Tsingtau und Japan 1914 bis 1920
Historisch-biographisches Projekt


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In Gefangenschaft 1915 bis 1920

Tagebuch von Christian Vogelfänger
 

Der Jaguar-Matrose Christian Vogelfänger aus Düsseldorf war einer der Jüngsten von denen, die 1914 in japanische Gefangenschaft gerieten. Er beschreibt in seinem Tagebuch die Zeit von Mitte 1915 bis zur Heimkehr.
Das hier wiedergegebene Fragment stammt aus dem Nachlass von Hans Millies. Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden behutsam korrigiert.
 

8. bis 20. September 1915   In diesen Tagen wurden Sprungständer, die Torstangen für die Fußballtore und ein Barren angefertigt und aufgestellt.
Auch trafen die Männer von der Matrosen-Artillerie aus ihrem alten Lager bei uns ein. Sie mußten stundenlang berichten, wie es in dem anderen Lager gewesen ist. Da wir von unserem Lager die großen Flächen, wo sich auch noch die alten Lager der kriegsgefangenen Russen (1904/05) befinden, übersehen können, beobachteten wir die Manöver der japanischen Artillerie. Erinnerungen an Tsingtau wurden wieder wach. Hier wurden auch die Manöver der Kavallerie durchgeführt.

5. Oktober 1915   Die japanische Infanterie hat die Kavallerie abgelöst. Es folgen Sturmangriffe über Sturmangriffe seitens der Infanterie. Das "bansai, bansai" (hurra) der Japaner hört man den ganzen Tag über.
Es werden Gärten für Tomatenzucht und sonstiges Gemüse angelegt. "Hühnermüller"1 vom OMD hat sich eine Hühnerzucht zugelegt. Auch werden viele kleine Lauben bei den Gärten gebaut. Es ist das reinste Rentnerleben, was wir jetzt führen können. Die Mannschaftsküche hat mit einer Schweinezucht begonnen. Die Ferkelchen laufen mit den Hühnern in einem großen umzäumten Gelände frei herum. Ein schweres Gewitter mit Regen füllt in etwa die Wassergräben, die das Lager umgeben. Da unsere Wasserpumpen alle in Reparatur sind, müssen wir das Wasser mit Eimern aus den Brunnen ziehen.

24. bis 31. Oktober 1915   Trotz des starken Regens hat uns der katholische Pfarrer besucht, um Gottesdienst im kleinen Nebentempel zu halten.
Die beiden netten Japanerinnen halfen uns beiden Messedienern wieder beim Herrichten der hierfür erforderlichen Räume. Morgen haben die Evangelischen Gottesdienst. Weil im Lager Kurume große Schlägereien zwischen den japanischen Posten und den Gefangenen stattgefunden hatten, wurden auch die Wachen bei uns sehr verschärft. Die Posten gehen jetzt dauernd mit aufgepflanzten Bajonett durch die Baracken.
Der japanische Kaiser stiftete zu seinem 36. Geburtstag für jeden 2 Äpfel, 2 Bananen, 2 Stück Zucker und Kaffee. Abends gab es als Zulage für jeden eine kleine Dose Kornettbeef. Das Wachgebäude zeigte reichen Flaggenschmuck. Nachmittags gegen 3 Uhr war ein starkes Erdbeben. Die Fenster rappelten, die Baracken wackelten, es war ein Gefühl wie in einer Straßenbahn, wenn diese eine Weiche oder eine Kurve durchfährt. Es war das erste Beben in Narashino. Auch hieran kann man sich gewöhnen.

7. November 1915   Heute sind wir ein Jahr Gefangene im fernen Osten. Ein jeder erzählt von den letzten Stunden des Kampfes um Tsingtau. Eine stille Stunde des Gedenkens der gefallenen Kameraden.

10. November 1915   Wiederum wehen die japanischen Flaggen über den Landen. Es ist heute der große Tag der Krönung des Mikado (Kaisers) in der alten Kaiserstadt Kyoto. Zur Feier des Tages erhielten wir das Gleiche wie zu seinem Geburtstag und zu Mittag gab es Huhn auf Reis. Um 3 Uhr trat die gesamte Lagerwache auf dem großen Fußballplatz nebst den Offizieren an. Die Soldaten pflanzten das Seitengewehr auf, die Offiziere machten vor der Front große Verbeugungen und der Trompeter schmetterte das Krönungslied.

13. November 1915   Durch gewaltige Erdstöße wurden wir um 4 Uhr aus der Nachtruhe gerissen. Die Fenster klirrten und zersprangen. Die Stöße hielten etwa 10 Minuten an, dann trat wieder Ruhe ein, aber nicht lange. Um 5 Uhr krachte es wieder in allen Fugen, die Fenster klirrten, die Schlafstellen wackelten. Es war, als befänden wir uns auf einem Schiff auf hoher See im Sturm. Das Beben wiederholte sich bis zum Nachmittag 5 Uhr. Von Stunde zu Stunde gab es immer stärkere Stöße. Hätten wir in einem steingebauten Haus gewohnt, ich glaube, wir hätten das Beben nicht überlebt.

14. November 1915   Auch heute hielt das Beben unvermindert an. Aus einem Nachbarort kam die Nachricht, daß bei einem Hauseinsturz 5 Kinder zu Tode gekommen seien. Seit einigen Tagen versehe ich Dienst als Bursche beim japanischen Oberleutnant Hanyu. Er will hiermit den Dienst eines Burschen bei deutschen Offizieren kennen lernen, außerdem die deutsche Sprache vervollkommnen. Am Nachmittag Sport aller Art, Fußball, Faustball, Schleuderball und Laufen. Es waren reichlich Preise ausgesetzt, denn es waren alles Wettkämpfe. Bier, Rauchmaterial, Berliner Pfannkuchen und Obst aller Art. Trotz der Gegenwart japanischer Offiziere wurden zum Schluß des Sportfestes drei Hochs auf seine Majestät den deutschen Kaiser ausgebracht.
An allen Ecken und Enden werden jetzt Geigen und Gitarren angefertigt, Schiffe, in Flaschen gebaut (Buddelschiffe), denn wir wollen demnächst eine Ausstellung in selbstgefertigten Sachen machen. Ein Modell im Maßstab 1:100 vom SMS "Jaguar" ist ebenfalls in Bau. Es soll ein Geschenk an unseren früheren Kommandanten vom Jaguar sein. Flaschenschiffe werden reichlich angefertigt und an japanische Besucher verkauft. Silberpapier aus den Zigarettenschachteln wird geschmolzen und Anker daraus gefertigt, die als Briefbeschwerer verwendet werden können.

18. Dezember 1915   Allenthalben wird jetzt für die Weinachtsfeier gesorgt. Da in einem anderen Lager gefangene Offiziere ausgebrochen sind, sind hier die Wachen bedeutend verstärkt worden.
Wir von der Korporalschaft vom Dienst müssen eine Woche Kartoffeln schälen. Außerden muß der große Wasserturm täglich mit der erforderlichen Menge Wasser versehen werden. Das sind pro Kopf 200 Schläge mit der Pumpe.

23. bis 26. Dezember 1915   Heilig Abend, die Weihnachtsfeier beginnt. Reichlich Weihnachtsbäume und Grün schmücken die Räume. Um 5 Uhr nachmittags wird vom Missionar Spohr der Weihnachtsgottesdienst gehalten. Der Oberstleutnant Kuhlo hielt eine Ansprache, wünschte allen ein frohes Weinachtsfest. Um 6 Uhr wurden in unseren Räumen die Weihnachtsgeschenke verteilt. Eine japanische Seifenfabrik stiftete jedem ein Stück Seife und Zahnpasta. Außer einer Flasche Bier erhielt jeder noch reichlich Nüsse und Obst. Ich erhielt als Sondergabe eine Geldbörse und bei einer Verlosung 20 Zigaretten und einen Tennisball. Abends erhielten wir Punsch, Schweinebraten, Wurst und Wurstsuppe. Im Kreise unserer Offiziere wurde gefeiert.
Am 24. gab es zum Frühstück Weihnachtsstollen. Anschließend mußte Wasser gepumpt werden, jeder 200 Schläge. Um 10 Uhr Gottesdienst mit Missionar Fischer. Nachmittags großes Konzert, des Abends wieder große Feier bis nachts 12 Uhr. Nach 2 Monaten erhielt ich heute wieder Briefe aus der Heimat. Wer gut schmiert, der gut fährt, denn ein japanischer Junge gibt gegen Geld gerne Briefe (im Postamt) ab. Am Abend feiere ich bei den Kameraden der Marine-Artillerie. In der Kantine war das Bier restlos ausverkauft. An den Festtagen wurden rund 3000 Liter verkauft.

31. Dezember 1915   Heute hat sich alles wieder den besten Anzug angezogen, denn der letzte Tag im alten Jahr muß soweit wie möglich wieder gefeiert werden, damit die Zeit vergeht. Es wurde bis morgens 6 Uhr gefeiert und zum Schluß wieder 3 Hochs auf unseren Kaiser ausgebracht. Der Gesangverein sang das Lied "Des Jahres letzte Stunde". So gingen wir lustig ins Jahr 1916 hinein. Prosit Neujahr!!! Was wird es uns bringen???

2. Januar 1916   Um 4 Uhr in der Frühe großes Palaver, antreten und scharfe Kontolle durch die Wache und durch japanische Offiziere. Ein Unteroffizier der Reserve war in der Nacht ausgekniffen, dabei im Stacheldraht hängengeblieben und von einem Polizisten geschnappt worden. Er hatte den Beinamen "der Feindliche", weil er in Tsingtau bei einem Fliegerangriff die Nerven verloren hatte und immerfort schrie "der Feindlich kommt".2 Wenige Tage später fehlte er wieder bei der Frühmusterung. Ein Posten sah ihn dann oben auf dem Dach einer Baracke sitzend, einen Bambusstab mit Angelschnur in der Hand, an der ein alter Schuh baumelte. Der japanische Oberleutnant konnte sich den Bauch kaum halten vor Lachen, denn so etwas hatte er noch nicht erlebt. Von einer Bestrafung wurde Abstand genommen.

4. Januar 1916   Wir erhielten heute neues Winterzeug, ich bekam einen Waffenrock. Ganz plötzlich erkrankte ein Mann von der Matrosen-Kompanie mit hohem Fieber, es sah aus, als habe seine letzte Stunde geschlagen. Oberstleutnant Kuhlo ging nicht von dem Krankenlager fort, bis der Arzt eine Kampferspritze gesetzt hatte und die größte Gefahr vorbei war.

15. Januar 1916   Großer Hausputz wird gehalten, was nach all den Feiertagen auch unbedingt nötig war. Mein Freund Elle erhielt wieder ein Paket aus der Heimat, reichlich Rauchmaterial war der Inhalt. So konnten wir den anderen blauen Dunst vormachen.

27. Januar 1916   Kaisers Geburtstag, es muß wieder gefeiert werden. Um 10 Uhr Gottesdienst durch Missionar Fischer. Die Musik spielte als erstes zu Frühstück: "Heil dir im Siegerkranz". Oberstleutnant Kuhlo hielt eine kernige Ansprache. Es folgten dann die drei üblichen Hochs auf den Kaiser. Wir erhielten auch sehr gute Nachrichten aus der Heimat. Die Schlafsäcke wurden alle aufgestapelt, so schafften wir Platz für 16 Tische, an denen gemeinschaftlich gefeiert werden konnte. Mittags gab es Schweinebraten mit Kartoffeln und 2 Äpfel. Die gesamte Jaguarbesatzung einschießlich der Offiziere war im Raum versammelt. Oberleutnant Leffler hielt eine Festrede. Jeder erhielt 2 Flaschen Bier und 10 Zigaretten. Für musikalische Unterhaltung war gesorgt. Obermaat Rasmussen hielt einen Vortrag über den hölzernen Jaguar mit seinen eisernen Matrosen. Auch unsere 3 Ponapesen sangen ein Lied in ihrer Sprache. Leider endete die Feier mit einer Schlägerei, wobei es blutige Nasen gab. Die lange Gefangenschaft bringt auch Meinungsverschiedenheiten mit sich.

8. bis 27. Februar 1916   Vom Krefelder Roten Kreuz erhielten wir Zigaretten, Zigarren und Tabak, auch gab es wieder mal Löhnung von 65 Sen. Wie gewöhnlich wurde reichlich Sport betrieben. Dr. Überschaar hielt einen Vortrag über besondere Kennzeichen des japanischen Volkes, u. a. krumme Beine und die Zehen nach innen gekehrt. Von der Bank erhielt ich 4,50 Yen. Ich war inzwischen wieder mal krank. Mein Gewicht war von 130 auf 123 Pfund gesunken. Die Grippe greift scharf um sich, viele Kranke. Mehrere Offiziere möchten auch gerne eine Laube haben. So gehen ich und mein Kamerad Schölkamp1 aus Solingen dabei zum Bau einer Laube für Leutnant Cordes und von Bernhardi, genannt Bolle, ein Sohn des Generals v. Bernhardi. Unter der Laube wurde ein Keller, der bis unter den Garten reichte, gebaut, Größe 5 x 5 Meter. Ein aus Balken und Brettern gebautes Dach trug den eigentlichen Garten. Da wir abends nach 9 Uhr alles räumen mußten, legten wir eine Alarmanlage an. Der Gartenzaun, der aus angebohrten Bambusstäben bestand, sorgte durch ein Sammelrohr für frische Luft. Das Gartentor wurde durch eine Schnur mit dem Keller verbunden. Betrat jemand den Garten, so fiel duch die Schnur bewegt im Keller ein Winker (Holzstab) hinunter, so wurden wir gewarnt. Dies geschah, weil wir vor dieser Anlage nachts im Keller weiterfeierten und von dem Posten gestört wurden, der am nächsten morgen mit dem Wachoffizier die Laube betrat und nach dem Keller suchte. Als der Posten den in der Laube befindlichen Fußboden mit dem Gewehrkolben absuchte, meinte er den Runtergang zum Keller gefunden zu haben. Es war aber nur der in der Laube angelegte Kühlschacht, den er erreicht hatte.
Zeitvertreib durch Schneeballschlachten und Sport so weit wie möglich. Der Wasserturm mußte wieder mal gereinigt werden. Wir werden auch neben unserem Lager mit Erdarbeiten beschäftigt. Von den jap. Soldaten ausgeworfene Schützengräben müssen zugeschaufelt werden; Tagelohn pro Mann 5 Sen. Japanische Offiziere, die unseren Arbeiten zusahen und sehr gut deutsch sprachen, unterhielten sich mit uns, verteilten Zigaretten und schimpften über die Engländer, die in Tsingtau nur stets hinter der Front zu sehen waren.

März bis 10. April 1916   Die Zeit verläuft wie alle anderen Tage. Es verabschiedet sich heute der Oberleutnant Hanyu. Er ließ alle seine früheren Burschen, auch wenn sie nur kurze Zeit bei ihm Dienst gemacht hatten, zu sich kommen, um Abschied von ihnen zu nehmen. Von uns 5 Mann, die er besonders gern hatte, machte er zur Erinnerung ein Foto.

11. Apri1 1916   Da ich heute meinen Geburtstag habe, hat mein Kamerad Hagen, da das allgemeine Mittagessen immer schlechter wird, eine besondere Überraschung. Er hat noch die Kameraden Grönitz aus Breslau, Elle aus Düsseldorf, Pechbrenner aus Königsberg und Kleinerüschkamp aus Solingen zu einem Festbraten eingeladen, da diese als Geschenk 20 Liter Bier (kleines Schweinchen, großes Schweinchen = ein 30-Liter Fass). Es war wirklich ein Festschmaus, bei dem ich unseren Hund vermißte, der die kleinen Hasenknochen haben sollte. Am Abend stellte sich heraus, daß es sich bei dem Braten nicht um ein Kaninchen, sondern um unseren Hund Strolch handelte, den wir wegen der schlechten Kost in letzter Zeit nicht mehr halten konnten. Dennoch hatte es uns sehr gut gemundet, jedenfalls reichlicher und besser als das Essen aus der Mannschaftsküche. Tee konnten wir am anderen Morgen von der Küche nicht bekommen, da sich 2 Ratten im Teekessel versoffen hatten und der japanische Oberzahlmeister zu den Köchen sagte: "Deutsch Soldaten Ratten fressen."
Der neue japanische Offizier namens Tanaka trat heute seinen Dienst an. Ostern steht vor der Tür. Rein Schiff in allen Ecken. Die Räume werden ausgeschmückt und der gute Anzug bereitgelegt.

23. April 1916:   Das Osterfrühstück, pro Kopf 2 Eier und ein Stück Kuchen. Um 10 Uhr Gottesdienst durch Missionar Fischer. Des nachmittags bis spät in den Abend ein Konzert unserer Kapelle, bei der ich meine reparierte Gitarre spielte. Der 2. Ostertag verging mit Sport und musikalischer Unterhaltung.

26. April 1916   Der Gesangverein brachte dem Oberstleutnant Kuhlo ein Geburtstagsständchen. Er bedankte sich herzlich mit ein paar Flaschen Bier. Es trafen verschiedene Pakete und Zeitungen ein. Die Zeitungen waren zum Teil angesengt, ein Zeichen dafür, daß es irgendwo gebrannt hatte. Da jeder monatlich nur eine Karte und einen Brief mit vorgedruckten Zeilen erhält, kann nicht viel zur Heimat geschickt werden. Wer keine Angehörigen mehr hat, verkauft seine Karten und Briefe. Es ist eine gute Hilfe für viele, die mehr zu schreiben haben.

3. bis 22. Mai 1916   Die alte Ringkämpfergruppe hat sich wieder zusammengetan, um auf dem Tennisplatz eine Vorstellung mit Musikbegleitung zu geben. Gegen Abend ertönt etwa 200 Meter von uns entfernt Kanonendonner der japanischen Artillerie, die neben unseren Lager wieder ein Manöver machte. Oberstleutnant hielt wieder einen Vortrag über den russisch-japanischen Krieg. Der Vortrag war sehr interessant, der große Vortragsraum war überfüllt.
Der ausgeschiedene Oberleutnant Hanyu hat uns in diesen Tagen auch mal wieder besucht, um bei den Sportwettkämpfen dabei zu sein.
Für unsere 6 Enten haben wir nun einen Teich gebaut, damit die Tiere auch mal baden können. Der Oberstabsarzt Yoshioka, der beste, den wir bis heute hatten, verabschiedete sich heute von uns, mit den besten Grüßen an die Heimat und eine gesunde Rückkehr nach Deutschland. Mehrere Pakete trafen aus der Heimat ein, ich hatte das Glück und erhielt wieder Rauchmaterial. Wegen großem Hunger begab ich mich nachmittags zur Mannschaftsküche, um ein Stück Brot zu kreuzen. Unterwegs dorthin fand ich eine Tüte, worauf zu lesen war: "Kolonialwaren und Delikatessen - Inhaber Frau Jacob Vogelfänger". Wie kam diese Papiertüte nach Japan? Als ich die Tüte in der Bäckerei vorzeigte, sagte mir der Bäcker Robens: "Die war in meinem Paket, das ich von meiner Braut in Oberkassel (Düsseldorf) am Drakeplatz erhalten habe." So wurden wir beide Freunde. Unsere erste Beschäftigung ist Flöhe fangen. Eine wollene Decke bringt meist 20 bis 30 Flöhe an den Tag. Die Moskitonetze sind gut gegen die Moskitos, aber nicht gegen die Flöhe, die zu einer unendlichen Qual geworden sind. Heute am 5. Juni flechten wir Kränze, um am Nachmittag einen Kameraden zu Grabe zu tragen. Nach etwa einstündigem Marsch langten wir auf einem kleinen Waldfriedhof an. Missionar Fischer hielt die Grabrede, dann ertönte das Lied: "Ich hatt' einen Kameraden". Den mit der deutschen Flagge bedeckten Sarg deckt nun japanische Erde.

11. Juni 1916   Pfingsten. Vormittags Gottesdienst. Es wird der Heldenschlacht bei Helgoland gedacht, den größten Sieg der deutschen Flotte. Das Mittagessen war mal wieder besonders gut. Als Nachtisch gab es Äpfel, Bananen und Zitronen. Am Nachmittag eine kleine Feier. Der Gesangverein verschönerte den Tag mit seinen Liedern. Am Abend erklang das Flaggenlied: "Stolz weht die Flagge schwarz-weiß-rot". Auch gab es mal wieder 1,30 Yen für jeden - die Kantine hatte zu tun. Für die wieder mal kaputten Pumpen werden jetzt neue eingebaut. Himmel und Erde stoßen wieder mal zusammen, es staubt derartig, daß man annehmen sollte, man sei in der Wüste. Sich reinigen an den hierfür vorgesehenen Waschkauen ist unmöglich.

Am 21. Juni 1916 ist wieder eine Besichtigung. Im großen Unterrichtsraum sind die selbstgefertigten Sachen, Flaschenschiffe, Musikinstrumente, bleigegossene Anker und von der Marine-Kompanie das Kanonenboot "Iltis" im Maßstab 1:100 aufgebaut, ein richtiges Kunstwerk, das sehr bestaunt wird.
Auf dem Truppenübungsplatz fanden Bajonettkämpfe statt, wobei ein fürchterliches Geschrei ertönt, immer bei jedem Stoß "bansai-bansai". Kuhlo hält einen Vortrag über die Hindenburgschlachten. Der anhaltend starke Regen füllt wieder die Wassergräben ums Lager bis oben an. Es ist ausgeschlossen, eine nette Geisha durch die gefüllten Wassergräben ins Lager zu lassen.
In Badehose wird im Freien ein frisches Bad genommen, so kann denn auch der starke Regen erfrischen. Bei der ärztlichen Untersuchung hatte ich wieder bis auf 114 Pfund abgenommen. Das Essen war in letzter Zeit kaum zu genießen, Fleisch gibt es nur noch in Gedanken.
Die Klos sind von morgens bis zum Abend stets besetzt, alle leiden an Durchfall. Post ist reichlich angekommen, aber die Japaner lassen die meiste Post verschwinden. Es ist ihnen zu viel Arbeit, die Post auf Inhalt zu kontrollieren. Pakete wurden ausgegeben, die volle 2 Monate in Yokohama gelegen haben; der Inhalt ist meist verdorben. Ich mußte wieder 14 Tage das Bett hüten und habe 8 Pfund abgenommen. Es gab wieder 1,30 Yen.
Die Japaner hatten eine Bündnisfeier. Der Rondeoffizier erschien mit seinem Pferd bei den Erdarbeiten außerhalb des Lagers. Er nahm einen geborenen Elsässer, mit dem er sich in französisch unterhielt, aufs Pferd und trabte volltrunken davon. Mit meinem entzündeten Knie (Mückenstich) entging ich mit knapper Müh' und Not, denn der Arzt ist schnell mit dem Messer dabei. Es ist eine Windmühle gebaut worden. Sie dient zum Kaffeemahlen, was einwandfrei klappt.

22. August bis l. September 1916   Die Rattenplage wird auf die Dauer unerträglich. Wir sind gezwungen, unser Brot unter der Decke an einer Schnur aufzuhängen. Die Ratten aber springen von einem Brett aus wieder an das Brot. Wasser darf nicht mehr getrunken werden, da Typhus und Cholera ausgebrochen sind. Wieder erschüttert ein Beben unsere Baracken. Die Fensterscheiben können nicht mehr zersplittern, da die Fensterrahmen nur leicht in Schieberahmen bewegt werden können, die beim Beben gewaltigen Krach verursachen.
Unser Turnverein verlangt jetzt monatlich pro Person 10 Sen Beitrag zur Beschaffung von Turngeräten. Das Erdbeben hält nun schon fast 3 Tage an. Eine 3-Tage-und-Nachtreise mit der Eisenbahn ist nicht so anstrengend wie die furchterregenden Stöße und Rappeln der Einrichtungen. Das Mittagessen scheppert von den Tischen, dennoch läßt sich Oberstleutnant Kuhlo nicht vom Verlesen der Zeitungsberichte draußen im Freien abbringen.

2. September 1916   Die Katholiken hatten heute wieder Gottesdienst. Wir mußten wieder zu zweit die Räume hierfür herrichten und später auch die Zimmer der weiblichen Tempelbediensteten einrichten. Es war stets eine angenehme Nebenbeschäftigung. Abends hatten wir wieder eine ausgedehnte Feier im Keller unter der Laube mit 4 Mann Musik und den nötigen Getränken, die von Leutnant Cordes und Bernhardi gestiftet wurden. Der Kummer mußte heruntergespült werden.

7. September 1916   Heute sind wir 1 Jahr im Lager Narashino. Ein Mann vom OMD hatte mit seinen Kameraden eine Wette abgeschlossen. Er mußte für einen Kasten Bier im Paradeschritt einmal um das ganze Lager marschieren und an der Baracke der Offiziere besondere Ehrenbezeigungen machen. Die Wette wurde gewonnen. Wenige Tage später wurde eine Wette mit einem dicken Kapitän der Handelmarine abgeschlossen. Er mußte mit einer Schubkarre einem anderen dicken Kapitän 2-mal um das ganze Lager schieben.4 Damit hatte er ein 20-Literfass Bier gewonnen. Es tauchte das Gerücht auf, daß China den Japanern den Krieg erklärt habe. Inzwischen sind auch mehrere Stemmeisen für die Schwerathleten hergestellt worden. Ein Eisen 92 Pfund, ein Zweites mit 200 Pfund.

12. September 1916   Heute war wieder große Besichtigung des gesamten Lagers durch 30 japanische Offiziere, die über die Sauberkeit der Wohnräume sehr erstaunt waren. Anschließend nahmen sie in der Mannschaftsküche ein Gabelfrühstück mit ihren Stäbchen ein. Die Moskitonetze wurden wieder abgegeben. Wir erhielten heute wieder einen Briefbogen und eine Karte mit vorgedruckten Zeilen. Es darf monatlich nur ein Brief und eine Karte geschrieben werden. Zwei kleine Paketchen aus der Heimat habe ich heute erhalten.
Da Kuhlo nicht mehr zum Vorlesen kommen darf, so werden die neuesten Nachrichten stets im Geheimen durchgegeben.

21. Oktober 1916   Heute begann um 2 Uhr das große Turnfest. Es begann mit Turnen am Pferd, Barren und Reck, anschließend die Stabübungen nach Musik und Gesang: "Es weht die Flagge schwarz-weiß-rot an unseres Schiffes Mast, den Feinde Weh, der sie bedroht" usw. Es folgten Faustball, Fußball und die Schwerathleten mit Gewichte stemmen. Es erschallt das Lied "Turner auf zum Streite". Die Musiker spielten den ganzen Nachmittag. Anwesend waren unsere und die japanischen Offiziere. Gegen Abend begann die eigentliche Feier bei dem dazu nötigen Bier, das für die Turner von unseren Offizieren gestiftet war. Oberleutnant Heimendahl nahm sich meiner besonders an. Die Feier dauerte bis in die Nacht hinein. Die Japaner staunten über die Leistungen der Turner und die eiserne Disziplin, die hier gezeigt wurde.

22. Oktober 1916   Nachmittags trafen wir etwa 50 Kameraden aus einem anderen Lager ein. Hierbei war auch der frühere Kapellmeister5 aus Shanghai dabei mit verschiedenen Geigenspielern und Musikinstrumenten. Es gab wieder allerhand aus dem anderen Lager zu erzählen (Fukuoka).

7. November 1916   Es sind heute 2 Jahre her, daß wir Kriegsgefangene sind. Wann werden die Leidensjahre wohl ein Ende finden? Missionar Fischer wurde zum Kochmaat Kolbo6 gerufen, dem er die Sterbesakramente reichte. Eine Beschwerde über die geringen Fleischmengen, die immer kleiner wurden, wurde vom Zahlmeister beantwortet, dann sollen die Köche dazu gebratene Ratten geben. Am 16. November erschienen etwa 50 jap. Kadetten, die sich die Sportveranstaltungen wie Fußball, Handball und Turnen ansehen sollen. Einer dieser zeigte am Reck sein Können unter furchtbarem Geschrei, wie es bei den Japanern bei Sportveranstaltungen üblich ist.

21. Dezember 1916   Es werden die Vorbereitungen zum kommenden Weihnachtsfest getroffen. Die Wohnräume werden einer großen Reinigung unterzogen, Tannenbäume werden geschmückt, der Festanzug wird gesäubert. Die Unteroffiziere erhalten jeder 1,50 Yen, die Mannschaften jeder 1,25 Yen Löhnung und Spenden von verschiedenen deutschen Vereinen.

24. Dezember 1916   Weihnachten. Nach einem warmen Bad wurde die Festkleidung angezogen. Nach einem kurzem Gottesdienst und einem einigermaßen besseren Mittagessen begann gegen 5 Uhr die eigentliche Feier. Oberstleutnant Kuhlo hielt wieder eine kernige Ansprache. Dann fand eine Verlosung statt. Ich erhielt 50 Zigaretten. Von unserem früheren Kommandanten vom Jaguar erhielten wir jeder ein Foto vom SMS Jaguar und ein Bild vom Kapitän7 mit Widmung. Der 2. Feiertag verlief mit Musik vom Kapellmeister Millies und den erforderlichen Getränken, denn es war ja die große Geldspende eingegangen. Das neue Lied: "Bierlein rinn, Bierlein rein, was nützen uns die Kreuzerlein, wenn wir gestorben sind." Wegen verschiedener Unannehmlichkeiten mit den Japanern kam ein Bierverbot, die Kantine durfte kein Bier mehr verkaufen.

31. Dezember 1916   Wegen des Bierverbotes gingen wir früh zu Bett. 12 Uhr nachts nahm ich meine Bootsmannspfeife, andere nahmen Trompeten, Geigen und Gitarren. Es wurde mit ohrenbetäubender Musik das neue Jahr angekündigt. Prosit Neujahr 1917. Da das Bierverbot aufgehoben wurde, konnte der nötige Vorrat wieder bei der Kantine geholt werden. So wurde mal wieder tüchtig gefeiert.

Die nächsten Jahre verlaufen im Großen und Ganzen wie die Verflossenen.

Nachdem inzwischen neben unserem Lager ein zweites in gleicher Größe fertiggestellt war, wurde es mit Leuten anderer Lager belegt. Auch der ehemalige Gouverneur von Tsingtau, Meyer-Waldeck, nebst seinem gesamten früheren Stab wurde in diesem Lager untergebracht, außerdem der Rest der Österreicher.
Im Laufe der Zeit wurde ein Theater aufgebaut, wo eine Theatergruppe vom Unteroffizier Marufke als Direktor die verschiedensten Theaterstücke von Ibsen und anderen aufgeführt wurden. Auch wurde eine neue Küche für die hinzugekommenen Offiziere eingerichtet. Wegen der schlechten Verpflegung in letzter Zeit meldete ich mich dort als Küchengehilfe, nebst meinem Freund Robens, der dort die Bäckerei Übernahm. Insgesamt waren wir dort mit 6 Mann, die für die Verpflegung von 75 Offizieren sorgten. Unser 1. Koch namens Hugo Kuhlhoff war ein gelernter Koch, sein Vater hatte im Ruhrgebiet (Witten-Heven) ein Hotel. Hier konnte ich mein Gewicht von 118 Pfund im Laufe der Zeit wieder auf 160 Pfund bringen. Wir hatten hier auch unsere Wohnräume eingerichtet und führten ein angenehmes Leben. Als Lohn hatten wir jeder eine Vergütung von 25 Yen pro Monat, freies Essen und reichlich Obst. Um außerdem noch etwas nebenbei zu verdienen, hatten wir noch den Verkauf von Flaschen- und Fassbier übernommen. Die Offiziere hatten monatlich ein Gehalt von 75 Yen für die Leutnants. Höhere Rangoffiziere hatten dementsprechend mehr. Hier lernte ich auch das beste Essen kochen.
Eines Morgens, als ich Koch der Wache war, erschien Kapitänleutnant Fritz Matthias (genannt Hein Doof), ein gebürtiger Düsseldorfer, um drei Spiegeleier und Kaffee zu verlangen. Als er mich erkannte, sagte er zu mir: "Ach Sie sind ja auch einer meiner Männer vom SMS Jaguar", worauf ich erwiderte: "Ja, das ist richtig; aber ich habe nicht vergessen, daß Sie mich am Tage der Kriegserklärung, auf der Fahrt von Shanghai nach Tsingtau, erschießen wollten, aber Ihren Revolver nicht finden konnten und mir 4 Stunden Strafexerzieren aufbrummten, daß morgens um 4 Uhr, als ich die Fahrwassertiefe mit Lot festzustellen hatte." Er bat mich diesen Vorgang zu vergessen und ihn als Offizier anständig zu grüßen und zu behandeln, auch wenn er heute nur noch ein Gefangener wie ich sei.
Jeder Koch hatte hier in der Woche einen freien Tag. Leutnant Thilo von Seebach hatte die Leitung der Küche und er besorgte durch den japanischen Händler Takahashi das erforderlich Fleisch, Gemüse, Kartoffeln und Eier. Vom Arbeitsdienst außerhalb des Lager waren wir befreit. Der Heizer vom "Jaguar", Friedrich Wagner aus Danzig5, hatte für das Bad der Offiziere zu sorgen, in dem wir auch baden durften. Einen Kühlkeller, in dem die verderblichen Lebensmittel und das Gemüse aufbewahrt werden, wurde gebaut. Es gab hier keinen Grund zu Beanstandungen. Durch ein auf dem Kühlkeller angebrachte Windmühle sorgte für frische Luft.
Verschiedentlich wurden draußen im Freien Kinovorstellungen gegeben. Insgesamt sind im Lager 30 Personen gestorben, hauptsächlich während der Grippezeit. So vergingen die Jahre bis zum Weihnachtsmorgen 1919.

Weihnachtsmorgen 1919   Tag der Befreiung aus der Gefangenschaft. Um 4 Uhr war die Nacht für 80 Mann, zu denen ich auch mit den Offizieren vom SMS Jaguar gehörte, vorbei. Um 8 Uhr verließen wir mit Musik und endlosem Abschiednehmen das Gefangenenlager Narashino und marschierten zum Bahnhof. Von hier ging es über Tokyo und in 3-tägiger Fahrt nach Kobe.
Dort angekommen wurden wir zum Hafen geführt, wo wir mit etwa 1000 Kameraden aus anderen Lagern zusammentrafen. Für den Heimtransport nach Deutschland lagen hier die japanischen Dampfer "Hofuku Maru", "Kifuku Maru" und "Hudson Maru" bereit. Wir mußten, nachdem wir unser Gepäck an Bord gebracht hatten, vor dem Dampfer "Hofuku Maru" mit etwa 1000 Mann einschließlich der Offiziere antreten. Ein japanischer Oberstleutnant hielt eine Abschiedsrede mit allen Wünschen für gute Heimkehr und gute Gesundheit in Deutschland. Zum Schluß der Rede wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, den Hafen nicht zu verlassen, da derselbe von japanischen Posten abgesperrt sei und das Betreten der Stadt verboten sei. Wir mußten dann jeder 3 Schritte vortreten. Dieses waren die Schritte aus der Gefangenschaft in die Freiheit. Als hierauf das Kommando "wegtreten" ertönte und "an Bord sammeln", löste sich der Schwarm der Freien auf und lief vom Hafen der Stadt zu. Die Posten waren nicht in der Lage, die Freigewordenen aufzuhalten, denn eine Unmenge Rikshas standen bereit, in die Stadt zu fahren, mit dem Ruf "Madam arimas" (zu Mädchen ins Bordell).
Da bekannt gegeben worden war, daß die "Hofuku Maru" innerhalb der nächsten Stunden den Hafen verlassen würde, ging ich wieder an Bord, wo die Jaguarbesatzung im unteren Zwischendeck untergebracht war. Es war ein sehr kleiner und enger Raum. An den Bordwänden standen 12 Betten nebeneinander, darüber 12 Betten, ein schmaler Gang von ca. 1 Meter Breite trennte die nächsten 12 Betten mit den darüber ebenfalls 12 Betten. Also 48 Betten durch einen schmalen Gang getrennt. In jedem Bett befand sich eine Schwimmweste. In der Mitte des Raumes standen eng aneinander Bänke und Tische. Das Essen war gut. Die Offiziere waren im oberen Zwischendeck untergebracht. Die Klos waren in provisorischen Buden an Oberdeck angebracht.

Da ich beim Verlassen des Lagers Narashino von den beiden Leutnants Bernhardi und Cordes noch je 25 Yen erhalten hatte, habe ich die nötigen Zigaretten noch in Kobe eingekauft, was nicht nötig war, denn am 5. Tag auf hoher See ging ich vor Langeweile auf die obere Kommandobrücke, deren Betreten für alle verboten war. Die japanische Besatzung des Schiffes bestand aus 5 Offizieren, 4 Steuerleuten und ca. 30 Mann. Auf der oberen Brücke befanden sich der Kapitän, der l. Offizier und ein Steuermann am Ruder. Der l. Offizier, der Wache hatte, fragte mich, was ich wollte. Ich sagte ihm in englisch-deutschem Gemisch, ich wollte gern etwas am Ruder stehen. Er fragte mich, was ich von Beruf sei. Ich antwortete, daß ich Quardermeister vom SMS Jaguar sei, worauf er mich als Steuermann ans Ruder ließ. Er will noch etwas Deutsch lernen. Um 12 Uhr war Wachwechsel des Brückenpersonals, so ging ich dann unter Deck zum Mittagessen. Es gab mein Lieblingsgericht - Erbsensuppe. Beim Essen erschien der jap. Quardermeister und rief "Finger-san arimasu" (meinen Namen Vogelfänger konnte er nicht aussprechen). Meine Kameraden anworteten ihm "Finger-san arimasenka" (= gibt es nicht). Er hatte mich aber inzwischen gesehen, kam zu mir und sagte "Finger-san Kapitän arimasu" (ich solle zum Kapitän kommen). Als ich oben auf der Kommandobrücke stand, fragte er mich, ob ich gewillt sei, seine Wache immer mit zu gehen, er wolle gern sein Deutsch vervollkommnen. Als ich zusagte, wurde mir auf der oberen Brücke, wo die japanischen Offiziere ihre Kabinen hatten, eine solche für mich als Wohn- und Schlafraum angeboten. Außerdem bekam ich dort japanische Verpflegung, Getränke und Rauchmaterial, was und so viel ich haben wollte. Mein neuer Aufenthaltsraum war von nun an die obere Brücke, worauf ich von unseren Offizieren und Mannen sehr beneidet wurde. Von da ab wurde ich von meinen Kameraden nur noch Käppen genannt.

Kurz vor Singapur hatten wir den 1. Toten an Bord.8 Die Engländer gestatteten nicht, ihn in Singapur zu bestatten, so mußten wir ihn dem Meer übergeben, da eine Leiche nicht länger als 24 Stunden an Bord gehalten werden darf. Die Leiche wurde in ein Segeltuch gewickelt und in allen Ehren über Bord gegeben. Alle Maschinen gingen noch einmal AK zurück, denn die Leiche sollte noch einmal dem Schiff voraus sein, so ist es Seemannsbrauch.
Als nächsten Hafen liefen wir Sabang in Niederländisch Indien an, um Kohlen und Proviant zu übernehmen. Hier bekamen wir die erste Zeitung, in der zu lesen war: Nachdem die letzten Kriegsgefangenen das Lager Narashino verlassen hatten, wurde das Lager von der japanischen schweren Artillerie belegt. Hierbei versank ein schweres Geschütz in einer großen Grube im Erdboden. Es war der Keller unter dem Garten, den wir bei unseren nächtlichen Feiern benuzten. Die Balken des Daches konnten die Last der Kanone nicht tragen.

Als wir nach 2 Tagen Aufenthalt am Morgen den Hafen von Sabang verließen, lief die "Kifuku Maru" im Hafen ein. (Anmerkung: die "Kifuku Maru lief erst am 18. Januar 1920 in Sabang ein.) Heute wurde großes Rettungsmanöver geprobt. Alle Rettungsboote und Flöße mußten wie eingeteilt besetzt werden. Ich durfte im großen Rettungsboot der japanischen Besatzung Platz nehmen. Am 4. Februar erreichten wir den Suezkanal abends 6 Uhr 30. Vom Engländer kam der Befehl, daß während der Durchfahrt des Kanals keiner der ehemaligen Kriegsgefangenen das Oberdeck betreten darf. Fotos durften nicht gemacht werden. Niemand sollte feststellen können, was an Schiffen im Kanal versenkt wurde. (Anmerkung: die Leute waren an Oberdeck und machten viele Fotos).
Von Sabang hatte ich mir noch 500 Zigarren mitgenommen. In Port Said, wo wir am 6. Februar um 3 in der Nacht ankamen und Kohlen und Proviant übernahmen, kaufte ich mir noch 1000 Zigaretten Simon Arzt. Bei der Durchfahrt durch den Suezkanal war ich wieder der Glückliche, der am Steuer auf der Kommandobrücke stehen durfte, denn ich war ja im Dienst der Japaner. Im Mittelmeer hatten wir wieder 2 Tote zu beklagen, die wir auch der See übergeben mußten.9

Am 24. Februar liefen wir in Wilhelmshaven auf Reede ein, wo wir übernachten mußten. Von einem amerikanischen Schiff erhielten wir die Warnung, wir befänden uns in einem noch nicht gelichteten Minenfeld. Ein Lotse kam an Bord, den wir angefordert hatten und fragte, ob sich ein deutscher Steuermann an Bord befinde, da die Verständigung mit einem Japaner zu schwierig sei. Der Kapitän zeigte auf mich "there is the Quadermaster of Germany ship Jaguar" So übernahm ich das Ruder und fuhr nach Angaben des Lotsen durch die Schleuse, wo wir dann im Hafen an der Pier festmachten. Nachdem ich vom Kapitän als Dank für meine Dienste ein Teeservice bekommen hatte und mir auf der oberen Kommandobrücke der Dank von den japanischen Offizieren ausgesprochen war, begab ich mich an Oberdeck, wo ich von meinen Kameraden auf Schultern rundgetragen wurde als der gute Käppen (Kapitän) Steuermann. Am nächsten Tag ging ich mit einem Teil der japanischen Besatzung an Land zu den Marinebasaren, wo sie kauften was glänzte, denn es war alles so preiswert, da es für einen Yen 4 Reichsmark gab. Als Bekleidungsersatz erhielt jeder einen aus wollener Decke gemachten Wintermantel und eine Mütze. Ich schickte meinen Eltern ein Telegramm, das tags darauf in Düsseldorf eintreffen würde.

Nachdem ich die Nacht in der Eisenbahn verbracht hatte, langte ich um 8 Uhr in Düsseldorf an. Mein Vater erwartete mich schon um 7 Uhr am Bahnhof: So traf er den am Fenster stehenden bekannten Leutnant Fliegelskamp vom Jaguar, der ihm erklärte, daß ich mit einem Zug später ankommen würde. Mein Vater setzte sich mit seinem Bruder zu einer Tasse Kaffee in den Wartesaal, um den nächsten Zug abzuwarten. Dieser Zug kam schon kurz von 8 Uhr an. So habe ich meinem Vater mit Bruder nicht gesehen und ging zur Straßenbahn und fuhr nach Oberkassel.
An der Rheinbrücke angekommen, fragte mich der Schaffner, woher in denn komme, weil ich meinen Rucksack und einen abgebrochenen Stock trug. Antwort: "Ich komme aus japanischer Gefangenschaft", worauf er mich fragte, ob ich einen Ausweis besitze, denn auf der Brücke sei Passkontrolle durch die belgische Besatzung. Ich verneinte. Durch Umsteigen vom hinteren Perron nach dem vorderen kam ich ohne Kontrolle durch und fuhr bis Oberkasseler Straße, wo ich erfahren wollte, wo sich die Cheruskerstraße - früher Arminiusstraße - befinden würde. Hier traf ich auf meinen Onkel Peter, Bruder meiner Mutter, der mich fragte: "Wer sind Sie denn?" Als er mich dann erkannte, war seine Frage: "Ja Junge, wo kommst du denn her?" Er ging dann mit mir zur Wohnung meiner Eltern, wo er mir 100 Meter vor dem Haus Lorbeerbäume zeigte - "da wohnt ihr jetzt". Mein Vater wartete immer noch in der Stadt auf mich. Mutter empfing mich mit der Frage: "Ja bist du denn unser Jung?" Ich war Weihnachten 1913 das letzte Mal bei meinen Eltern. Abends große Wiedersehensfeier, sogar mein Patenonkel erschien im Frack und Zylinder. Da ich inzwischen das Düsseldorfer Plattdeutsch kaum noch sprach, sondern mich all die Jahre mit dem Hamburger Plattdütsch befaßt hatte und nun auch sprach, konnte man mich schwer verstehen. Mir war alles fremd geworden.

 
Fußnoten

1 Es handelt sich entweder um Paul oder um Petrus Müller.
2 Identität unklar.
3 Einen Gefangener dieses Namens gibt es nicht; vermutlich ist der später nochmals erwähnte Kleinerüschkamp gemeint.
4 Gemeint sind die Gefangenen Lehmann und Zimmermann, von deren Schubkarrenfahrt auch Krüger (S. 218) berichtet.
5 Es handelt sich um Hans Millies.
6 Gemeint ist Colbow, der jedoch überlebte.
7 Gemeint ist der bei der Mannschaft sehr beliebte Korvettenkapitän von Bodecker.
8 Feuerwerker Weiss starb am 17.01.1920.
9 Angabe unklar; weder Kaul noch Krüger, die mit demselben Transport fuhren, berichten hierüber.
 

©  Hans-Joachim Schmidt
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