vom ersten Augenblick an die vollsten Sympathien für ihn gewinnen ließ, ohne daß wir aber Nutzen aus dieser Lage ziehen hätten wollen auf Kosten der militärischen Ordnung und Disziplin.

Bei Belegung der Stuben, bei Ausrüstung, bei Erlaubnis zum Ausgang, Unterbringung vom Gepäck hieß es immer: Feldwebel hier, Feldwebel dort. Und Bunge ist stets, wenn es eben möglich war, auf die verschiedenen Wünsche - und deren waren es nicht wenige - bereitwilligst eingegangen; so wurde es, um nur ein Beispiel anzuführen, möglich gemacht, daß die Shanghai-Leute zusammen auf eine Stube kamen, die Tsientin-Leute für sich und die Tsingtauer zusammen - eine große Annehmlichkeit, auf diese Weise mit seinen Freunden und Bekannten zusammen zu sein, um mit ihnen die Freuden und Leiden des Innendienstes zu teilen. Es gab so manch fidele Stunden auf der Stube, auch ging das Stiefelputzen, Uniformreinigen, Stubendienst, Geschirrwäsche noch mal so gut und schnell, wo man sich unter Bekannten wußte. Wo muntere Reden sie bgleiten, da fließt die Arbeit lustig fort, so hieß es auch hier mit Fug und Recht.

Zum Führer der Kompanie war Hauptmann Schulz ernannt, früher beim Ostasiatischen Marine-Detachement in Peking, der bei seinem ersten Erscheinen einen sympathischen Eindruck machte. Ihm unterstellt waren die Leutnants Hemeling, Radke (aus Shanghai) und Zimmermann, einer meiner alten Hankauer Bekannten und Meßkollegen. Von meinen näheren Bekannten waren in der Kompanie: E. Röhreke, Hans Koch, 0. Röhrecke, Hampe, Paulsen, Thies (Post), Mahnfeldt, Albers, Franz, Steen, Pansing, von Koch.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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